Die Anpassung an die Globalisierung ist die vielleicht größte wirtschaftspolitische Herausforderung der heutigen Zeit. Manchem werden auf dem Anpassungsweg schon die Beine schwer, und er mag sich fragen, wann das Ziel denn endlich erreicht sein wird. Ein einfaches Rechenexempel kann verdeutlichen, dass auch weiterhin gute Kondition nötig sein wird, da der deutlich größere Teil des Anpassungswegs noch vor uns liegt:
Deutschland hat einen Anteil an der Weltproduktion von rund sieben Prozent. Damit beträgt auch sein Anteil an der weltweiten Kaufkraft rund sieben Prozent. Wenn es für den Absatz deutscher Produkte völlig unerheblich wäre, ob die Kunden im Inland oder im Ausland angesiedelt sind, dann wäre im statistischen Mittel zu erwarten, dass diese Produkte etwa zu sieben Prozent im Inland und zu 93 Prozent im Ausland abgesetzt würden. Das ergäbe eine Relation zwischen Exporten und inländischer Produktion von 93 Prozent. Tatsächlich liegt die deutsche Exportquote (bezogen auf die gesamtwirtschaftliche Produktion, nicht auf das BIP) aber nur bei knapp 25 Prozent. Nach dieser Kalkulation sind die theoretisch möglichen Potentiale der Globalisierung im Außenhandel bislang also nur zu wenig mehr als einem Viertel genutzt.
Zumindest qualitativ wird diese Überschlagskalkulation durch eine Reihe weiterer Indizien gestützt. Eines dieser Indizien ist das sogenannte Feldstein-Horioka-Paradoxon: Wenn Grenzen keine Rolle spielen würden, dann würden sich die Investoren eines Landes ihre Investitionsmittel überall auf der Welt beschaffen können, und die Sparer eines Landes würden ihre Ersparnisse überall auf der Welt anlegen können, je nachdem, wo es die besten Zinsen gibt. In einer grenzenlosen Welt sollten die Spar- und Investitionsquoten von Ländern also unabhängig voneinander sein. Tatsächlich sind sie jedoch hoch miteinander korreliert, was als klares Indiz für eine unvollkommene weltweite Integration der Kapitalmärkte gewertet werden kann.
Ein weiteres Indiz ist der sogenannte „Home Market Bias“ auf den Gütermärkten. Darunter versteht man die Vorliebe der Konsumenten, solche Produkte zu kaufen, die in ihren eigenen Ländern hergestellt wurden, auch wenn Produkte aus anderen Ländern eine bessere Qualität oder einen günstigeren Preis aufweisen können. Die Deutschen halten nun einmal ihrem VW die Treue, genau wie die Italiener liebend gern Fiat fahren – und den Italienern sind die Vorlieben der Deutschen genauso unerklärlich wie den Deutschen die Vorlieben der Italiener. Der Home Market Bias ist für Konsumgüter und selbst für Investitionsgüter immer wieder bestätigt worden. Auch die Gütermärkte sind demnach nur unvollkommen international integriert.
Ein letztes Indiz liefern die sogenannten „Border Effects“. Eine Ausgangsüberlegung dazu lautet, dass die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada ökonomisch kaum ein Rolle spielen dürfte, da auf beiden Seiten der Grenze die gleiche Sprache gesprochen wird, die Kulturen sehr ähnlich sind und Zölle und andere künstliche Handelsschranken nahezu vollständig abgeschafft sind. Deshalb sollten die Handelsbeziehungen einer Stadt wie Vancouver mit der unmittelbar benachbarten Stadt Seattle, die sich jenseits der Grenze befindet, besonders ausgeprägt sein. Tatsächlich weist Vancouver jedoch wesentlich intensivere Handelsbeziehungen zu Montreal auf. Seattle wiederum handelt intensiver mit San Francisco und Los Angeles als mit Vancouver. Folgeuntersuchungen brachten ähnliche Resultate zur Relevanz der Border Effects für Europa und andere Regionen.
Die Potentiale der Globalisierung scheinen also bei weitem noch nicht ausgeschöpft zu sein. Zwar ist eine vollständig integrierte Weltwirtschaft, in der Nationalitäten und räumliche Distanzen gar keine Rolle mehr spielen, sicherlich utopisch. Aber wir sind von dieser Utopie noch derart weit entfernt, dass die Prognose, die Globalisierungstrends der vergangenen Jahrzehnte würden sich auch künftig kräftig fortsetzen, nicht gewagt erscheint.
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