Gastbeitrag
Negativ-Zinsen: Wer ist schuld?

Viele Zentralbanken erklären die niedrigen oder negativen Anleihenrenditen mit einer Sparflut. Faktoren wie die Alterung der Gesellschaft sorgten weltweit für mehr Ersparnisse und eine höhere Nachfrage nach Anleihen. Die Zentralbanken vollzögen diesen Renditerückgang mit ihren Leitzinsen nur nach und seien insofern unschuldig an dem Niedrigzinsumfeld. Wir zeigen, welche Fehler die Vertreter dieser Denkschule machen und dass am Ende eine Schuldenfalle droht, die die EZB zu einer dauerhaft lockeren Geldpolitik zwingen könnte.

Was ist der natürliche Zins?

Vertreter der These von der Sparflut argumentieren mit dem sogenannten natürlichen Zins. Dieser Begriff geht auf den schwedischen Ökonomen Knut Wicksell (1851 – 1926) zurück, der damit den inflationsbereinigten oder realen Zins bezeichnet, der eine Volkswirtschaft ins Gleichgewicht bringt, also für Vollbeschäftigung und Preisstabilität sorgt. Um diesen gleichgewichtigen Realzins (erhöht um die Inflationserwartungen) schwanken die Zinsen am Kapitalmarkt, in der Terminologie Wicksells die sogenannten Marktzinsen. Der natürliche Zins wird für den Markt als eine Art Gravitationszentrum gesehen.

Heutzutage orientieren sich auch die Zentralbanken an Schätzungen des natürlichen Zinses. Ist eine Volkswirtschaft im Konjunkturabschwung, versuchen sie, ihren Leitzins unter den natürlichen Zins (erhöht um die angestrebte Inflationsrate) zu setzen, um die Volkswirtschaft mit einer lockeren Geldpolitik zu stabilisieren. Ist der natürliche Zins nicht stabil, sondern fällt er (aus welchen Gründen auch immer), benötigt eine Zentralbank bei gegebener Konjunktur einen niedrigeren Leitzins. Sie sollte den Rückgang des natürlichen Zinses mit ihrem Leitzins nachvollziehen, weil er ansonsten zu hoch wäre und die Konjunktur abwürgen würde. Insofern treffe die Zentralbanken keine Schuld an den seit Jahren schon niedrigen und zuletzt negativen Kapitalmarktzinsen.

Warum soll der natürliche Zins gefallen sein?

Der ehemalige amerikanische Zentralbankpräsident Ben Bernanke hat sich bereits 2005 hinter die Idee gestellt, dass der natürliche Zins deutlich gefallen sei. [1] Er machte dafür eine globale Ersparnisflut verantwortlich. Den Anhängern dieser These zufolge führten Faktoren wie die Alterung der Gesellschaft dazu, dass die Menschen mehr für das Alter sparen, mehr Anleihen nachfragen und deren Renditen so drücken. Der Trend zu mehr Sparen gehe auch auf den zunehmenden Anteil reicher Haushalte zurück, weil diese eine sehr hohe Sparquote haben. Gleichzeitig ginge die Nachfrage nach Kapital zurück, etwa weil die Preise für Kapitalgüter fielen und Unternehmen weniger für Investitionen ausgeben müssten. Rückläufige staatliche Investitionen dämpften die Nachfrage nach Kapital zusätzlich. In der Folge jagten immer mehr Ersparnisse immer weniger Investitionsmöglichkeiten hinterher, so dass der natürliche Zins sinke.

Das alles ist nicht falsch. Aber erklärt ein Ersparnisüberhang wirklich alleine den massiven Rückgang der Realzinsen, der in den zurückliegenden dreißig Jahren zu beobachten ist? Empirische Studien wollen dies zeigen, basieren aber auf problematischen Annahmen.

Zentralbanken tragen zum Rückgang des natürlichen Zinses bei

Eine Möglichkeit, den Rückgang des natürlichen Zinses zu quantifizieren, ist die Schätzung einer Spar- und einer Investitionskurve, deren Schnittpunkt den natürlichen Zins als Marktgleichgewicht bestimmt (Punkt A in Grafik 1). Nimmt etwa wegen der Alterung der Gesellschaft das Sparen für den Ruhestand zu, verschiebt sich die Sparkurve nach rechts. Bei einem unveränderten Realzins übersteigt die Ersparnis die Investitionen (Strecke AB). Die Überschussersparnis lässt den Realzins so lange sinken, bis die Ersparnis so weit gefallen und die Investitionen so weit gestiegen sind, dass sie wieder übereinstimmen (Punkt C).

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Wie stark der natürliche Zins zurückgeht, hängt wesentlich von der unterstellten Reaktion der Ersparnisse und der Investitionen auf den Realzins ab. Reagieren beide nur wenig auf einen Rückgang des Realzinses, muss dieser stark fallen, um ein neues Gleichgewicht herbeizuführen. Aber das Ausmaß dieser Reaktionen (Ökonomen sprechen von Elastizitäten) ist empirisch schwer zu bestimmen; die Schätzungen gehen weit auseinander. Das gilt auch für die Frage, wie stark etwa die Ersparnisse auf die Alterung reagieren. Es ist nicht schwer, die Elastizitäten gerade so einzustellen, dass sich ein Großteil des in den zurückliegenden dreißig Jahren beobachteten Rückgangs des Realzinses mit Faktoren erklären lässt, die zur These der Sparschwemme passen. [2]

Aber dabei begehen die Anhänger der Sparflut-These einen entscheidenden Fehler. Der Realzins gleicht nämlich nicht nur die Nachfrage nach und das Angebot an physischem Kapital (Ersparnis, Investitionen) aus; wir leben schließlich nicht in einer realwirtschaftlichen Tauschwirtschaft. Vielmehr bieten in einer monetären Wirtschaft (wie es unsere ist) Banken Kredite an, die wegen der Kreditschöpfung aus dem Nichts nicht ausschließlich durch reale Ersparnisse gedeckt sind. Banken können also den Realzins auf Dauer unter den natürlichen Zins drücken. Das gleiche gilt für die EZB, die den Banken aus dem Nichts geschaffenes Zentralbankgeld überweist, indem sie ihnen Anleihen abkauft. [3] Im obigen Schaubild erhöhen die Anleihenkäufe der EZB die Ersparnis und senken den Realzins, ohne dass die Anhänger der Ersparnisflut diesen Einflussfaktor berücksichtigen. Das wäre nicht  weiter  schlimm, wenn die Käufe sehr gering wären. Aber die EZB hat im Euroraum bereits rund 25% aller Staatsanleihen erworben und hat auf ihrer Sitzung im September beschlossen, ihre Nettoanleihekäufe wieder aufzunehmen. Außerdem wird sie die Einnahmen aus fällig werdenden Anleihen noch lange reinvestieren. Die EZB dürfte wesentlich zum Rückgang des Realzinses beigetragen haben. Interpretiert sie den Rückgang des beobachteten Realzinses fälschlicherweise hauptsächlich als Rückgang des natürlichen Zinses, senkt sie ihren Leitzins zu weit. Sie verfolgt dann eine zu lockere Geldpolitik, mit der sie die Renditen vieler Anleihen in den negativen Bereich gedrückt hat.

Niedrige Inflation spricht nicht für gefallenen natürlichen Zins

Schätzt man den gleichgewichtigen Realzins nur mit dem Angebot an und der Nachfrage nach Realkapital, ignoriert man den Einfluss der Geldpolitik und exkulpiert die Notenbanker. Auf problematischen Annahmen basiert auch eine zweite Methode, um den natürlichen Zins empirisch zu bestimmen. Diese geht auf Thomas Laubach und John Williams zurück, zwei Ökonomen der US-Notenbank. [4] Diese unterstellen, dass eine unter dem Inflationsziel der Notenbank liegende Inflation von einer zu niedrigen Kapazitätsauslastung, also einer schlechten Konjunktur verursacht wird. Diese wiederum geht auf eine restriktive Geldpolitik zurück, die die Fed-Ökonomen an einem im Vergleich zum natürlichen Zins zu hohen Leitzins festmachen. In dieser Modellwelt geht eine niedrige Inflation immer darauf zurück, dass der Leitzins gemessen am natürlichen Zins zu hoch ist und so die Konjunktur und die Inflation abwürgt. Insofern wundert es nicht, dass der nach diesem Ansatz geschätzte natürliche Zins für den Euroraum mit seiner unter zwei Prozent liegenden Inflation häufig nahe oder sogar unter Null Prozent liegt. (Grafik 2)

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Aber solche Schätzungen des natürlichen Zinses basieren auf einem unrealistischen Inflationsmodell. Denn die Inflation wird mittlerweile weniger von heimischen Faktoren wie der Kapazitätsauslastung bestimmt. So liegt die Kerninflation gemessen am Deflator des privaten Verbrauchs in den USA unter dem Fed-Ziel von zwei Prozent, obwohl die Arbeitslosenquote äußerst niedrig ist. Offenbar wird die Inflation von Faktoren im Hintergrund niedrig gehalten – vor allem von globalen Wertschöpfungsketten und zunehmend von der Digitalisierung, die die Verhandlungsposition besonders älterer Arbeitnehmer schwächt. Zentralbanken wie die Fed oder die EZB interpretieren die niedrige Inflation fälschlicherweise als ein Indiz für einen gefallenen natürlichen Zins und senken in Reaktion darauf ihre Leitzinsen. Tatsächlich kämpfen sie jedoch eine unvermeidlich niedrige Inflation an.

Die EZB dreht sich im Kreis

Der natürliche Zins mag wegen eines globalen Ersparnisüberhangs gefallen sein. Der Rückgang des Realzinses ist aber mit verursacht durch Zentralbanken wie die EZB, die darauf mit einer weiteren Lockerung ihrer Geldpolitik reagiert. Zusätzlich lässt sie sich durch eine niedrige Inflation nervös machen, auf die sie aber nur begrenzt Einfluss hat. Sie ähnelt einer Katze, die ihrem eigenen Schwanz immer schneller hinterher jagt.

Was das Ganze für Investoren bedeutet

Je länger die Negativzinspolitik anhält, desto mehr gewöhnen sich Unternehmen und Staaten an niedrige oder gar negative Zinsen. Irgendwann können sie nicht mehr ohne sie überleben. Die Volkswirtschaft steckt dann in einer Schuldenfalle, wie die Volkswirte der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) es formuliert haben. Für die EZB wird es immer schwieriger, ihre Zinsen selbst bei einer wieder besseren Konjunktur zu erhöhen. Außerdem drohen wegen  der lockeren  Geldpolitik Blasen an  den Finanz-  und Immobilienmärkten, deren Platzen das Wirtschaftswachstum auf Jahre dämpft, worauf die EZB wieder mit einer geldpolitischen Lockerung reagieren könnte.

Für Anleger könnte all das Folgendes bedeuten:

  • Nach der Senkung des EZB-Einlagensatzes von -0,4 auf -0,5% dürfte dieser viele Jahre nicht steigen. Negative EZB-Zinsen bleiben Normalität.
  • Die EZB dürfte den Anteil der von ihr gehaltenen Staatsanleihen in den kommenden Jahren auf bis zu 50% hochfahren und danach nicht mehr wesentlich senken.
  • Die Renditen der meisten Bundesanleihen werden noch lange im negativen Bereich liegen.
  • Auf der verzweifelten Suche nach Erträgen werden die Anleger die Preise von Immobilien weiter nach oben treiben. Die Risikoaufschläge von Unternehmensanleihen dürften weiter fallen. Der Euroraum bleibt durch eine Vermögenspreisinflation geprägt.

Fußnoten:

[1] „The global saving glut and the U.S. current account deficit“, Federal Reserve Board, Sandridge Lecture, 10. März 2005.

[2] Ein gutes Beispiel ist die Studie „Secular drivers of the global real interest rate“, Bank of England, Staff Working Paper Nr. 571, Dezember 2015.

[3] Metzler, L.A., „Wealth, Saving, and the Rate of Interest. In: Journal of Political Economy, Vol. 59 (1951), S. 93 – 116.

[4] „Measuring the natural rate of interest“, The Review of Economics and Statistics, Vol. 85 (2003), No. 4, S. 1063 – 1070.

Blog-Beiträge zum Thema:

Gunther Schnabl: Negativzinsen unterwandern die marktwirtschaftliche Ordnung und das Vertrauen in den Staat

Stefan Schneider: Negativzinsen und ihre Wirkung auf die Menschen

Leonhard Knoll: Noch weniger als weniger als nichts … Noch stärkere Negativzinsen und die deutschen Geschäftsbanken

Uwe Vollmer: Im Reich der Negativzinsen

Uwe Vollmer: ‘Life Below Zero’ – Wie sinnvoll sind Negativzinsen der EZB?

2 Antworten auf „Gastbeitrag
Negativ-Zinsen: Wer ist schuld?“

  1. Man schaue doch bitte mal auf die deutschen Zahlen. Bei nominal Nullzins und real negativ haben wir seit Jahren ex post einen Überschuss der Geldvermögensbildung von ca. einer viertel Billion Euro pro Jahr. Und es ist nicht so, dass die Regale vom Ausland leer gekauft sind und die Leute deshalb unfreiwillig sparen (Verkäufermarkt). Man kann also zumindest für Deutschland einschätzen, dass ein Gleichgewichtszins mehrere Prozentpunkte unter der Null-Linie liegen müßte und nur durch Existenz hortbarem Bargeldes nicht umgesetzt werden kann. Dies bedeutet auch, dass es völlig falsch ist, die Zinspolitik der EZB Problemen in Südeuropa zuzuordnen. Deutschland hat das Problem, dass die Zinsen noch viel zu hoch sind, wenn man nicht den eigenen Staat nicht für Sparer ins Defizit treiben will. Und speziell die USA wird es sich kaum länger gefallen lassen, dass wir sie für unsere „Hochleistungshorter“ via Importdefizit verschulden. Deutschland hat gerade als Exportnation eine weltwirtschaftliche Verantwortung, welcher man nicht nachkommt. Wer nicht noch tiefere Zinsen mit Bargeldsanktionen will, muss alternative Wege erklären, wie inländische Sektoren das nötige Defizit für die Geldsparer machen.

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