Ulrich Thielemann hat auf meinen Beitrag zu seinem Memorandum Für eine Erneuerung der Ökonomie eine prompte Replik veröffentlicht. Meine Antwort darauf hat, gerade an den zeitlichen Maßstäben des Internet gemessen, sträflich lange auf sich warten lassen – dafür bitte ich um Entschuldigung. Ich glaube, daß es sinnvoll ist, die methodische und die praktische Ebene getrennt zu diskutieren.
Zunächst zur Methode. Thielemann betont nochmals eine Art von versteckter Normativität in der Ökonomik. Der Vorwurf besteht darin, daß wir, wenn wir zum Beispiel von Rationalität sprechen, damit gleichzeitig ein bestimmtes, als rational geltendes Handel rechtfertigen. Das mag auf den ersten Blick so scheinen. Immerhin schwingt beim umgangssprachlichen Gebrauch von Begriffen wie „Rationalität“ oder auch „Effizienz“ die positive Bewertung meist automatisch mit. Tatsächlich ist das aber gerade beim Rationalitätsbegriff nicht so.
Wenn wir theoretisch von individuell rationalem Verhalten sprechen, dann meinen wir damit vor allem: unter den gegebenen Umständen von eigennützig motivierten Menschen zu erwartendes Verhalten. Es geht um den Versuch der Prognose und der Erklärung, nicht aber um Rechtfertigung. Ein völlig triviales Beispiel: Jemand fragt mich, wie sich die Steuerhinterziehung entwickeln wird, wenn ein Bundesland die Zahl seiner Steuerfahnder halbiert. Darauf antworte ich, daß individuell rationale Steuerzahler nun mit einer geringeren Kontrollwahrscheinlichkeit rechnen und wohl deutlich mehr Steuern hinterziehen werden. Oder noch kürzer könnte ich sagen: In dieser Situation wäre es individuell rational, mehr Steuern zu hinterziehen!
Aber das ist eine Prognose, ausgehend von einer bestimmten, für empirisch zutreffend gehaltenen Vermutung darüber, wie sich Menschen im Durchschnitt verhalten, nämlich erstens eher eigennützig und zweitens die Restriktionen ihrer Entscheidungssituation berücksichtigend. Ich sage also, daß der Anstieg der Steuerhinterziehung unter diesen Bedingungen erwartbar ist, aber nicht, daß er gut ist. Wahrscheinlich können wir uns unter normalen Umständen, wenn Steuerzahlungen nicht gerade ein tyrannisches Regime finanzieren, schnell darauf einigen, daß Steuerhinterziehung gesellschaftlich unerwünscht ist. Dieses normative Urteil kommt aber nicht von mir als Ökonom, es muß aus einer gesellschaftlichen Diskussion heraus kommen. Und dann kann ich, ganz instrumentell, vielleicht ein paar Ratschläge geben, wie man Rahmenbedingungen individueller Entscheidungen so ändert, daß am Ende etwas weniger Steuerhinterziehung resultiert.
Nun nehmen wir stattdessen einmal an, die Zahl der Steuerfahnder würde halbiert, das würde auch klar kommuniziert, jeder wüßte davon, aber das Ausmaß der Steuerhinterziehung würde sich nicht ändern. Jetzt stehe ich mit meiner kleinen ökonomischen Theorie scheinbar dumm da und sollte die Annahme des individuellen Rationalverhaltens wohl schnell aufgeben, oder? Nicht unbedingt; hier kommt die forschungsleitende Rolle der Rationalitätsannahme ins Spiel. Würde ich einfach sagen, daß die Steuerzahler eben nicht rational sind und wohl zu dumm zu merken, daß sie jetzt kaum noch kontrolliert werden, dann wäre der Erkenntnisgewinn ziemlich klein. Ich könnte aber auch die Rationalitätsannahme beibehalten und mich auf die Suche nach Dingen in den Randbedingungen individuellen Verhaltens machen, die ich bisher vielleicht übersehen habe, die aber für die fehlende Zunahme der Steuerhinterziehung verantwortlich sein könnten. Dinge wie soziale Normen, oder auch ein rational von individuellen Routinen anstatt ständigem Maximieren geleitetes Handeln.
Schon stehe ich im weiten Feld der verhaltensökonomisch orientierten Finanzwissenschaft, die zwar im großen und ganzen diesen forschungsleitenden Kern der Rationalitätsannahme beibehält, aber ansonsten ein breites Spektrum ganz verschiedener Forschungsansätze verfolgt, die sich die Optimalsteuerrechner vergangener Jahrzehnte wohl kaum vorstellen konnten. Aber es ist gerade diese forschungsleitende Rationalitätsannahme, die die Forscher von naheliegenden, aber trivialen Erklärungen abhält und die sie stattdessen zwingt, eine Vielzahl verschiedene, interessantere und komplexere Ansätze zu verfolgen.
Ich denke man sieht, daß es hier tatsächlich überhaupt nicht darum geht, individuelles Verhalten zu rechtfertigen, indem man es rational nennt. Daß ein Verhalten rational ist, entbindet mich überhaupt nicht davon, mir Gedanken darüber zu machen, ob es auch wünschenswert ist. Es ist gut, wenn sich die Wirtschaftsethik mit dieser Frage beschäftigt und wenn sie auch Verfahren sucht, mit denen Gesellschaften sich darüber klar werden können, welches Verhalten sie wünschenswert finden. Aber der nächste Schritt würde dann wieder darin bestehen müssen, Institutionen so zu gestalten, daß dieses wünschenswerte Verhalten möglichst auch individuell rational ist.
Damit dürfte aber auch klar sein, daß der Vorwurf Thielemanns fehlgeht, Ökonomen würden eine bestimmte Art von Erfolgsrationalität oder strategischem Handeln normativ rechtfertigen. Man denke nur an das klassische Externalitätenproblem: Es geht doch gerade darum, einen Konflikt zwischen individuell und gesellschaftlich rationalem Verhalten aufzuzeigen. Oder allgemein: Konflikte zwischen verschiedenen Formen der Rationalität zu identifizieren, die gleichzeitig für sich Geltung beanspruchen.
Und damit kommen wir zur wissenschaftlichen Praxis. Ich stimme dem von Thielemann angeführten Zitat von Joseph Stiglitz, der behauptet, wir Ökonomen seien Cheerleader der freien Marktwirtschaft, ausdrücklich nicht zu. Es ist zwar vermutlich so, daß der durchschnittliche Ökonom die Funktionsweise des Preismechanismus insgesamt positiver beurteilt als der durchschnittliche Bürger (ich denke, darauf wollte Friedrich Breyer, der in diesem Zusammenhang ebenfalls von Thielemann zitiert wird, heraus). Das liegt vielleicht einfach daran, daß Ökonomen sich damit länger und gründlicher beschäftigt haben. Schlägt man allerdings ein typisches, wohlfahrtsökonomisch geprägtes Lehrbuch der Wirtschaftspolitik auf, so wird man mit einer nicht enden wollenden Liste möglicher Marktversagenstatbestände konfrontiert, sowie mit Vorschlägen, wie eine fähige und wohlwollende Regierung diese korrigieren könnte. Der Vorwurf der blinden Marktgläubigkeit an den Mainstream der Volkswirtschaftslehre basiert auf Klischees und Vorurteilen schlecht informierter Kritiker – oder solcher, die absichtlich etwas flunkern, damit sie ihr neuestes Buch mit einem knackigeren Klappentext bei der Occupy-Bewegung besser verkaufen können.
Im ersten Kommentar hatte ich Ulrich Thielemann ja schon einmal gefragt, ob er an einer aktuellen Ausgabe des American Economic Review die methodische Gleichschaltung und die Marktgläubigkeit der Ökonomen demonstieren könnte. Leider ist er nicht weiter darauf eingegangen. Ich sehe jedenfalls beim besten Willen in keinem der großen Journals das überwiegen, was Thielemann als ökonomistische Ökonomik beschreibt. Wenn jemand eine wissenschaftliche Disziplin grundlegend verändern will, dann steht er, so meine ich, in einer Bringschuld zu zeigen, daß es das Übel, welches er behauptet, auch wirklich gibt. Leider sehe ich hier aber nur Behauptungen, während die Inhalte der großen Journals ein ganz anderes Bild abgeben. Von anderen, hoch angesehenen und ausdrücklich heterodoxe Beiträge ermunternden Zeitschriften wie etwa dem Journal of Economic Behaviour and Organization gar nicht zu reden.
Niemand bestreitet, daß es in der Volkswirtschaftslehre wie in allen anderen Disziplinen schwierig ist, mit ganz neuen Ansätzen gleich in die besten Zeitschriften zu kommen. Das liegt schon in der Natur des peer review, das eine natürliche Hürde für Neues ist, aber in allen Wissenschaften zum Publikationsverfahren gehört und kaum zu ersetzen ist. Oder möchte Thielemann es durch ein anderes Verfahren ersetzen? Wenn ja, durch welches? Wie auch immer: Die Erfahrung zeigt, daß neue Ansätze auch diese Hürde nehmen können – die experimentelle Wirtschaftsforschung, die Verhaltensökonomik oder die Neue Politische Ökonomie sind Beispiele dafür. Wieso schaffen es andere Ansätze nicht? Liegt es wirklich an einer wissenschaftlichen Kartellbildung? Könnte es auch an diesen Ansätzen selbst liegen? Ist peer review in der Ökonomik wirklich mit größeren Problemen behaftet als in anderen Disziplinen? Und wieso? Es sind diese praktischen Fragen, bei denen die Butter aufs Brot müßte, zu denen das Memorandum und seine Autoren wenig sagen. Aber welchen Wert hat eine Anklageschrift ohne Beweisführung?
Ulrich Thielemann antwortet auf Jan Schnellenbach:
http://www.mem-wirtschaftsethik.de/memorandum-2012/repliken/wirtschaftliche-freiheit-ii/
„… Now, is it that we have to change our theories radically with respect to their behavioral structure or even switch to a new behavioral framework? There is very little evidence that would support such a move. …“ Garry S. Becker in dem Interview „The potentials and limitations of rational choice theory“