1.    Zinsen – je niedriger, desto besser?
„Das Gold ist für den Tausch entstanden, der Zins weist ihm die Bestimmung an, sich durch sich selbst zu vermehren. Daher widerstreitet auch diese Erwerbsweise unter allen am weitesten dem Naturrecht“ (Aristoteles). Moralische Vorbehalte gegenüber Zinsen sind offenkundig seit mehr als zweitausend Jahren weit verbreitet. Zinsen werden oft als unverdientes Einkommen wahrgenommen, ihnen haftet die Aura des Anrüchigen an. So kann es kaum überraschen, wenn Zinssenkungen als etwas Gutes wahrgenommen werden, als etwas, das die Menschen entlastet.
So auch in der gegenwärtigen Staatsschuldenkrise. Ausgehend von historisch niedrigen Zinsen senkt die Europäische Zentralbank die Zinsen ein weiteres Mal. Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman empfiehlt im Handelsblatt das unbegrenzte Aufdrehen des europäischen Geldhahns, um Staatsanleihen aufzukaufen. Inflationsgefahren sieht er nicht. Vermutlich geht er davon aus, der Liquiditätsfluss entlaste die Staaten von der schwierigen Kreditsuche, er senke die Zinsen und erzeuge womöglich einen Wachstumsschub, der Europa aus der Krise herauskatapultiert. Kann man die Krise so einfach wegspülen? Ich denke: nein. Im Folgenden wird dementsprechend argumentiert, dass der Zins ein Preis ist, der wie viele andere Preise auch gesellschaftliche Funktionen ausübt und dessen beliebige Manipulation unerwünschte Nebenwirkungen aufweisen könnte.
2.    Preise als Träger von Informationen
Preise sind nicht nur Ausdruck der Verteilung der Handelsgewinne zwischen Käufern und Verkäufern, sie sind nicht das Ergebnis eines Konstantsummen-Verhandlungsspiels. Vielmehr sind sie unverzichtbare Informationsträger, die das Verhalten der Menschen in sozial wünschenswerte Bahnen lenken.
Der Marktpreis für ein Produkt bündelt eine Vielzahl von Detailinformationen. Zum einen zeigt er, wie viel der Konsument für das zuletzt am Markt erworbene Gut zahlen musste, um den letzten gerade nicht zum Zug gekommenen Nachfrager zu überbieten. Er bringt somit auch die Wertschätzung zum Ausdruck, die die Konsumenten einer Produktionsausdehnung entgegenbringen würden. Marktpreise erfassen weiterhin die (Opportunitäts-)Kosten der Anbieter. Diese enthalten unter anderem deren Beschaffungs-, Lager- und Vermarktungskosten, die ihrerseits wieder Ausdruck vorgelagerter Marktpreise, die wiederum die Kosten aller vorgelagerten Produktionsstufen berücksichtigen. Auf diese Weise werden die Nutzen- und Kosteneinschätzungen auf beliebig vielen Stufen der Wertschöpfungskette im Marktpreis verdichtet. Dies hat zur Folge, dass Ereignisse, die fernab vom Konsumenten geschehen und von diesem weder gekannt noch verstanden werden müssen, Eingang in dessen Verhalten finden.
Fällt zum Beispiel die Förderung eines bestimmten Rohstoffs in einem bestimmten Fördergebiet aus, so wird der betreffende Rohstoff relativ knapper. Sein Preis wird steigen und mit ihm die Preise in allen verschieden Verwendungssträngen nachgelagerter Produktionsstufen. Die Auswirkung reicht bis zum Konsumenten, der nun für seine verschiedenen Endprodukte, die den betreffenden Rohstoff enthalten, entscheiden muss, ob der Verwendungsnutzen den nunmehr gestiegenen Preis noch immer übersteigt.
Darüber hinaus signalisieren die Preissteigerungen den Unternehmern die gestiegene Knappheit des Produktes. Verfügen die Unternehmer dann noch über Möglichkeiten, die so entstandene Versorgungslücke zu Kosten unterhalb des neuen Marktpreises zu schließen, dann ergibt sich unmittelbar eine Gewinnerzielungsmöglichkeit. Auch wenn die Unternehmer nicht wissen, warum sich diese Gewinnmöglichkeit eingestellt hat und auch wenn sie ihre Handlungen aus reinem Eigennutz durchführen, so tragen sie doch zum Wohlergehen der anderen Gesellschaftsmitglieder bei.
3.    Der Zinssatz als Preis für Kredite
Auch der Zinssatz ist ein Preis, der durch Anreizwirkung und Informationsgehalt zur Lenkung knapper Ressourcen beitragen soll. Während normale Güterpreise die Struktur des Konsums unterschiedlicher Güter zu einem Zeitpunkt regeln, steuert der Zinssatz den Konsum gleicher (oder ähnlicher) Produkte zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die Perspektive des einzelnen Haushalts lässt sich hier durchaus auf die volkswirtschaftliche Betrachtung übertragen. Wenn ein Sparer heute auf den Konsum von Gütern im Wert von 100 Euro verzichtet und den entsprechenden Geldbetrag zu einem (Real-)Zinssatz von fünf Prozent anlegt, so kann er dafür in einem Jahr Produkte im Wert von 105 Euro konsumieren. Der Kreditmarkt regelt nunmehr, wie die zeitliche Aufteilung des Konsums – die intertemporale Güterallokation – erfolgen wird.
Menschen neigen dazu, sofortigen Konsum einem in die Zukunft verschobenen Konsum vorzuziehen. Diese Annahme, die in so gut wie allen Zinstheorien enthalten ist, dürfte auch intuitiv nachvollziehbar sein. Damit Menschen bereit sind, auf den eigentlich bevorzugten sofortigen Konsum zwecks Ausleihe an andere Personen zu verzichten, fordern sie eine Verzinsung des verliehenen Betrags. Je höher diese Verzinsung ausfällt, desto eher und desto umfangreicher sind sie willens, ihr Geld zu sparen bzw. anzulegen. Da gespartes Geld im Allgemeinen – über Finanzintermediäre vermittelt – als Angebot auf dem Kreditmarkt Verwendung findet, kann man somit von einem mit dem Zinssatz zunehmenden Kreditangebot ausgehen.
Damit bleibt noch die Frage, wer dieses Angebot nachfragt und wie es in der Volkswirtschaft möglich sein soll, in späteren Perioden einen über den aktuellen Konsumverzicht hinausgehenden Konsum zu verwirklichen. Die Antwort lautet: Es sind die investierenden Unternehmen, die als Kreditnachfrager für ihre Projekte eine Finanzierung suchen. Typischerweise ermöglicht der Erhalt eines Kredits den Erwerb von Sachkapitalgütern. Diese erhöhen die Produktivität der Unternehmen, die dadurch in Folgeperioden die der Verzinsung entsprechenden zusätzlichen Konsumgüter produzieren. Da ein höherer Kreditzins die Rentabilität des Investitionsprojektes jedoch senkt, ist klar, dass eine Zunahme des Zinssatzes zu einer Senkung der Kreditnachfrage führt.
Im staatlich unbeeinflussten Kreditmarktgleichgewicht wird derjenige Zinssatz realisiert, bei dem Kreditangebot (Sparen) und Kreditnachfrage (Investitionen) übereinstimmen. Die zuletzt finanzierte Investition ist dann gerade noch dazu in der Lage, die Zinsforderungen der Anleger in Form eines gestiegenen Outputs zu befriedigen. In Anlehnung an den Ökonomen Knut Wicksell wird dieser das Sparen und Investieren in Einklang bringende Zinssatz gelegentlich als „natürlicher Zinssatz“ bezeichnet. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene bedeutet die Realisierung des „natürlichen Zinssatzes“ eine bestmögliche, wirtschaftlich nachhaltige intertemporale Güterallokation.
Auf den realen Kapitalmärkten findet sich allerdings nicht nur ein einziger, einheitlicher Zinssatz, sondern es existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Zinssätze. Diese unterscheiden sich im Allgemeinen nach Risiko, Fristigkeit und der erwarteten Inflationsrate: Je höher das Risiko der Rückzahlung eingeschätzt wird, desto höhere Aufschläge (Risikoprämien) fordern die Kreditgeber für die Übernahme dieses Risikos. Da das Risiko unvermeidbar mit zunehmender Kreditdauer steigt, sind in normalen, stabilen Zeiten die Zinssätze für langfristige Kredite höher als die für sehr kurzfristige Kredite. Schließlich verlangen die Sparer auch eine Kompensation für die zu erwartende Inflation, die die zukünftige Kaufkraft des Geldes und damit die reale Verzinsung verringert. Die Existenz dieser Aufschläge („Spreads“) ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Arbeitsweise des Kreditmarktes. Diese Aufschläge korrigieren die individuellen Kreditkonditionen nur um die unvermeidlichen Unterschiede zwischen den zu finanzierenden Projekten.
4.    Zinspolitik
Wie sind im Hinblick auf die soeben formulierte Betrachtung des Kreditmarktes die vielen Maßnahmen staatlicher Akteure zur Beeinflussung der Zinssätze zu bewerten? Beginnen wir mit der Zinspolitik der Zentralbanken: Seit mindestens fünfzehn Jahren fluten die wichtigsten Zentralbanken der westlichen Industrieländer und Japans die Märkte mit Zentralbankgeld, um die Zinssätze zu senken oder (neuerdings) niedrig zu halten. Die Grundidee dabei ist einfach: Niedrige Zinssätze ermöglichen es angeschlagenen Unternehmen, weiterhin aktiv zu bleiben. Dadurch werden Arbeitsplätze vor dem Abbau gerettet und die Konjunktur angekurbelt. Diese kurzfristige Perspektive ist durchaus korrekt, die angestrebten Wirkungen folgen tatsächlich. Doch wie steht es um die Nebenwirkungen? Künstlich verringerte Zinssätze erhöhen die Investitionen, während das von den Haushalten geplante Sparen sinkt. Mit anderen Worten: Unternehmen als Investoren und private Haushalte als Konsumenten fragen zusätzlich Ressourcen nach. Kurzfristig kann eine solche Politik durch unfreiwilliges Sparen, den Abbau von Lagerbeständen oder die Verringerung der Sucharbeitslosigkeit aufrecht erhalten werden. Letzteres erfolgt insbesondere durch Lohnerhöhungen. Langfristig entsteht jedoch eine verzerrte Produktionsstruktur, die langfristig nur mit einem höheren Sparvolumen aufrecht erhalten werden kann. Es werden Produktionsanlagen aufgebaut, deren Produktivität zu gering ist, um ein entsprechendes Sparkapital seitens der Haushalte akquirieren zu können. Der Markt orientiert sich mithin nicht an den zeitlichen Konsumpräferenzen der Bürger, sondern an den kurzfristigen Konjunkturwünschen der Politik.
Die mit den niedrigen Zinssätzen verbundene Ausdehnung der Geldmenge birgt darüber hinaus zwei Gefahren in sich: (1) In der Geschichte der Menschheit endeten massive Ausdehnungen des Geldbestandes noch fast immer in Inflationen. Die langfristige Gültigkeit dieses Zusammenhangs wurde bislang zumeist als eines der härtesten und belastbarsten Ergebnisse der Volkswirtschaftslehre betrachtet. (2) Derzeit fließt ein großer Teil des Zentralbankgeldbestands nicht in den Konsumsektor, sondern in die Märkte für bereits bestehendes Kapital, insbesondere Renten- und Aktienmärkte. Vor allem auf den Aktienmärkten dürfte ein nicht unerheblicher Teil der Kursausschläge mit dem Übermaß an Liquidität auf diesen Märkten erklärt werden können.
Neben den Zentralbanken beeinflussen auch die Regierungen der verschiedenen Staaten, Bundesländer oder Kommunen den Kreditmarkt. Dadurch dass sie ihre Leistungen zum Teil mit Krediten finanzieren, verdrängen sie Kreditnachfrage in Form von privaten Investitionsprojekten vom Kreditmarkt. Insoweit diese Kredite in staatliche Konsum- oder Umverteilungsausgaben münden, stehen ihnen keine produktivitätssteigernden Investitionen gegenüber. Das bedeutet, dass der Mehrkonsum, den die Nutznießer der staatlichen Leistungen heute genießen, durch einen geringeren Konsum in der Zukunft finanziert wird. Es wäre ein reiner Zufall, wenn die Zeitpräferenzen der Bürger tatsächlich dem entsprächen, was der Staat für sie entscheidet.
Zusätzlich sichert sich der Staat durch gezielte Privilegien einen bevorzugten Zugang zu Krediten. Dies beginnt damit, dass Banken für vermeintlich sichere Staatsanleihen – im Gegensatz zu anderen Formen der Kreditvergabe – kein Eigenkapital hinterlegen müssen. Wie inzwischen bekannt sein dürfte, lässt sich dies ökonomisch kaum noch rechtfertigen. Das Privileg endet damit, dass die hoch verschuldeten Staaten darüber diskutieren, ob man den Rating-Agenturen nicht das Recht nehmen sollte, Staaten zu bewerten, sodass die Risikoprämien nicht auf das ökonomisch angemessene Niveau steigen.
Auch die EFSF ist bestrebt, den Staat von Risikoprämien zu entlasten, die andere private Kreditnehmer tragen müssten. Das erfolgreiche Bestreben, dem Staat einen bevorzugten Zinssatz zu sichern, würde die Selbstregulierungskräfte des Marktes, die notwendig über die Risikoprämien laufen, aushebeln. Letztendlich würde es das Problem nur vertagen, sodass es in nicht allzu ferner Zukunft wieder auf der Agenda stünde: diesmal allerdings in verschärfter Form. Dass die Risikoprämien derzeit noch nicht so reagieren, wie es die Europapolitiker eingeplant haben, könnte der entscheidende Grund dafür sein, dass diverse Staaten aktuell tatsächlich bemüht sind, ihre Schuldenprobleme mit durchaus schmerzhaften Maßnahmen zu lösen.
Damit ergibt sich folgendes Fazit: Wenn man davon ausgeht, dass der wettbewerbliche Marktmechanismus die eigentliche Ursache für den Wohlstand der Industrienationen ist – und hieran dürften wohl kaum Zweifel bestehen –, dann darf die Rolle der sich frei bildenden Preise als Motivations- und als Informationsinstrument nicht unterschätzt werden. Wie andere Preise haben auch Zinssätze eine gesellschaftlich wichtige Lenkungsfunktion. Wird diese außer Kraft gesetzt, ergeben sich langfristig schwerwiegende Verzerrungen, die in umfangreichen Fehlinvestitionen ihren Ausdruck finden. Eine Senkung der Zinssätze auf das Nullniveau erzeugt die Illusion, Kredite seien volkswirtschaftlich ohne Konsumverzicht zu bekommen. Die Ernüchterung wird kommen, früher oder später. Die Folgen werden Anpassungsrezessionen und Inflation sein.
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Sehr schöne Zusammenfassung! Was nicht oft genug betont werden kann ist der Umstand, daß Zinsen ein Maß an Risiko ausdrücken (unabhängig ob Eigen- oder Fremdfinanzierung), das ein Kapitalgeber eingeht. Da es zu umständlich ist wieder und wieder Zinsverschwörungstheoretiker und „Systemkritiker“ auf die ökonomische Bedeutung des Zinses hinzuweisen, werde ich diesen Artikel weiterempfehlen. Vielen Dank