Das Europäische Parlament ist ein Motor der politischen Zentralisierung. Die Zentralisierungswünsche der EU-Parlamentarier gehen weit über das hinaus, was die Bürger wünschen. Zahlreiche Befragungen belegen dies. Tabelle 1 zeigt, welche Entscheidungsebene die Bürger, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und die Abgeordneten der nationalen Parlamente für die drei Politikbereiche präferieren, die die Bürger für die wichtigsten halten.
Tabelle 1
Bürger | Abgeordnete der nationalen Parlamente | Abgeordnete des Europäischen Parlaments | |
---|---|---|---|
Regional | 12 | 7 | 3 |
National | 45 | 48 | 43 |
EU | 42 | 44 | 54 |
Quelle: H. Schmitt, J. Thomassen, Political Representation and Legitimacy in the European Union, 1999, Table 3.1
Für die EU-Ebene spricht sich die Mehrheit der EU-Parlamentarier (54 Prozent), aber nur eine Minderheit der Bürger (42 Prozent) aus. Die Präferenzen der nationalen Parlamentarier (44 Prozent) sind denen der Bürger sehr viel ähnlicher, aber ebenfalls etwas in Richtung Zentralisierung verzerrt. Eine weitere Umfrage vergleicht die Wünsche der Bürger mit den Antworten von 203 EU-Parlamentariern und 50 leitenden Beamten der EU-Kommission. Leider ist es nicht möglich, zwischen den EU-Abgeordneten und den Kommissionsbeamten zu unterscheiden, aber die Stichprobe wird zahlenmäßig klar von den Abgeordneten dominiert.
Tabelle 2
Bürger | 203 EU- Parlamentarier und 50 leitende Kommissions-beamte | ||
---|---|---|---|
1. | Die Europäische Union sollte ihre militärische Macht verstärken, um in der Welt eine wichtigere Rolle zu spielen | ||
stimme voll zu | 16 | 31 | |
stimme eher zu | 30 | 34 | |
stimme eher nicht zu | 30 | 17 | |
stimme überhaupt nicht zu | 21 | 15 | |
weiß nicht | 3 | 2 | |
2. | Die Europäische Union sollte einen eigenen Außenminister haben, auch wenn mein Land vielleicht nicht immer mit seiner Politik übereinstimmt | ||
stimme voll zu | 21 | 54 | |
stimme eher zu | 44 | 24 | |
stimme eher nicht zu | 18 | 6 | |
stimme überhaupt nicht zu | 12 | 15 | |
weiß nicht | 5 | 1 | |
3. | Wäre es gut oder schlecht, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden würde? | ||
gut | 21 | 44 | |
schlecht | 32 | 33 | |
weder gut noch schlecht | 40 | 19 | |
weiß nicht | 6 | 4 |
Quelle: European Elite Survey, Centre for the Study of Political Change (CIRCAP), Universitá di Siena, Mai bis Juli 2006 (veröffentlicht von Roper Center for Public Opinion Research: MCMISC 2006-Elite) und Transatlantic Trends 2006, Topline Data, Juni 2006
Obwohl eine knappe Mehrheit der Bürger (51 Prozent) eine Stärkung der EU-Institutionen im militärischen Beeich ablehnt, ist eine breite Mehrheit der EU-Parlamentarier und Kommissionsbeamten (65 Prozent) dafür. Starkes Interesse an einem EU-Außenminister äußern 54 Prozent der EU-Parlamentarier und Kommissionsbeamten, aber nur 21 Prozent der Bürger. Den EU-Beitritt der Türkei befürworten 44 Prozent der EU-Parlamentarier und Kommissionsbeamten; unter den Bürgern ist der Anteil der Befürworter (21 Prozent) noch nicht einmal halb so groß. Tabelle 3 schließlich vergleicht die Wünsche der Bürger mit denen der europäischen und nationalen Parlamentarier. Leider ist der genaue Anteil der EU-Parlamentarier nicht bekannt.
Tabelle 3
Thema | Bürger | Abgeordnete |
---|---|---|
Ich bin für die Mitgliedschaft meines Landes in der Europäischen Union | 48 | 92 |
Die Vorteile der EU-Mitgliedschaft überwiegen | 43 | 90 |
Ich bin für die Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion | 53 | 82 |
Quelle: EOS Gallup Europe, The European Union: A View from the Top, Special Study, 1996
Während 92 Prozent der Abgeordneten die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union unterstützen, tun dies nur 48 Prozent der Bürger. Dass die Vorteile der Mitgliedschaft die Nachteile überwiegen, glauben nur 43 Prozent der Bürger, aber 90 Prozent der Abgeordneten. 82 Prozent der Abgeordneten sind für die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Währungsunion; unter den Bürgern ist es nur eine knappe Mehrheit (53 Prozent). Leider sind solche vergleichenden Umfragen eher selten, denn Eurobarometer, das Umfrageinstitut der Europäischen Kommission, beteiligt sich daran nicht.
Wie ist es zu erklären, dass die EU-Parlamentarier die Politik sehr viel stärker auf der EU-Ebene zentralisieren wollen als die Bürger? Weshalb sind ihre Präferenzen so sehr verzerrt? Zwei Erklärungen kommen in Betracht.
Zum einen verleiht die europäische Zentralisierung den EU-Parlamentariern mehr Macht und Prestige. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments sind eine Interessengruppe. Sie vertreten sich selbst.
Zum anderen findet eine Selbstselektion statt: „Euromantiker“ sind eher geneigt, für das Europäische Parlament zu kandidieren, als Euroskeptiker. Jeder möchte dorthin, wo es ihm gefällt.
Das Verhalten der EU-Parlamentarier widerspricht nicht nur demokratischen Grundsätzen; es ist auch eine Gefahr für die Freiheit. Denn die politische Zentralisierung Europas, die jetzt nach der Vollendung des europäischen Binnenmarkts in Brüssel und Straßburg auf dem Programm steht, stärkt die Macht des Staates über die Bürger. Je mehr die Politik zentralisiert wird, desto weniger Ausweichmöglichkeiten und Vergleichsmöglichkeiten hat der Bürger. Wenn die Steuern und die Regulierungen in Europa immer stärker „harmonisiert“ oder „vergemeinschaftet“ werden, wird es für den einzelnen Bürger immer schwieriger – d.h. kostspieliger, sich einer exzessiven Besteuerung und Regulierung zu entziehen oder die „Performance“ verschiedener Regierungen in derselben Region zu vergleichen und gegen ihr Versagen zu protestieren. Das Erfolgsgeheimnis Europas in den letzten 500 Jahren war die politische Fragmentierung und Balance – der Kampf gegen alle, die versuchten, ein Imperium zu errichten.
Wie kann verhindert werden, dass das Europäische Parlament gegen den Willen der Bürger den – wie es in der Präambel des EU-Vertrags heißt – „immer engeren Zusammenschluss Europas“ betreibt? Die Gründungsväter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entschieden sich 1957 für ein Parlament, das keine weitreichenden Kompetenzen hatte und aus Delegierten der nationalen Parlamente bestand. Dieser Ansatz ist sukzessive aufgegeben worden. Seit 1979 werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt gewählt, und seit dem Vertrag von Maastricht werden seine Kompetenzen immer mehr ausgeweitet. Wenn man das Europäische Parlament auf diese Weise stärken will, um das Demokratiedefizit abzubauen, muss man ihm jedoch eine zweite Kammer zur Seite stellen, die seine Zentralisierungswut in Schach hält. Diese unvermeidliche Schlussfolgerung zieht die European Constitutional Group (ECG), ein Zusammenschluss von 17 Sozialwissenschaftlern aus den verschiedensten Ländern Europas. Die ECG schlägt vor, dass die zweite Kammer – wie vor 1979 die erste – aus Delegierten der nationalen Parlamente bestehen und bei allen Gesetzentwürfen, die die Machtverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten betreffen, selbst entscheiden sollte. Um eine Selbstselektion unter den Delegierten der nationalen Parlamente zu verhindern, würden diese in ihren Fraktionen durch das Los bestimmt.
Der Vertrag von Lissabon räumt den nationalen Parlamenten keine Kontrollrechte in der EU-Gesetzgebung ein. Sie dürfen sich beschweren – das konnten sie schon immer, und sie haben jetzt das Recht auf eine Antwort – in der Regel von der Kommission. Mehr nicht. Selbstverständlich kann auch wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips beim Europäischen Gerichtshof geklagt werden – auch das war schon immer so. Aber der Gerichtshof teilt das Zentralisierungsinteresse der Kommission und des Europäischen Parlaments.
Wie Tabelle 1 gezeigt hat, sind auch die Präferenzen der nationalen Parlamentarier in Richtung Eurozentrismus verzerrt – jedoch sehr viel weniger als die der EU-Parlamentarier. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die nationalen Regierungen ihre Macht durch EU-weite Regulierungs- und Besteuerungskartelle erweitern wollen und die Parlamentarier in die Regierungen berufen werden wollen. Deshalb ist es wichtig, dass die Bürger in der Europapolitik zur Not selbst entscheiden können. Die European Constitutional Group fordert Referenden nicht nur für Vertragsänderungen, sondern auch für die sekundäre EU-Gesetzgebung, wenn ein Viertelprozent der Wahlberechtigten oder ein Drittel der nationalen Parlamente dies verlangen. Bindend soll das Votum in denjenigen Mitgliedstaaten sein, in denen eine Zwei-Drittel-Mehrheit zustande kommt.
Am 7. Juni wird ein neues Europa-Parlament gewählt. Wer die Wahl hat, hat die Qual.
Literatur:
Roland Vaubel, The European Institutions as an Interest Group: The Dynamics of Ever Closer Union, Institute of Economic Affairs, Mai 2009, Hobart Paper Nr. 167, 104 Seiten (ISBN 9780255366342).
Ich denke das „größere“ Problem ist, daß allein schon unsere Gesetzgeber eine Gefahr für die Freiheit ist, und dann kommt noch eine Schicht dazu und die ist noch kaum noch was man legitimiert nennen könnte … da sind wir schon jenseits von Gut und Böse und nur noch Böse…..
Ja ja, im Euro-Parlament sitzen nur Europaromantiker wie Le Pen, oder CSU-Abgeordnete (ohne die jetzt in einen Topf zu werfen – Le Pen ist ein Nazi – die CSU nicht, aber sicherlich europakritisch).
Eine dritte Möglichkeit warum es „verzerrt“ Präferenzen gibt, ist die Tatsache, dass die Europa-Politiker besser informiert sind. Sie wissen, dass dieses ganze Überregulierungs-Kaspertheater nur teilweise mit der Realität übereinstimmt. Klar gibt es einige unsinnige Bestimmungen aus Brüssel (Krümmung der Gurke, etc.), aber das ist nicht vergleichbar mit dem was die nationalen Bürokratien ausspucken (und auch das wird dramatisiert – wenn es auch nervige Bestimmungen gibt – ich erinnere mich beispielsweise, dass eine Offshore-Windanlage die in der Nordsee gebaut werden sollte, 13 verschiedene Ämter durchlaufen musste, während in Holland dafür ein Amt zuständig war).
Es ist aber unerträglich, dass immer nur die negative Seite gezeigt wird, und nicht die Vorteile, die beispielsweise einheitliche Normen und Richtlinien für die Bürger und Unternehmen in Europa bringen.
Die EU ist das größte Freiheits-bringende Geschenk, dass Europa je erlebt hat. Und dieses Schreckensgespenst des Identitätsverlustes und der absoluten Verallgemeinerung durch die EU ist einfach nicht wahr.
Es gibt solche Verzerrten Präferenzen überhaupt in vielerlei Hinsicht. Sei es bei der Todesstrafe, die nicht gerade kleiner Anteil der Bevölkerung befürwortet, oder beim Freihandel, dem auch viele in der Bevölkerung kritisch gegenüberstehen – denn sie (und glücklicherweise auch die Mehrheit unser Politiker) aber bestimmt nicht abschaffen wollen. Jetzt vor kurzem, wurde deutlich, dass die Mehrheit den Bundespräsidenten gerne direkt wählen wurde. Kann man dafür sein, allerdings wurde die Macht- und Wahlbeschränkung des Präsidenten nicht ohne Grund vorgenommen. Wer sich ein wenig mit Verfassungsökonomik beschäftigt, weiß doch, dass in einer Verfassung Regeln stehen, die manche später (aus kurzfristigen Interessen heraus) gerne ändern möcht, aber „unter dem Schleier der Ungewissheit“ bei der Entstehung der Verfassung trotzdem als sinnvoll erachten …
Und an Herrn Friedrich – sie stoßen auch immer in das gleiche Horn! was ist ihnen denn so schreckliches mit der Bürokratie passiert, dass sie ständig diese „Hasstiraden“ auf Politiker und den Staat loslassen. Der Staat ist doch auch eine Institution die den sozialen Frieden bewahrt – auf nationaler und europäischer Ebene – natürlich eine unvollkommene Institution, bei der es immer wieder zu überprüfen gilt, zwischen Schutz und Freiheit.
Aber was ist es für ein Glück, dass in Deutschland (theoretisch) niemand mehr hungern muss, sondern von den sozialen Sicherungssystemen aufgefangen wird (auch wenn da mancherorts nicht alles reibungslos funktioniert) und das wir in Frieden, ja in einem gemeinsamen Staatenbund, mit unseren Nachbarn leben, mit denen wir uns noch vor 60 Jahren die Köppe eingehauen haben.
Meine Lebensgefährtin ist Französin und wir genießen die Arbeitsplatzfreiheit, den Nicht-Umtausch des Geldes und die Tatsache, dass die Länder vereint in Europa stehen und nicht gegeneinander. Die EU hat vieles einfacher gemacht und ist bestimmt keine Gefahr für den Freiheit, nur weil einige Kompetenzen auf einer höheren Ebene angesiedelt sind. Vielleicht ist es eher eine Gefahr für die Freiheit, wenn die nationalen Regierungen die Möglichkeit haben, nationale Industriepolitik zu betreiben (oder ähnliches) – für die nebenbei gesagt auch ein Großteil der jeweiligen Bevölkerung ist …
Europa-Skepzis kommt bei vielen auch durch Unkenntnis und (unhaltbare) Ängste …
MFG