Herr Rettig, wer wird Fußball-Europameister 2012?
Andreas Rettig: Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Außerdem bin ich parteiisch. Als Fan tippe ich auf Deutschland. Wenn man sich die Dominanz der Spanier bei den letzten Turnieren vor Augen hält, komme ich allerdings etwas ins Grübeln. Eine Neuauflage des EM-Finales gegen Spanien kann ich mir in jedem Fall gut vorstellen. Dann hilft nur noch: Daumen drücken!
Blicken wir mal etwas weiter in die Zukunft. Welche Nationen werden solche Turniere im Jahr 2050 dominieren?
Rettig: Es ist schwierig, so weit in die Zukunft zu blicken. Vielleicht hilft ein Rückblick. Um die Jahrtausendwende war Frankreich als Welt- und Europameister der fußballerische Nabel der Welt. Das lag daran, dass die Franzosen frühzeitig sehr viel Geld sinnvoll in den Nachwuchs investiert und dafür irgendwann die Früchte geerntet haben.
Anders als Deutschland seinerzeit?
Rettig: Richtig, Deutschland lag damals am Boden, was Nachwuchs und Nationalmannschaft betraf. Deshalb haben der Deutsche Fußball-Bund und die Deutsche Fußball Liga die Vereine zu ihrem Glück gezwungen. Es wurden Leistungszentren ins Leben gerufen und die Klubs zu bestimmten Fördermaßnahmen verpflichtet. Das war für mich der entscheidende Impuls für die spätere Entwicklung. Der Fundus, aus dem der Bundestrainer die späteren Topspieler rekrutiert, ist mittlerweile riesig. Auf die Zukunft gemünzt bedeutet dies, dass die Länder, die heute die Weichen in der Nachwuchsarbeit stellen, eines Tages davon profitieren werden.
An welche Nationen denken Sie dabei?
Rettig: In Asien dürften China und Japan spätestens in zwanzig bis dreißig Jahren vorne mitmischen. In hiesigen Breitengraden könnte ich mir gut vorstellen, dass Russland früher oder später eine große Rolle spielt. Afrika kann ich noch nicht so dezidiert beurteilen, aber auch hier werden sich Kapital und Know-how eines Tages bemerkbar machen.
Vieles spricht also dafür, dass sich die einwohnerstarken und wirtschaftlich starken Länder in einer globalisierten und vernetzten Welt auch im Fußball zunehmend durchsetzen.
Rettig: Davon gehe ich aus. Auch in den USA bewegt sich im Soccer derzeit viel. Dort ist man mittlerweile bereit, von Grund auf in den Nachwuchs zu investieren. Dass sportlicher und wirtschaftlicher Erfolg zusammenhängen, sieht man auch im nationalen Fußball. Dort ist die Tabelle im Trend ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, auch wenn der SC Freiburg und der VfL Bochum vielleicht mal als Ausreißer den Sprung in den Europapokal schaffen – oder der FC Augsburg den Klassenerhalt in der Bundesliga.
Die Abhängigkeit zwischen der Stärke der nationalen Topliga und der Nationalmannschaft scheint indes weniger stark ausgeprägt zu sein…
Rettig: Bei England gebe ich Ihnen Recht. In Deutschland und Spanien sieht es heute anders aus. In Russland könnte ich mir wiederum vorstellen, dass der politisch forcierte Erfolg der Nationalmannschaft irgendwann über die relative Stärke der nationalen Topliga hinausgeht.
Im Gegensatz dazu wird immer behauptet, dass die Fußballzwerge aus kleineren Ländern aufgeholt haben. Wie passt das zusammen?
Rettig: Das muss kein Widerspruch sein. Paradebeispiel ist für mich die Schweiz, die vor einigen Jahren ein kluges Rezept in die Wege geleitet und zwei entscheidende Faktoren in den Fokus gerückt hat: Die Qualität der Trainer und die Nachwuchsförderung. Dadurch ist es den Eidgenossen gelungen, eine Nationalmannschaft auf die Beine zu stellen, die durchaus mit großen Fußball-Nationen mithalten kann. Wenn aber wirtschaftlich starke und bevölkerungsreiche Volkswirtschaften auch auf diesen Trichter kommen, haben sie langfristig definitiv einen Vorteil.
Welche Erwartungen haben Sie darüber hinaus an die Europameisterschaft?
Rettig: Die Investitionen anlässlich der WM 2006 waren ein Segen für Deutschland. Wir profitieren noch heute davon, dass 3,5 Milliarden Euro in die Infrastruktur investiert worden sind, übrigens auch an Standorten, die keinen Zuschlag erhalten haben. Ähnliches erwarte ich auch für Polen und die Ukraine. Die neuen Autobahnen, Hotels und Stadien sind bleibende Werte, von denen die beiden Volkswirtschaften auch nach Ende des Turniers profitieren. Mir fallen auf Anhieb nicht viele Wirtschaftszweige ein, die innerhalb kürzester Zeit einen solchen Investitionsboom auslösen können und spürbare Verbesserungen für die Bevölkerung mit sich bringen. Auch kann der Fußball politische Themen in den Vordergrund rücken wie beispielsweise derzeit in der Ukraine die Situation um Julija Tymoschenko.
Was ist denn noch spezifisch für den Fußball im Vergleich zu einer anderen Branche wie dem Maschinen- und Anlagenbau?
Rettig: Für mich liegt der größte Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung und dem Mediendruck. In der Fußball-Bundesliga ist jeden Samstag nach dem Abpfiff durch den Schiedsrichter allerorten Bilanz-Pressekonferenz. Dann geht das rote Licht der Kamera an und wir müssen das eben Erlebte erklären, was wir ohnehin nicht vollständig können. Ein Unternehmen aus der Wirtschaft hat dagegen lediglich einmal im Jahr Hauptversammlung, bei der dem Vorstand die Antworten auf sämtliche potenzielle Fragen der Aktionäre vorbereitet werden. Ein 14-Jähriger kann Ihnen in der Regel jeden Spieler aus dem Kader von Bayern München aufzählen, aber den Bundespräsidenten kennt er nicht.
Inwiefern unterscheidet sich das Managen eines Fußballklubs vom Führen eines Unternehmens aus der freien Wirtschaft?
Rettig: Fußball-Manager haben sehr viele Entscheidungsträger um sich herum, die sich nur in ihren eigenen engen Vertragslaufzeiten verantwortlich fühlen. Wenn es dem Verein während eines geöffneten Transferfensters schlecht geht, werden die Millionen raus gepfeffert, weil man am Ende aller Tage seinen eigenen Job retten will und nicht daran denkt, ob die Saat in zwei oder drei Jahren aufgeht.
Wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?
Rettig: Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Ich war vier Jahre in Köln in der Verantwortung und dort als Sparminister verschrien, der nur das vorsichtige Haushalten im Auge hat. Kurz nachdem der FC in der Bundesliga auf einen Abstiegsplatz abgerutscht war, hat eine sehr emotionale Mitgliederversammlung stattgefunden. Währenddessen hat sich ein Vereinsmitglied ans Mikrofon gestellt und mir folgende Rechnung aufgemacht:`Wenn der 1. FC Köln absteigt, verliert er viele Millionen an TV-Geldern, viele Millionen an Zuschauereinnahmen und viele Millionen an Sponsoren-Erlösen. In der Summe sind das rund 18 Millionen Euro. Herr Rettig, es ist jetzt die einzig richtige Entscheidung, mindestens neun Millionen Euro zu investieren und damit den Klassenerhalt zu sichern.` Die 2.000 Anwesenden im Saal haben gejohlt.
Was haben Sie ihm daraufhin geantwortet?
Rettig: Die Zahlen waren nah an der Wahrheit. Aber, habe ich erwidert, die Konkurrenten aus Bielefeld, Bochum und Rostock sind auch nicht blöd und werden die gleiche Rechnung aufmachen. Wenn wir alle neun Millionen Euro für neue Spieler investieren würden, würde dann keiner von uns absteigen?
Doch, natürlich. Folglich hat der Manager die Aufgabe, das Unmögliche möglich zu machen?
Rettig: Die wichtigste Position im Verein ist für mich immer noch die des Trainers. Aber was die unternehmerische Nachhaltigkeit, Perspektive und Struktur angeht, ist der Geschäftsführer das Maß aller Dinge. Da lässt der eine oder andere Manager oftmals die Verantwortung für die mittelfristige Ausrichtung vermissen. Gleichzeitig fällt auf, dass fast alle Vereine, die auf dieser Position eine Kontinuität vorweisen können, erfolgreich sind. Die besten Beispiele sind für mich Bayern München und Werder Bremen. Eine Ebene tiefer sehe ich den SC Freiburg und den FSV Mainz als sehr gut geführte Klubs. All diesen Vereinen ist gemeinsam, dass sie auf Ebene der Entscheidungsträger eine gewisse Kontinuität von 15 bis 20 Jahren vorweisen können.
Für die Trainer scheint dieser Zusammenhang nicht zu gelten. Jedenfalls werden sie deutlich häufiger ausgetauscht als das Management. Woran liegt das?
Rettig: Auf dieser Position greift der sogenannte Verschleiß-Tatbestand häufiger.
Das behaupten zumindest die Manager.
Rettig: Nein, es ist auch tatsächlich so. Die Arbeit zwischen Manager und Trainer unterscheiden sich auf der Zeitachse. Der Manager ist für die mittelfristige Ausrichtung des Klubs zuständig, der Trainer verantwortet hingegen das tägliche Geschäft in der Gegenwart. Beim Trainer wird folgerichtig früher der Strich gezogen, weil die Arbeit, anders als beim Manager, nach jedem Spieltag bewertet wird. Der FC Augsburg hat im Übrigen als einziger Klub des hinteren Drittels in der vergangenen Saison nicht den Trainer gewechselt.
Sie waren sechs Jahre lang Manager des FC Augsburg, zuvor in gleicher Position beim 1. FC Köln und SC Freiburg. Am 1. Januar 2013 werden Sie die Seite wechseln und Nachfolger von Holger Hieronymus als DFL-Geschäftsführer. Was hat Sie als Manager vergleichsweise kleiner Vereine immer wieder aufs Neue motiviert?
Rettig: Der Nicht-Abstieg in der Bundesliga unter solchen Bedingungen ist doch schon eine Leistung, die sich sehen lassen kann. Es gibt gut 26.000 Fußball-Vereine in Deutschland, aber nur 18 Bundesligisten. Für mich definiert sich die Job-Zufriedenheit nicht nur an der Tabelle, sondern indem, was man auf den Weg bringt. In Augsburg ist in den letzten sechs Jahren sehr viel entstanden: Ein tolles Stadion, der Bundesliga-Klassenerhalt, Aufstiege von Jugendmannschaften in die höchsten Klassen und solide Finanzen mit schwarzen Zahlen. Ich glaube zudem, dass Augsburg als sympathischer Underdog wahrgenommen wird, der nicht polarisiert. Da kann ich zufrieden auf meine Zeit in Augsburg zurückblicken und mir ein Kölsch gönnen.
Das Gespräch führte Jörg Rieger.
Hinweis: Die Langfassung des Interviews lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift WiSt (06/2012).
Andreas Rettig ist designierter DFL-Geschäftsführer.