„Flight to safety“ – Warum kann der Bund negative Renditen verlangen?

Häfen können Liegegebühren verlangen für Schiffe, die Schutz in allzu stürmischer See suchen – das weiß jeder Segler. Diese Erfahrung hat jetzt auch der deutsche Finanzminister gemacht, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik waren Investoren bereit, negative Effektivzinsen bei Neuemission von Bundesanleihen zu zahlen. Bei der am 9. Januar 2012 durchgeführten Auktion hat die Bundesrepublik Deutschland unverzinsliche Schatzanweisungen („Bubills“) im Volumen von ca. 4 Mrd. Euro mit einer Laufzeit von sechs Monaten abgesetzt. Die Emission war um das 1,8fache überzeichnet und ergab einem Effektivzins von -0,0122 %; der Finanzminister muss damit etwa 50 Millionen Euro weniger zurückzahlen, als er durch die Schuldenaufnahme eingenommen hat. Ähnliches war bislang erst zweimal passiert, nämlich Ende 2011 in den Niederlanden und in Dänemark, das nicht Mitglied der Eurozone ist.

Dies wirft natürlich die Frage auf, warum Gläubiger Zinsen für die Kreditvergabe an den Schuldner zu zahlen bereit sind, anstatt – was normal wäre – einen Zins zu verlangen. Diese Frage stellt sich schon deshalb, weil Alternativen zur Anlage in Bundesanleihen bestehen. Anstatt dem deutschen Finanzminister Kapital zu leihen und dafür eine Gebühr zu zahlen, können Investoren Bargeld halten oder ihre überschüssige Liquidität beim Eurosystem deponieren. Dieses zahlt Banken auf eine Übernachtanlage in der Einlagenfazilität immerhin noch Zinsen in Höhe von derzeit 0,25% p.a. Allein eine Liquiditätsanlage am Interbankenmarkt als dritte Option scheidet derzeit wohl aus, weil Banken das Kontrahentenrisiko am Interbankenmarkt immer noch scheuen.

Um dieses Rätsel zu lösen, lohnt sich vielleicht ein Blick auf die Regularien für die Tenderverfahren. Sie werden von der Deutschen Bundesbank festgelegt, die als Hausbank des Bundes in dessen Auftrag die Wertpapierabwicklung wahrnimmt. Bietungsberechtigt sind nur Mitglieder der „Bietergruppe Bundesemissionen“, die sich derzeit aus 39 Kreditinstituten zusammensetzt und damit eine überschaubare Größe hat (BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND FINANZAGENTUR, 2011). Mitglieder der Bietergruppe können grundsätzlich nur Kreditinstitute mit Sitz in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union werden, sofern sie im Vorjahr ein Mindestvolumen von 0,05% der in den Tendern zugeteilten und laufzeitgewichteten Volumina übernommen haben. Sofern ein Mitglied nach Ablauf eines Jahres diese Mindestübernahme nicht erreicht hat, scheidet es aus der Bietergruppe wieder aus; allerdings ist ein Wiedereinstieg möglich (DEUTSCHE BUNDESBANK, 2012a).

Auf die Möglichkeit eines negativen Effektivzinses als Ergebnis des Tenderverfahrens von Anfang Januar hatte die Deutsche Bundesbank vor Tenderausschreibung ausdrücklich hingewiesen (DEUTSCHE BUNDESBANK, 2012b). Der Hinweis war notwendig geworden, weil die Bundesbank eine Änderung im Bietungsverfahren vorgenommen hatte, um auf die zuvor bereits auf Sekundärmärkten notierten Negativzinsen zu reagieren. Weil zum 9. Januar 2012 die Gebotsabgabe von Rendite- auf Kursgebote umgestellt wurde, konnten durch Abgabe von Geboten über 100 auch negative Renditen abgebildet werden. Damit war der leicht negative Effektivzins nicht nur ein technischer Zufall, sondern ein durchaus zu erwartendes Auktionsergebnis, für das es schon zuvor Hinweise gab.

Die am Bieterverfahren für Bundesemissionen teilnehmen Banken sind allesamt mindestreservepflichtig und haben deshalb Zugang zu den Einlagefazilitäten des Eurosystems. Für sie macht es daher keinen Sinn, unverzinsliche Schatzanweisungen über Pari zu kaufen und bis zum Auslaufen zu halten. Dies ist jedoch anders für Versicherungen und Pensionsfonds, die keinen Zugang zur Einlagefazilität haben und auch keine Liquidität als nichtverzinste Einlagen auf Girokonten beim Eurosystem anlegen können. Ihnen verbleibt nur die Anlage liquider Mittel in Wertpapieren, weil auch eine Bargeldhaltung technisch nur begrenzt möglich ist, und sie oft nur einen Maximalbetrag als Bargeld halten dürfen.

Damit gibt aber es für institutionelle Anleger faktisch keine Zinsuntergrenze, wenn sie eine Anlagemöglichkeit für ihre Vermögensbestände suchen, die sicher ist. Diese Sicherheit hat mittlerweile einen Preis, der nicht nur in einem Zinsverlust, sondern in der Leistung von Zinszahlungen besteht. Es ist zu vermuten, dass Finanzinstitute ohne Zugang zu den Notenbankfazilitäten „Bubills“ auf Sekundärmärkten von den Mitgliedern der Bietergruppe zu erwerben versuchen, und dafür höhere Kurse zu zahlen bereit sind, als die Käufer für die Neuemissionen gezahlt haben. Für die Bietergruppe lohnt sich das Geschäft, weil sie ihre Geldmarktpapiere mit Gewinn verkaufen können. Negative Rendite zum Erwerbspreis heißt somit nicht zwangsläufig, dass es keine sinnvolle Investition sein könnte, wenn das Papier vor Fälligkeit zu einem höheren Kurs verkauft wird.

Zwei Faktoren dürften zum Entstehen negativer Renditen ausgerechnet zum Jahresanfang 2012 beigetragen haben. Erstens hat das Eurosystem um den Jahreswechsel den Bankensektor mit beträchtlicher Überschussliquidität geflutet (siehe Blockbeitrag vom 19. Dezember), und diese Liquidität sucht nach sicheren Anlagemöglichkeiten. Vor allem institutionelle Anleger, wie Versicherungen oder Pensionskassen, sind jedoch entweder satzungsgemäß zur Anlage in Papiere verpflichtet, die mit „Tripple A“ bewertet sind, oder investieren zumindest ein Gros ihrer verfügbaren Mittel in möglichst risikolosen Anlagen.

Deren Angebot wird aber zweitens nach der jüngsten Herabstufung von Frankreich und Österreich sowie von sieben weiteren EU-Mitgliedsländern durch Standard & Poor“˜s nur noch langsamer wachsen. Besonders mit Frankreich ist damit ein bedeutsamer Anbieter von mit „Tripple A“ bewerteten Anlagen ausgefallen. Damit verbleiben nur noch Staatsanleihen aus Deutschland, Finnland, den Niederlanden und aus Luxemburg als sichere Anlagehäfen, von denen Deutschland der größte ist. Andere ebenfalls noch mit „Triple A“ bewertete Länder, wie Schweden und Dänemark, liegen außerhalb der Eurozone, sodass eine Anlage dort mit Wechselkursrisiken verbunden ist. Da jetzt auch dem temporären Rettungsschirm ESFS eine Herabstufung droht, können die Bieter für „Bubills auf Sekundärmärkten mit weiter steigenden Kursen rechnen.

Wie es scheint, verwenden viele Investoren die vom Eurosystem bereitgestellte Liquidität nicht zur Kreditvergabe, sondern flüchten in sichere Anlagen wie die Einlagefazilität der Notenbank oder – wenn sie das nicht können – in Bundesanleihen. Dies war aber nicht Anliegen der jüngsten geldpolitischen Beschlüsse vom Dezember 2011 zur Flutung der Interbankenmärkte, die mit den starken Spannungen auf den Finanzmärkten begründet wurden. Vielmehr sollte einer Kreditklemme in Europa vorgebeugt und dafür gesorgt werden, dass kleinere und mittlere Geschäftsbanken mehr Kredite an den industriellen Mittelstand ausreichen und dessen Investitionsbedarf finanzieren (DRAGHI, 2011). Anstatt die Refinanzierungsbedingungen für kleinere und mittlere Industriebetriebe zu verbessern, spült die Geldpolitik aber offensichtlich zusätzliche Liquidität in die Bundeskasse und erleichtert die Refinanzierungsbedingungen des Bundesfinanzministers. Dies mag den Steuerzahler erfreuen (weniger den deutschen Sparer, dessen Zinsen  weiter sinken), ist aber nicht Aufgabe der Europäischen Zentralbank.

Literatur:
BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND FINANZAGENTUR (2011). Bietergruppe Bundesemissionen, Pressemitteilung Nr. 35/11 vom 19. Dezember 2011, Frankfurt/Main. http://www.bundesbank.de/download/kredit/kredit_bietergruppe_rangliste.pdf
DEUTSCHE BUNDESBANK (2012a). Verfahrensregeln für Tender bei der Begebung von Bundesanleihen, Bundesobligationen, Bundesschatzanweisungen und Unverzinslichen Schatzanweisungen des Bundes (Fassung Januar 2012), http://www.bundesbank.de/download/kredit/kredit_tenderverfahren.pdf
DEUTSCHE BUNDESBANK (2012b). Ausschreibung Tenderverfahren Unverzinsliche Schatzanweisungen der Bundesrepublik Deutschland („Bubills“), Pressemitteilung vom 6. Januar 2012, Frankfurt/Main.
DRAGHI, M. (2011). Interview mit der Financial Times am 14. Dezember 2011 in Frankfurt, Europäische Zentralbank, Pressemitteilungen.

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