Warum gibt es Reichtum und Armut auf der Welt? Das ist die entscheidende moralische Frage der Menschheitsgeschichte. Wer heute, bedingt durch den Zufall der Geburt, in Deutschland, Amerika oder Singapur wohnt, lebt im Wohlstand. Wer in Afrika auf die Welt kam, bleibt arm.
So war es nicht immer. Dass zwischen reichen und armen Ländern eine gigantische Einkommenslücke klafft, ist historisch ein relativ neues Phänomen. Mehr oder weniger bis zum Jahr 1800 sah die Verteilung des bescheidenen Wohlstands unter der Weltbevölkerung über Jahrtausende hinweg in nahezu allen Ländern gleich aus. Während eine kleine Elite ein behagliches Leben führte, verharrte die große Masse in bitterer Armut. Ohne Chance auf Wohlfahrtsgewinne.
Fortschritt war bis zum Beginn der industriellen Revolution in der Geschichte der Menschheit nicht vorgesehen (siehe Grafik).
Die Menschen der frühen Neuzeit hatten objektiv nicht mehr zum Leben als die Menschen in der Jungsteinzeit. Den Grund dafür nennen die Wirtschaftshistoriker „Malthusianische Falle“, benannt nach dem britischen Bevölkerungstheoretiker Thomas Malthus (1764 bis 1834). Danach wurden alle technischen, medizinischen oder wirtschaftlichen Erfolge sogleich von einem größeren Wachstum der Bevölkerung wortwörtlich wieder aufgezehrt. Gottlob gab es Pest, Cholera und Kriege, in deren Folge die Nationen gewaltsam schrumpften, damit die Überlebenden hinterher mehr zu essen bekamen.
Das alles änderte sich schlagartig im England des frühen 19. Jahrhunderts. Fortan wuchs die Ungleichheit zwischen den Staaten dramatisch, während sie innerhalb der Staaten nicht minder dramatisch abnahm. Kein Wunder, dass die Wirtschaftshistoriker seit langem fieberhaft nach der Zauberformel fahnden, welche diesen Einschnitt der Menschheitsgeschichte zu verantworten hat. Sind es genetische Veränderungen, war es das milde Klima in Kontinentaleuropa, oder war es der Geist des Protestantismus (um nur einige Kandidaten zu nennen), welcher Europa auf die Sonnenseite des Wohlstands führte?
Auf dem ersten Platz der Wachstumstreiber rangieren unter Ökonomen seit langem gute Institutionen: Demnach braucht es rechtliche, ökonomische und soziale Ordnungsrahmen, von denen entsprechende Anreize für die unternehmerische Dynamik ausgehen. Vertragsfreiheit, stabile Eigentumsrechte, dezentrale Entscheidungen oder niedrige Steuern regen das Wirtschaften an, so heißt der Konsens: Wo eine stabile Rule of Law gegeben ist, da wachsen Unternehmergeist, Innovation und Handel wie von alleine. Folgerichtig muss eine Theorie des wirtschaftlichen Wachstums postulieren, dass die Industrielle Revolution in England um 1800 gerade deshalb sich ereignet hat, weil just in diesem Moment die beste institutionelle Ordnung gegeben war.
Doch warum ereignete sich dieser Wohlstandsprozess gerade in England, warum gerade um 1800ff, später dann in Deutschland und Amerika, warum aber nicht in Indien oder Afrika? Darauf weiß die Institutionentheorie bis heute keine überzeugende Antwort.
Jetzt macht der amerikanische Wirtschaftshistoriker Gregory Clark mit einem häretischen Buch („A Farewell to Alms“, Princeton University Press 2007) Furore. Weder Kohle noch Kolonien oder Aufklärung und schon gar nicht adäquate Reformen der Institutionen kurbelten das Wachstum an, sondern kulturelle Werte und Einstellung: Die Menschen mussten erst von Jägern und Sammlern zu Bürgern werden und die Haltung der Gewalt, Ungeduld und Tagträumerei durch Arbeitsethos, unternehmerische Leidenschaft und Sparsamkeit ersetzen. Die Briten scheinen das als Erste gepackt zu haben, meint Clark. Und liefert dafür eine abenteuerliche genetisch-historische Herleitung, die der Altmeister der neuen Wachstumstheorie, Robert M. Solow, gerade überzeugend ad absurdum geführt hat („Survival of the Richest? In: The New York Review of Books, 22. November 2007)
Das ändert freilich nichts an der Erkenntnis, dass der Kapitalismus Kultur braucht, um in die Gänge zu kommen. Neu ist das alles nicht. Es ist das Bewusstsein, welches das Sein beeinflusst. Bekanntlich weist Max Webers in seiner viel diskutierter Studie „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904) nach, dass es erst dazu kommen musste, die natürliche menschliche Profitgier durch religiöse Deutungsarbeit von einer sündhaften Schwäche in eine persönliche Pflicht und Stärke zu wandeln. Erst so können gute Institutionen auch Anreize auf menschliches Handeln ausüben. So lange unternehmerisches Handeln mit dem Makel der Sünde behaftet ist, werden sich wenige, schon gar nicht die Besten, dazu entschließen, ein finanzielles Risiko auf sich zu nehmen und Unternehmer zu werden, selbst wenn die perfekt gestaltete Rule of Law die besten kapitalistischen Renditen zu bringen verspräche.
Für Max Weber musste deshalb der Calvinismus zum Geburtshelfer des Kapitalismus werden. Denn die Lehre des Genfer Reformators wandelte das christliche Gebot der Askese um in den Auftrag planvoller Lebensführung. „Der mittelalterliche Katholik lebt in ethischer Hinsicht gewissermaßen von der Hand in den Mund“, schreibt Weber. Seine „guten Werke“ seien nichts als eine planlose Reihe einzelner Handlungen. „Der Gott des Calvinismus dagegen verlangt von den Seinigen und bewirkt in ihnen nicht einzelne gute Werke, sondern ein heiliges Leben. Die ethische Praxis des Alltagsmenschen wird ihrer Plan- und Systemlosigkeit entkleidet und zu einer konsequenten Methode der ganzen Lebensführung ausgestaltet“ (Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Weinheim 2000, 76f.). Es geht um die „Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben“. Darin erscheint der Calvinismus dem „harten und aktiven Sinn bürgerlich-kapitalistischer Unternehmer wahlverwandt“ (ebd. 104).
Max Webers These ist bis heute höchst lebendig und zutiefst umstritten. Ist es nicht vielmehr die biblisch geprägte Bildung, die der Protestantismus stärker betrieb als der Katholizismus, welche das entsprechende für den Kapitalismus notwendige Humankapital heraus bildete? Doch selbst, wenn es sich herausstellen sollte, dass dem Calvinismus für das kapitalistische Ethos nicht jene prominente Rolle zukam, die Max Weber ihm zusprach, so bleibt doch die Frage nach der Rolle der kulturellen Werte und Haltungen als Treiber des Wachstums. Welche Rolle spielt die Motivation als Treiber des Unternehmertums? Während die Mainstream-Ökonomie Karl Marx anhängt, wonach das Sein das Bewusstsein und die richtigen Institutionen die besten unternehmerischen Einstellungen von allein hervorbringen, entwickelt sich in jüngster Zeit eine ökonomisch seriöse Schule des Neo-Weberianismus: Es waren nicht bloß Institutionen, sondern auch die Menschen, die sich erst ändern und Tugenden wie Sparsamkeit, Sorgfalt oder Fleiß ausbilden mussten, damit Unternehmertum ein lohnenswertes Ziel menschlichen Strebens wurde. Erst diese Tugenden führten dazu, dass der Kreislauf von Sparen, Arbeiten und Investieren in Gang kommen konnten, behaupten die israelischen Ökonomen Oded Galor und Omer Moav, Protagonisten des Neo-Weberianismus.
Auch der Ökonomienobelpreisträger Edmund Phelps sucht seit geraumer Zeit nachzuweisen, dass Werte und Kultur über den Wohlstand entscheiden und die inneren Einstellungen der Menschen zur Arbeit die Wachstumsunterschiede unter den OECD-Staaten erklären können. „Menschliche Einstellungen erklären mehr als die Unterschiede der Institutionen“, sagt Phelps. Wo Neugier, Entdeckungsfreude, Veränderungs- oder Abenteuerlust als menschlicher Antrieb verkümmern oder diskreditiert werden, wird der Wohlstand der Nationen schrumpfen.
Das ist die Inversion Max Webers: Waren es innovative Tugenden, die die Industrielle Revolution in Europa in Gang brachten, so hat umgekehrt deren neuerliche Diskreditierung den Niedergang wirtschaftlicher Dynamik zu verantworten. In Kontinentaleuropa gibt es spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine egalitäre Tradition, welche die Ungleichheit – den Ausfluss des wirtschaftlichen Erfolgs oder Misserfolgs – in Frage stellt. Hinzu komme, sagt Phelps, eine antimaterialistische Tradition im christlichen Bildungsbürgertum, die von einer Antipathie gegenüber allem Irdischen geprägt wurde.
Der Streit ist alles andere als eine Frage des akademischen Elfenbeinturms: Sollte die Kulturtheorie von Weber, Phelps, Galor e tutti quanti nicht ganz falsch sein, wofür einiges spricht, wären für die Entwicklung armer Länder nicht nur Kapital und gute Institutionen, sondern auch Werte, Tugenden und Haltungen notwendig. Aber wo kann man das lernen? Und wie lange dauert das?
Doch auch der Blick auf die erstarrten Volkswirtschaften kontinentaleuropäischer Wohlfahrtsstaaten wandelt sich. Wenn es nicht nur Institutionen, sondern auch Werte und Haltungen sind, die den wirtschaftlichen Wohlstand und Fortschritt verantworten, dann genügt es nicht, sich nur an die Ratschläge der liberalen Institutionentheorie zu halten, um das Wachstumspotential eines Landes auszuschöpfen. Gute Politik und gute Institutionen (Deregulierte Arbeits- und Gütermärkte, zurückhaltendes Staatshandeln, angemessene Steuer- und Abgabenregimes etc.) sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für Wachstum und Wohlstand. Denn es nützt alles nichts, wenn die Menschen das kapitalistische Ethos verachten und den Pfad unternehmerischer Risikofreude verlassen haben.
Hier stellt sich einmal wieder das Problem des Pfadwechsels. Bekanntlich ist es leichter, einen den Bürger entmündigenden und seine Freiheit beraubenden Sozialstaat zu erfinden als diesen, ist er erst einmal installiert, wieder zu demontieren. Wenn aber als Ursprung oder als Folge des sozialstaatlichen Paternalismus auch die Menschen ihre Werte und Haltungen verändert haben und Leistungsethos, Risikofreude und Ungleichheitstoleranz außer Mode gekommen sind – wie findet eine Volkswirtschaft wieder zurück auf den guten Weg?
Der schwer zu bewältigende Pfadwechsel ist noch nicht einmal die größte Hürde. Sperriger noch ist das überaus ernst zu nehmende Verdikt der liberalen Ökonomie gegenüber einer Änderung menschlicher Präferenzen: Wer wollte sich anheischig machen, Werte, Haltungen und Einstellungen seiner Mitmenschen zum Kapitalismus zu korrigieren? Sozialtechnologie ist allemal eine Anmaßung. Sie kommt allemal in bester Absicht daher, ob sie sich links oder liberal geriert und ist doch ein unerlaubter Übergriff auf die menschliche Freiheit. Wenn die Menschen sich zur Trägheit entscheiden und den unternehmerischen Impetus verabschieden – wer wollte sie zur Änderung ihres Verhaltens und ihrer Motivation zwingen?
Womöglich liefert diese Aporie des Wertepfades zumindest eine Erklärung für die Reformresistenz Deutschlands (und Kontinentaleuropas) im frühen 21. Jahrhundert. Eine hundert Jahre währende Geschichte des mentalen Antikapitalismus lässt sich nicht nur durch ein paar liberale Manifeste wenden. Aber was braucht es dann?
- Ordnungspolitische Denker heute (3)
Was wir von Wilhelm Röpke lernen sollten – und was lieber nicht. - 26. Januar 2014 - Über den Umgang mit Unsicherheit und Offenheit
Erfahrungen eines Wirtschaftsjournalisten nach fünf Jahren Finanz- und Wirtschaftskrise - 29. Oktober 2013 - Ungleichheit heute (15)
Ungleichheit und Gerechtigkeit: Was hat das miteinander zu tun? - 2. August 2013
Grundlage der Freiheit ist die Fähigkeit zur Selbstorganisation und Selbstständigkeit.
Womöglich hat das englische Seefahrer- und Freibeutertum diese Fähigkeiten gefördert?
Hervoragender Artikel! Haben ihn mir ins Archiv gelegt.
Ein sehr lesenswerter Artikel, gerade weil er sich mit sozio-ökonomischen Grundlagen beschäftigt.
Meines Erachtens ist in der Argumentation jedoch ein Irrtum und ein Widerspruch enthalten:
Sowohl klassische als auch Neoliberale trennen meiner Einschätzung nach Institutionen nicht von Werten, Normen, Standards, Traditionen, also persönlichen Einstellungen der Menschen. Schlagwortartig belegen dies Hayeks Äußerungen zur Religion oder zur Gemeinsamkeit der Evolution von Geist und Gesellschaft, Mises Analyse der psychischen Gründe für den Antiliberalismus, Röpkes „Jenseits von Angebot und Nachfrage“, Rüstows „Marktrand“ und „Vitalpolitik“ usw. Erhard hat in diese Richtung politisch gewirkt. Der liberale Institutionenbegriff ist breiter.
Zudem argumentieren die Liberalen, dass erst eine freiheitliche Ordnung die für eine freie Gesellschaft – nicht nur eine Marktwirtschaft (!) – erforderlichen Voraussetzungen schafft. Der Kapitalismus als ökonomische Ordnung steht und fällt also mit den außerökonomischen Bedingungen, die er selbst nicht schaffen kann. Ergo kann sich eine kapitalistische Haltung in einem neosozialistischen Wohlfahrtsstaat auch nur schwer von allein herausbilden, sondern muss herbeigeführt werden. Das Zurückfallen Europas und Deutschlands liegt in dem miteinander verwobenen Problem der im weiteren Sinne rechtlichen Institutionen des Staates und den geistigen Institutionen der Menschen begründet. Die träge wohlfahrtsstaatlich Katze beißt sich in den Schwanz!
Insofern geht auch der Vorwurf des Deismus an den Liberalismus ins Leere; er zeugt vielmehr von einem Missverständnis liberaler Lehren.
Hayek riet in Großbritannien zur Gründung eines Institutes (IEA), das einen Stimmungswandel, einen Wandel der Geisteshaltung in den Eliten und der Bevölkerung bewirken sollte. Hayek hat somit Maggie Thatcher ermöglicht. Diesen Wandel gilt es vor allem als Grasswurzelstrategie, etwa im Sinne Cobdens, in Deutschland einzuleiten.
Erlauben Sie mir daher die Umdeutung: „Die kapitalistische Haltung. Wir müssen zurück zu den klassischen Liberalen!“
Nicht nur Max Weber hat sich mit dem Zusammenhang von Religion und Wirtschaft beschäftigt. Walter Benjamin veröffentlichte 1921 den Text „Kapitalismus als Religion“, worin er das, was Max Weber einst die „schicksalvollste Macht des modernen Lebens“ nannte, in seinen religiös-theologischen Kontext zurück übersetzt.
s.a.:
„Kapitalismus ist Kult“
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/5/5083/1.html
„Wirtschaftstheologie“
http://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftstheologie
Sehr geehrter Herr Hank,
es braucht Freiheit in der Bildung. Solange Etatisten das Bildungssystem monopolisieren können, vermögen die jungen Menschen nicht einmal in Kontakt mit überzeugenden Werten in Berührung zu kommen.
Der ganze Sozialstaat ändert ja letztendlich nichts daran, daß ohne Arbeit, Fleiß und Klugheit keine Werte geschaffen und gewinnbringend getauscht werden können. Erst dadurch ist Sparen möglich, infolge Investieren und durch den dadurch gewonnenen Kapitaleinsatz steigen Produktivität und Wohlstand. Aber wem erzähle ich das? Ich bringe es immer auf die kurze Formel: Kapitalismus ist, mit Werkzeugen mehr zu schaffen als ohne. Das kann man eigentlich schon verstehen. Wobei Kapital natürlich mehr ist als Geld (sei es richtiges oder eine Papierwährung). Und besser leben, wollen die meisten. Und daß Arbeit, Schaffen und verdiente Ruhe etwas wunderbares sind, kann man erleben.
Es gilt also Freiräume zu schaffen, zu lassen und Überzeugungsarbeit zu leisten – den Gewinn von Freiheit und Lebensqualität zu veranschaulichen und anschaubar zu machen. Nicht via Staat, sondern ganz persönlich.
Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für Ihr Schaffen und Wohlergehen
gez.
Ihr
Stefan Sedlaczek
Seefahrt fördert die mathematische und ökonomische Intelligenz.
Fuhren uns die zeithistorischen Weltkrisen zuruck in die Weber-Welt? In kurzschlussigen Vergleichen etwa der spatmodernen Berliner mit der fruhdemokratischen Weimarer Republik sicherlich nicht, in der Tiefenwirkung der drei Weber‘schen Potenzen vermutlich schon. In die Endphase der Max Weber-Gesamtausgabe fallt ein Strukturbruch von nicht minder revolutionarer Art als der aus den 19r-Jahren und verlangt nach einer neuen zeithistorischen Vermessung unserer Gegenwartslage. Das welthistorische Konfliktfeld zwischen dem global entgrenzten Kapitalismus, den pluralisierten und polarisierten Massendemokratien und den nationalen Machtstaaten provoziert zu neuer Selbstvergewisserung unserer modernen Zivilisation. Rustungswettlauf, Handelskrieg und extremer Nationalismus sind in eine historische Perspektive zu rucken. Das setzt Webers Frage nach dem Zustand der „modernen europaischen Kulturwelt“ wie nach dem „Machtpragma“ von „Gro?staaten“ in einer multipolaren Welt wieder auf die Agenda.