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Was weiß die Ordnungsökonomik von Europa?
Ein Streifzug durch das neue „Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“ (Ordo Band 62/2011)

Es fällt schwer zu glauben, dass die EU die Schuldenkrise in den kommenden Jahren in den Griff bekommt. Die gegenwärtige Lage bietet einem eigentlich nur unerfreuliche Lösungen. Lediglich das Ausmaß der „Unerfreulichkeit“ differiert. Mit diesem Fazit schließt Ansgar Belke im neuen Ordo-Band seinen Beitrag über die „EU-Governenance“. Zum Glück ist das Nachdenken über die Euro- und Staatsschuldenkrise, mit der gut ein Fünftel der Beiträge sich beschäftigt, auf weiten Strecken (wenngleich nicht immer) intellektuell erfreulich, zuweilen auch im guten Sinne anstößig.

Europa kann leben, auch ohne den Euro. Womöglich sogar besser. Altmeister Alfred Schüller entlarvt im neuen Ordo-Band den Weg zur Europäischen Währungsunion als eine Geschichte fortwährender Selbsttäuschungen: Schüller stellt sich vor, ein Land wie Griechenland wäre außerhalb der Währungsunion (also etwa wie Argentinien 2001) in Schwierigkeiten gekommen. Längst wäre das Land und wären andere Länder, die sich mit ihrer Staatsverschuldung auf abschüssiger Bahn befinden, mit den Frühwarnungen eines unverfälschten internationalen Zins- und Wechselkursverbunds unter Anpassungszwänge der Abwertung und der Gläubiger geraten. Die Kreditbedingungen wären im Verschuldungsprozess erschwert, nicht erleichtert worden. Und alsbald hätten sich die Gläubiger nach den Regeln des Pariser oder Londoner Clubs zusammen gefunden. Ein Moratorium für den Kapitaldienst wäre zwingend mit einer Abwertung der Währung verbunden worden, was zugleich Anpassungsprogramme zur Stärkung von Effizienz- und Wettbewerbsfähigkeit nach sich gezogen hätte. Nicht schön, aber auch nicht unnormal. Business as usual eben in einer Jahrhunderte währenden Geschichte der Staatspleiten. Derweil hätten die europäischen Regierungen, wie Charles B. Blankart spottete, anstatt in langen Brüsseler Nächten sich zu zermürben, gemeinsam auf Ischia Ferien machen können (natürlich mit dem lustigen Silvio Berlusconi und nicht mit dem trockenen Mario Monti als Gastgeber). Eine Gruppe der besten Ökonomen hätten sie zum Baden mitnehmen können. Denn all die vielen klugen Aufsätze über EU-Governance, Staatsinsolvenz im Euroraum etc. wären gar nicht notwendig geworden, hätte man Griechenland in den ganz normalen Default geschickt. Alles in allem wären Länder wie Griechenland ein Fall für einen spontanen, vergleichweise kleinen (vorübergehenden) Integrationshunger geworden – mit heilsamen Wirkungen für andere Euro-Staaten. Gibt es einen besseren Weg?

Es ist dann bekanntlich anders und also unerfreulich gekommen: Das Versagen der einzelstaatlichen Wirtschafts- und Fiskalpolitik im Euroraum wurde belohnt, nicht bestraft. Aus der Bringschuld der Schuldner ist inzwischen eine Holschuld der Gläubiger geworden. Krisenstaaten zwingen die privaten Gläubiger zum Forderungsverzicht, ohne dafür angemessene Pfänder anzubieten. Und sie zwingen die relativ stabilen Staaten zu Transferleistungen und nennen das Solidarität anstatt das konstitutionelle, disziplinierende und in Wahrheit solidarische Prinzip des No-Bail-Out anzuwenden. Noch einmal Alfred Schüller, „Gelbe Karte ohne rote Karte, also ohne drohenden Platzverweis, verschlechtern die Spielkultur.“ Die Gelegenheit, die Krise als Chance für  einen Ausweg aus der Währungsunion zu nutzen, wurde vertan.

Dass hinter der Schuldentragik das Drama des europäischen Wohlfahrtsstaates aufscheint, darauf machen Hanno Beck und Dirk Wentzel im neuen Ordo aufmerksam. Es gilt das Wagnersche Gesetz, wonach moderne Industriestaaten eine ungebrochene Tendenz haben ihre Tätigkeit auszuweiten und zusätzliche Finanzmittel nachzufragen. Diese Gesetzmäßigkeit, gerät sie einmal in das Design einer modernen parlamentarischen Mehrheitsdemokratie, ist kaum noch zu stoppen. Denn Programme der Austerität unterwerfen jede demokratische Regierung der Drohung der Höchststrafe: Abwahl. Wagen die Staaten es nicht mehr, sich ihre Ausgabenlust über direkte Abgabenlast bei den Bürgern zu holen, greifen sie feige zur Staatsverschuldung. Die wichtigste Ursache einer staatlichen Überschuldung, so Beck/Wentzel, sei politischer Natur, wenn höhere Sozialleistungen ohne Steuererhöhungen versprochen werden, um die Chancen auf dem Wählerstimmenmarkt zu verbessern. Denn die Vorteile der Staatsverschuldung sind direkten Empfängergruppen zuzurechnen, während die Kosten der Allgemeinheit zur Last fallen. Demzufolge, folgern Beck/Wentzel, haben vor allem „unbeschränkte Demokratien“ (F.A.von Hayek) einen strukturellen Hang zu mehr Staatsverschuldung. Das gilt, bis zum Beweis des Gegenteils, nicht nur für Griechenland und Italien, sondern auch für Deutschland.

Freilich sollte man die Rede von der „Gesetzmäßigkeit“ des „Wagnerschen Gesetzes“ – Beck/Wentzel deuten das nur an ­- nur mit äußerster Vorsicht gebrauchen. Nicht nur, weil sie vom fatalen Ressentiment der Unterlegenheit getragen ist, weshalb heraus Ökonomen gerne Naturwissenschaftler sein wollen. Sondern schlicht auch deshalb, weil das Wagnersche Gesetz eben faktisch und historisch kein Gesetz ist, dem alle (Sozial)Staaten zwanghaft zu folgen genötigt wären. Vito Tanzi hat in seinem neuen Buch „Government versus Marktes“ die Staaten in drei Gruppen eingeteilt: solche mit großen, mit mittleren und mit geringen öffentlichen Budgets (von 55 bis 34 Prozent Sozialquote), und verglichen, welche gesundheitlichen und sozialen Leistungen die Bürger dafür erhalten. Das Ergebnis ist desillusionierend: In allen drei Ländergruppen (bezogen auf das Jahr 1990) beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung exakt 77 Jahre, die Kindersterblichkeit ist in der mittleren Gruppe höher als in Ländern mit sparsamen Staaten, der Besuch höherer Schulen ist in etwa gleich. Und jener Teil des Volkseinkommens, der auf die ärmeren 40 Prozent der Gesellschaft entfällt, variiert gerade einmal um gut drei Prozentpunkte zwischen 20,8 (schlanke Staaten) und 24,1 Prozent (üppige Staaten).

Wohlstand, gemessen am BIP, am Glück, langem Leben und guter Gesundheit und vielen anderen Zielgrößen mehr, gibt es offenbar eher in Staaten, die ihre Bürger weniger besteuern und die die nachkommenden Generationen mit deutlich geringeren Schulden belasten. Mit anderen Worten: Die Bürger Frankreichs, Italiens, aber auch Deutschlands machen einen schlechten Deal. Weder verbessert die ausgedehnte Staatstätigkeit und Verschuldung das materielle Wohl der Menschen, noch macht diese sie zufriedener. Ausgabenfreudige Staaten verringern noch nicht einmal die Ungleichheit – ein Ziel der Umverteilung, das die Regierungen den Menschen zur Legitimation ihres Schaltens und Waltens vorgaukeln. Wir zahlen zu viel für öffentliche Leistungen, die wir ohne Qualitätseinbuße auch billiger bekämen. Das gesparte Geld stünde für andere Wünsche zur Verfügung.

Dies bedeutet: Eine Einschränkung der Staatstätigkeit, schrumpfende Staatsfinanzen und Schuldenabbau sind, anders als die öffentliche Propaganda es behauptet, kein Sozial- und Wohlfahrtsabbau: Jedenfalls gehen sie – aus zwingend empirischen Gründen – weder mit einem Rückgang subjektiven und objektiven Wohlstands und Wohlbefindens einher, noch müssen sie die Ungleichheit vergrößern. Die Haushalte der reichen Staaten haben genügend Sparpotenzial zur Verfügung (vor allem das viele Geld, das ineffizient innerhalb der Mittelschicht umverteilt wird). Staaten und ihre Bürger müssen sich also aus ökonomischen und aus wohlfahrtsstaatlichen Gründen vor der Konsolidierung ihrer Budgets nicht fürchten. Alle empirischen Untersuchungen zeigen: Eine Rückführung der Staatsfinanzen (Belgien, Neuseeland, Lettland, auch Norwegen waren besonders erfolgreich) stürzt die Menschen weder in größere Ungleichheit oder Ungerechtigkeiten, noch lässt sie das Wachstum schrumpfen. Exzessive Staatsverschuldung, die unweigerlich in die Pleite führt, ist nicht zwingend der Preis ausgebauter Wohlfahrtsstaaten.

Ordnungsökonomik, die sich – wie hier bislang entfaltet – in ihrer Rolle als kritische Theorie der bestehenden Euro-Verhältnisse, mithin als Fundamentalkritik der Wohlfahrtsstaaten versteht und gefällt, verfällt leicht dem Vorwurf des weltfremden Dogmatismus, der mit Gebetsmühlen (die bekanntlich nerven) vergeblich die Welt verändern will. Klassisch wurde dieser Vorwurf von G.W.F. Hegel formuliert. Die Kritik am überschuldeten Wohlfahrtsstaat sei in ihrer Absolutheit nicht nur anmaßend, sondern auch maßlos und mache sich, weil ohne Respekt vor dem Gewordenen, zuletzt lächerlich. Das ist der Vorwurf des naiven Utopismus. Als ob sich die „Freiheit des Denkens und des Geistes“ nur durch „Feindschaft gegen das öffentlich Anerkannte beweise“, schreibt Hegel: „Wenn man diese Vorstellung (sc. von der Ungebundenheit der Freiheit des Denkens) und das ihr gemäße Treiben sieht, so sollte man meinen, als ob noch kein Staat und Staatsverfassung in der Welt gewesen, noch gegenwärtig vorhanden sei, sondern als ob man jetzt – und dies Jetzt dauert immer fort – ganz von vorne anzufangen, und die sittliche Welt nur auf ein solch jetziges Ausdenken und Ergründen und Begründen gewartet habe.“ Das trifft alle großen und kleinen Weltverbesserer, die naiv meinen, man könne noch einmal „ganz von vorne anfangen“. Es trifft auch sämtliche Vertragstheorien des Staates und alle Robinsonaden, die nicht den historisch gewordenen Staat zur Grundlage ihrer Analyse machen, sondern so tun, als könne eine Versammlung erster Menschen den besten Staat entwerfen, wie er unter dem Schleier des Nichtwissens als ein gerechter aussehen müsste.

Hegels Argument denunziert die Kritiker des Schuldenstaates, seien sie links oder liberal und erst recht die Ordnungsökonomen, als Bewohner des Elfenbeinturms, um die man sich schon deshalb nicht sonderlich scheren müsse, weil ihre Kritik ebenso weltfremd ist wie die Hoffnung, man könne ganz neu anfangen, selbstredend von Gnade und mit dem Design der Kritiker. Nicht gegen, sondern nur mit den Verhältnissen solle man denken, meint Hegel, und plädierte für eine Affirmation des Bestehenden, wonach der Staat „als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen“ sei, anstatt „einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen“. Lächerlich sei es demnach, „den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll. Hic Rhodus, hic salta“.

Gerade weil der Widerspruch an der rein äußerlichen Negativität der ordnungsökonomischen Kritik spontan einleuchtet, sollte man sich nicht blenden lassen. Gewiss, die Pfadabhängigkeit der mit Schulden überladenen Wohlfahrtsstaaten, ist erdrückend, ein Pfadwechsel mühsam, er steht unter der ständigen Drohung des Machtverlustes für amtierende Regierungen und provoziert Unruhen der Verlierer. Doch dass der Pfadwechsel gänzlich unmöglich sei, das dementieren ja nicht zuletzt alle Staaten Osteuropas, die nach dem Zusammenbruch des Sozialismus eine weitaus dramatischere Wende zu verkraften hatten als es heute von Griechenland, Italien – und Deutschland! – erwartet wird. Und dass es unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche Arrangements auf unterschiedlichen Niveaus der Staatsausgaben gibt, darauf haben wir mit Verweis auf Vito Tanzi bereits hingewiesen. Fundamentalopposition darf sich von den Freunden der Affirmation nicht ins Boxhorn jagen lassen.

Jedenfalls entfaltet die Ordnungsökonomik, aller Kritik an ihrer Weltfremdheit zum Trotz, ihre größte Kraft immer noch dann, wenn sie das Übel an der Wurzel – will sagen: die Eurokrise an ihrer falschen institutionellen Architektur – analysiert. Das sind denn auch die stärksten Beiträge im Ordo-Band, wenngleich für kundige Thebaner – wie stets – zuweilen rasch zu erkennen ist, wohin der Hase läuft, was das Feuer der Neugierde bei der Lektüre zuweilen etwas dämpft. Versucht es die Ordnungsökonomik indes anders und lässt sie sich mit den falschen wirklichen Verhältnissen ein, werden leicht ihre Grenzen sichtbar. So enttäuscht etwa der Einleitungsaufsatz des Ordo-Bandes über „Krisenreaktion und Krisenprävention im Euro-Raum“, weil er nur den bekannten Status quo wiederholt (also Bekanntes aus Film, Funk und Fernsehen referiert), schlimmer noch aber dazu verführt wird, ihn normativ zu legitimieren. Am Ende der Analyse heißt es dann: „Es führt bei der angespannten Lage im Euro-Raum nichts darum herum, Griechenland mit einer deutlichen Erhöhung der EFSF-Mittel weiter zu finanzieren und damit ein Kreditereignis mit all seinen negativen Folgen zu vermeiden.“ Das hätten auch die Finanzminister im Brüsseler Ecofin nicht anders gesagt. Aber wozu braucht es dann noch die Ordnungsökonomik?

Machen wir uns nichts vor: Die Ordnungsökonomik ist in der Defensive, nicht erst seit dem sogenannten Methodenstreit in der Volkswirtschaftslehre (Caspari/Schefold). Aus dieser Defensive zu entkommen, dazu machen im Ordo-Band  Nils Goldschmidt und Alexander Lenger einen Versuch, der aller Ehre wert ist – letztlich aber den Rezensenten nicht zu überzeugen vermag. Gewiss stimmt es, dass die Weltfremdheit der Ordos nicht zuletzt mit ihrer Ferne zu den „realen gesellschaftlichen Prozessen“ zusammen hängt. Versagt habe die Theorie, so Goldschmidt/Lenger, weil sie mit dem Problem der sozialen Ungerechtigkeit und Ungleichheit nicht umzugehen verstanden habe. Auch dies mag zutreffen. Angesichts der verbreiteten sozialen Exklusion könne man nicht mehr unbefangen davon ausgehen, gesellschaftliche Teilhabe werde sich durch marktwirtschaftliche Teilhabe verwirklichen. Wo nämlich Gesellschaftsmitglieder – Alte, Kranke, Kinder, Unqualifizierte – hierzu nicht mehr in der Lage seien, müsse die „wettbewerbliche Ordnung durch sozialpolitische Maßnahmen ergänzt werden“. Die Autoren schlagen eine „Förderung der positiven Freiheit von Individuen vor“. Sie schlagen also den heutigen deutschen und europäischen Sozialstaat vor. Um zu einer solchen Theorie zu kommen, die den Gedanken aufgibt, dass die beste Sozialpolitik eine gute Wettbewerbspolitik ist, braucht es freilich die Freiburger Schule nicht mehr. Das kann die Frankfurter Schule (und die auf ihr fußende handelsübliche Soziologie oder Theologie) besser. Als ob Selbstaufgabe die Ordnungsökonomik aus der Defensive brächte. Sie bringt sie nur zum Verschwinden.

Nein, so schlecht steht die Ordnungsökonomik nicht da, dass sie nur die Wahl zwischen fundamentaloppositioneller Weltfremdheit, iterativer Redunanz des Bestehenden oder anpasslerischer Selbstaufgabe hätte? Von den drei Möglichkeiten überzeugen im neuen Ordoband, obwohl am wenigsten überraschend, die fundamentaloppositionellen Beiträge am meisten. Weltfremd sind sie gerade nicht. Fundamentalopposition, die sich an der veränderten politischen Welt abarbeitet, bleibt der Wettbewerbsvorteil der Freiburger im Wettstreit um die beste Theorie der Krise. Wie anders sollte man die europäische Idee ehren und zugleich Europa und die Eurozone kritisieren?

Literatur:

Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Band 62. Stuttgart: Lucius & Lucius 2011.

Volker Caspari/Bertram Schefold: Wohin steuert die ökonomische Wissenschaft? Ein Methodenstreit in der Volkswirtschaftslehre. Frankfurt/ New York: Campus 2011.

Rainer Hank: Die Pleite-Republik. Wie der Schuldenstaat  uns entmündigt und wie wir uns befreien können. München: Blessing 2012.

Vito Tanzi: Government versus Markets. The Changing Economic Role of the State. Cambridge: MIT-Press 2011.

 

(eine erweiterte Fassung dieses Textes erscheint in der März-Nummer der “Orientierungen“ der Ludwig-Erhard-Stiftung)

 

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