Am 22. Mai 2018 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Der Euro darf nicht in eine Haftungsunion führen“ ein von über 150 Professoren unterzeichneter Aufruf, der von den Professoren Thomas Mayer (Flossbach von Storch Research Institute), Dirk Meyer (Helmut-Schmidt-Universität), Gunther Schnabl (Universität Leipzig) und Roland Vaubel (Universität Mannheim) initiiert worden war. Er wurde von Phillip Plickert und Werner Mussler ausführlich kommentiert. Zu den Unterstützern gehörten unter anderen der langjährige Präsident des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn und der frühere EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark.
Der Aufruf richtete sich gegen Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und des Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker, neue Budgets zur Finanzierung von Eurokrisenstaaten einschließlich eines europäischen Finanzministers zu schaffen, die nationalen Einlagensicherungssysteme zu vergemeinschaften und den europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem Europäischen Währungsfonds ohne Kontrolle der nationalen Parlamente auszubauen. Wenn mit der Haftung ein grundlegendes marktwirtschaftliches Prinzip ausgehöhlt würde, würden die Bürger Europas unter sinkendem Wohlstand leiden.
Der Aufruf gehörte an dem Tag zu den meist gelesenen Beiträgen in der FAZ, der sich schnell in der deutschen Presselandschaft und den sozialen Medien verbreitete. Das Handelsblatt titelte „Warnung vor der Haftungsunion – Wirtschaftsprofessoren schlagen Alarm“. Auch die Welt, die Zeit und das Wallstreet Journal Online berichteten. Eine große Anzahl von kleineren Zeitungen und Online-Medien nahm die Berichte auf. Die Deutsche Welle stellte in einem Interview mit Roland Vaubel die Frage, wie lange sich die Politik noch gegen die ökonomischen Realitäten stemmen könne.
Über Deutschland hinaus verbreitete sich der Aufruf in ganz Europa, insbesondere in Österreich, der Schweiz, Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Der Standard berichtete ausführlich über die Kritik der Professoren einschließlich der Kritik an dem Aufruf. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte, dass Ökonomen, die auf Einheit von Handeln und Haftung pochten, sich nicht verstecken müssten. Im Vereinigten Königreich meldete die Financial Times unter dem Titel „German Economists Join Forces against Eurozone Reform“. City A. M. titelte „German economists slam Emmanuel Macron’s Eurozone reforms“ und Reuters betonte anlässlich des Aufrufs die hohen Risiken, die von Macrons Plänen ausgingen. Der Economist nannte den Aufruf in einem Beitrag über wachsende Spannungen zwischen Merkel und Macron. Der japanische Fernsehsender NHK und der französische Canal+ ließen jüngst Thomas Mayer den Aufruf für ihr Publikum erläutern.
Die Kritik kam über die sozialen Netzwerke. Der Präsident des DIW, Marcel Fratzscher, twitterte, dass durch den Widerstand der Euro gefährdet würde. Europa würde in eine tiefe Depression geführt. Die Wirtschaftsweise Isabell Schnabel (Universität Bonn) betonte, dass viele Professoren das anders sähen, während Jan Pieter Krahnen (Universität Frankfurt) von „simplen schwarz-weiß Argumenten“ sprach. Der Präsident des Instituts der deutschen Wirtschaft, Micheal Hüther, entgegnete in der Welt unter dem Titel „Ökonomen stellen sich in der Eurodebatte dumm“, dass die geäußerten Befürchtungen übertrieben seien. Strukturreformen anzumahnen klinge zwar gut, aber es würden keine Alternativen aufgezeigt.
Die FAZ erfragte die Reaktionen der politischen Parteien. Eckhardt Rehberg, haushaltspolitischer Sprecher der CDU, machte deutlich, dass man mehr Europa wolle, aber nicht um den Preis von verwässerten Verantwortlichkeiten. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Achim Post, entgegnete, dass lieber Gestaltungsperspektiven aufgezeigt werden sollten als Zweifel aller Art aufzulisten. Nach Christian Dürr von der FDP-Fraktion dürften Hilfen in der Eurozone nur die Ultima Ratio sein, es dürfe aber keine Vergemeinschaftung von Schulden geben. Die AFD-Abgeordnete Beatrix von Storch twitterte, dass Anruf zwar spät komme, aber zu begrüßen sei.
Im Lichte der Entwicklungen in Italien ist der Aufruf auch nach vier Wochen nicht verhallt. Andreas Freytag (Universität Jena) erklärte am 24. Mai in der Wirtschaftswoche, warum die ordnungspolitische Dimension der Eurozone unterschätzt würde. Gunther Schnabl spezifizierte am 30. Mai im Ökonomenblog die bereits im Aufruf angeführten Alternativen zur Haftungsunion. Der frühere Chefvolkswirt der EZB, Otmar Issing, stellte am 14. Juni in der Süddeutschen Zeitung klar, dass eine Währungsunion nur dann funktioniere, wenn jedes Land für seine eigenen Fehler hafte. Am 21. Juni 2018 bezweifelte der niederländische Finanzminister Wopke Hoekstra, dass es einen klaren Grund für ein gemeinsames Budget gebe. In der FAZ vom 25. Juni 2018 argumentierte Axel Dreher (Universität Heidelberg) mit Verweis auf den Aufruf, dass Bürokratien wie der IWF und die Weltbank ein Eigenleben im Interesse der größten Finanziers entwickeln würden, was gegen einen Europäischen Währungsfonds spreche.
In dieses Umfeld fällt die Meseburger Erklärung der Bundesregierung, die Verhandlungsergebnisse eines Treffens von Angela Merkel und Emmanuel Macron am 20. Juni zusammenfasst. Die Erklärung hält das Bekenntnis zur Fortentwicklung des ESM zu einem Europäischen Währungsfonds, einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung, sowie zu einem gemeinsamen Haushalt für die Eurozone aufrecht. Allerdings sind zahlreiche Bedingungen formuliert. In der CDU/CSU formiert sich derweil Gegenwind. Ob es zu der von Emmanuel Macron und Jean-Claude Juncker angestrebten vertieften europäischen Wirtschafts- und Währungsunion kommen wird, scheint deshalb ungewisser als vor dem Aufruf. Die anfängliche Besorgnis, dass auch dieser Aufruf wie andere Professorenaufrufe zuvor ohne Wirkung bleiben werden, hat sich zumindest nicht bewahrheitet.
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AUFRUF: DER EURO DARF NICHT IN DIE HAFTUNGSUNION FÜHREN
Wir – 154 Wirtschaftsprofessoren – warnen davor, die europäische Währungs- und Bankenunion noch weiter zu einer Haftungsunion auszubauen. Die in der Berliner Koalitionsvereinbarung erwähnten Vorschläge des französischen Präsidenten Macron und des EU-Kommissionschefs Juncker bergen hohe Risiken für die europäischen Bürger.
- Wenn der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wie geplant als Rückversicherung für die Sanierung von Banken (Backstop) eingesetzt wird, sinkt für Banken und Aufsichtsbehörden der Anreiz, faule Kredite zu bereinigen. Das geht zu Lasten des Wachstums und der Finanzstabilität.
- Wenn der ESM wie geplant als „Europäischer Währungsfonds“ (EWF) in EU-Recht überführt wird, gerät er unter den Einfluss von Ländern, die der Eurozone nicht angehören. Da einzelne Länder bei dringlichen Entscheidungen des EWF das Vetorecht verlieren sollen, könnten Gläubigerländer überstimmt werden. So würde zum Beispiel der Deutsche Bundestag sein Kontrollrecht verlieren.
- Wenn die Einlagensicherung für Bankguthaben wie geplant vergemeinschaftet wird, werden auch die Kosten der Fehler sozialisiert, die Banken und Regierungen in der Vergangenheit begangen haben.
- Der geplante europäische Investitionsfonds zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung und der geplante Fonds zur Unterstützung struktureller Reformen dürften zu weiteren Transfers und Krediten an Euroländer führen, die es in der Vergangenheit versäumt haben, die notwendigen Reformmaßnahmen zu ergreifen. Es wäre falsch, Fehlverhalten zu belohnen. Über das Interbankzahlungssystem TARGET2 hat Deutschland bereits Verbindlichkeiten der EZB in Höhe von mehr als 900 Milliarden Euro akzeptiert, die nicht verzinst werden und nicht zurückgezahlt werden müssen.
- Ein Europäischer Finanzminister mit Fiskalkapazität würde als Gesprächspartner der EZB dazu beitragen, dass die Geldpolitik noch stärker politisiert wird. Die sehr umfangreichen Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (2550 Milliarden Euro bis September 2018) kommen schon jetzt einer Staatsfinanzierung über die Zentralbank gleich.
Das Haftungsprinzip ist ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Die Haftungsunion unterminiert das Wachstum und gefährdet den Wohlstand in ganz Europa. Dies zeigt sich bereits jetzt in einem sinkenden Lohnniveau für immer mehr, meist junge Menschen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich auf die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zurückzubesinnen.
Es gilt, Strukturreformen voranzubringen, statt neue Kreditlinien und Anreize für wirtschaftliches Fehlverhalten zu schaffen. Die Privilegierung der Staatsanleihen in der Risikovorsorge der Banken ist abzuschaffen. Die Eurozone braucht ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten und ein geordnetes Austrittsverfahren. Die Kapitalmarktunion sollte vollendet werden – auch weil internationale Kapitalbewegungen asymmetrische Schocks kompensieren. Bei der EZB sollten Haftung und Stimmrechte miteinander verbunden werden. Die TARGET-Salden sind regelmäßig zu begleichen. Die Ankäufe von Staatsanleihen sollten ein schnelles Ende finden.
Unterzeichner:
Hanjo Allinger, Rainer Alt, Peter Altmiks, Niels Angermüller, Gerhard Arminger, Philipp Bagus, Hartwig Bartling, Christian Bauer, Alexander Baumeister, Dirk Baur, Hanno Beck, Peter Bernholz, Norbert Berthold, Dirk Bethmann, Ulrich Blum, Christoph Braunschweig, Gerrit Brösel, Martin-Peter Büch, Walter Buhr, Rolf Caesar, Ronald Clapham, Erich Dauenhauer, Frank Daumann, Dietrich Dickertmann, Leef Dierks, Gerd Diethelm, Alexander Dilger, Juergen B. Donges, Norbert Eickhof, Alexander Eisenkopf, Mathias Erlei, Rolf Eschenburg, Stefan Felder, Robert Fenge, Cay Folkers, Siegfried Franke, Jan Franke-Viebach, Michael Frenkel, Andreas Freytag, Wilfried Fuhrmann, Werner Gaab, Gerhard Gehrig, Thomas Glauben, Frank Gogoll, Robert Göötz, Christiane Goodfellow, Rüdiger Grascht, Alfred Greiner, Heinz Grossekettler, Andrea Gubitz, Gerd Habermann, Hendrik Hagedorn, Gerd Hansen, Rolf Hasse, Klaus-Dirk Henke, Henner Hentze, Thomas Hering, Bernhard Herz, Stefan Hoderlein, Stephan Hornig, Guido Hülsmann, Jost Jacoby, Hans-Joachim Jarchow, Thomas Jost, Markus C. Kerber, Henning Klodt, Michael Knittel, Leonard Knoll, Andreas Knorr, Manfred Königstein, Ulrich Koester, Stefan Kooths, Walter Krämer, Dietmar Krafft, Rainer Künzel, Britta Kuhn, Werner Lachmann, Enno Langfeldt, Andreas Löhr, Tim Lohse, Helga Luckenbach, Reinar Lüdeke, Dominik Maltritz, Gerald Mann, Thomas Mayer, Dirk Meyer, Joachim Mitschke, Renate Neubäumer, Renate Ohr, Michael Olbrich, Max Otte, Werner Pascha, Hans-Georg Petersen, Wolfgang Pfaffenberger, Ingo Pies, Werner Plumpe, Mattias Polborn, Thorsten Polleit, Niklas Potrafke, Bernd Raffelhüschen, Bernd-Thomas, Ramb, Richard Reichel, Hayo Reimers, Stefan Reitz, Rudolf Richter, Wolfram F. Richter, Gerhard Rösl, Roland Rollberg, Alexander Ruddies, Gerhard Rübel, Dirk Sauerland, Karlhans Sauernheimer, Stefan Schäfer, Wolf Schäfer, Malcolm Schauf, Bernd Scherer, Jörg Schimmelpfennig, Ingo Schmidt, Dieter Schmidtchen, Michael Schmitz, Gunther Schnabl, Jan Schnellenbach, Bruno Schönfelder, Siegfried Schoppe, Jürgen Schröder, Christian Schubert, Alfred Schüller, Peter M. Schulze, Thomas Schuster, Christian Seidl, Hans-Werner Sinn, Fritz Söllner, Peter Spahn, Jürgen Stark, Wolfgang Ströbele, Stefan Tangermann, H. Jörg Thieme, Stefan Traub, Dieter Tscheulin, Ulrich van Suntum, Roland Vaubel, Stefan Voigt, Hermann von Laer, Hans-Jürgen Vosgerau, Adolf Wagner, Heike Walterscheid, Gerhard Wegner, Rafael Weißbach, Heinz-Dieter Wenzel, Max Wewel, Hans Wielens, Otto Wiese, Rainer Willeke, Manfred Willms, Dietrich Winterhager, Michael Wohlgemuth, Hans-Werner Wohltmann, Achim Zink
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Vom Professorenaufruf zur Meseburger Erklärung“