Gastbeitrag
EU-Haushaltsregeln – bitte nicht noch weicher!

Frankreich und Italien wollen die EU-Haushaltsregeln aufweichen. Nötig ist das Gegenteil, damit die EZB handlungsfähiger wird und die Inflation nicht dauerhaft steigt.

Auf den ersten Blick sind die auf 108 Seiten beschriebenen Regeln für solide Staatsfinanzen der EU-Mitglieder nur etwas für Spezialisten.[1] Aber tatsächlich könnten die EU-Haushaltsregeln in den kommenden Jahren über das Schicksal der Währungsunion entscheiden. Denn erzwingen die Regeln keinen Rückgang der sehr hohen Staatsschulden, bliebe die Europäische Zentralbank (EZB) unter Druck, die Mitgliedsländer weiter mit negativen Leitzinsen und Anleihekäufe zu unterstützen. Der EZB wären die Hände gebunden. Sie könnte weder gegen die zuletzt massiv gestiegenen Inflationsrisiken vorgehen, noch gegen die seit Jahren gefährlich schnell steigenden Häuserpreise.

Frankreich und Italien wollen Haushaltsregeln aufweichen, …
Die von vielen EU-Staaten ungeliebten Regeln zur Begrenzung der Staatsverschuldung wurden zu Beginn der Pandemie außer Kraft gesetzt. Bevor sie Anfang nächsten Jahres wieder gelten, sollen sie überarbeitet werden. Die EU-Kommission wird ihre Pläne im Frühjahr präsentieren. Der französische Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi fordern bereits eine tiefgreifende Änderung der Haushaltsregeln. Die Staaten bräuchten mehr Handlungsspielraum. Aber die beiden Politiker setzen falsche Prioritäten. Das wahre Problem des Regelwerkes ist nicht zu wenig, sondern zu viel Flexibilität. Schließlich konnten sich viele Staaten über Jahre hinweg zu stark verschulden.

… obwohl es bereits viele Ausnahmen und Ermessensspielräume gibt
Wie lax die Haushaltsregeln schon heute sind, zeigt ihr präventiver Arm. Mit ihm will die EU mittelfristig ein um konjunkturelle Schwankungen bereinigtes Haushaltsdefizit von höchstens 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sicherstellen. Liegt die Defizitquote über diesem Schwellenwert, soll sie in jedem Jahr grundsätzlich um 0,5 Prozentpunkte gesenkt werden, bis das Ziel eines mittelfristig nahezu ausgeglichenen Haushalts erreicht ist. So weit so gut.

Allerdings gibt es zahlreiche Ausnahmen von diesem ohnehin nicht ehrgeizigen Konsolidierungspfad.[2] Dazu reichen schon geplante Reformen aus, auch wenn sie lediglich in Aussicht stellen, das künftige Wirtschaftswachstum und damit die Schuldentragfähigkeit eines Staates zu erhöhen. Auch können Investitionsausgaben von den Defiziten abgezogen werden, sofern sie durch EU-Mittel mitfinanziert werden.

Wenn ein Staat selbst ein so weichgespültes Konsolidierungsziel nicht erreicht, bedeutet das keineswegs automatisch eine Sanktion. Denn die EU-Kommission kann eine Verfehlung des Haushaltsziels als unerheblich einstufen, ohne dass es dafür konkrete Kriterien gäbe. Und selbst wenn die Kommission eine erhebliche Verletzung feststellen sollte, hätten am Ende die EU-Staats- und Regierungschefs das letzte Wort, die sich naturgemäß schwertun, einen der ihren an den Pranger zu stellen. Es wundert nicht, dass bisher noch kein Mitgliedsland sanktioniert wurde.

Ähnlich schwach ist der korrektive Arm der Haushaltsregeln, der nicht an den geplanten Haushaltsdefiziten ansetzt, sondern sich vor allem auf das tatsächliche Defizit des Vorjahres bezieht, das drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten soll. Auch hier wurden wegen zahlreicher Ausnahmen und Ermessensspielräume bisher noch keine Sanktionen verhängt, obwohl sich viele Staaten seit Einführung des Euros systematisch zu hoch verschuldet haben.

Reform muss das Regelwerk vereinfachen und verbindlich machen
Alles in allem kranken die EU-Haushaltsregeln daran, dass sie massiv aufgeweicht wurden. Es ist falsch, dass Frankreich und Italien noch mehr Flexibilität fordern. Wenn eine funktionierende Währungsunion als Gegenstück solide nationale Staatshaushalte benötigt, dann müssen die vielen Ausnahmen der Fiskalregeln ebenso zusammengestrichen werden wie politische Ermessensspielräume. Außerdem sollten nur wenige Haushaltskennziffern darüber entscheiden, ob sich ein Land an die Regeln hält oder bei Verstößen sanktioniert wird.

Im Zentrum sollte wie bei der Schuldenbremse unseres Grundgesetzes das um konjunkturelle Schwankungen bereinigte Haushaltsdefizit stehen. Skepsis ist dagegen bei dem Vorschlag angebracht, die Fiskalregeln auf für mehrere Jahre geplante Staatsausgaben zu beziehen. Die Gefahr ist groß, dass die Einnahmen überschätzt werden und die Ausgaben entsprechend zu lange zu schnell steigen, ohne das gegengesteuert werden kann. Über das Vereinfachen und Verbindlichmachen der Haushaltsregeln hinaus sind weitere Reformen denkbar:
• Erstens sollte die EU-Kommission nicht länger die zentrale Instanz zur Überwachung der Haushalte sein. Denn sie ist offenbar nicht gewillt, die Haushaltsregeln durchzusetzen. Nie wurde das deutlicher, als der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Ausnahmen für ein zu hohes französisches Haushaltsdefizit mit dem Satz „Weil es Frankreich ist“ rechtfertigte. Teil eines Reformpakts sollte deshalb sein, eine unabhängige europäische Haushaltsaufsicht mit der Überwachung der Regeln zu betrauen.

• Zweitens sollte im Rahmen der Haushaltsregeln eine aktive Konjunkturpolitik ermöglicht werden. Zwar erlauben die Regeln für konjunkturbereinigte Haushaltsdefizite Mehrausgaben, die bei einer schlechten Wirtschaftslage etwa wegen steigender Ausgaben zur Arbeitslosenunterstützung fällig werden. Aber viele Mitgliedsländer wollen über diese sogenannten automatischen Stabilisatoren hinaus Konjunkturpolitik betreiben. Damit die dafür notwendigen Mittel nicht zu noch höheren Schulden führen, sollten zuvor in guten Zeiten Rücklagen gebildet werden, um sie in konjunkturell schlechten Zeiten für eine Stabilisierung der Nachfrage zu verwenden.

• Drittens können Haushaltsregeln so gestaltet werden, dass sie Investitionen fördern. Politiker erhöhen nämlich häufig lieber Sozialausgaben, als in die Infrastruktur zu investieren, weil das regelmäßig auf den Prostest betroffener Bürger stößt und langatmige Genehmigungsverfahren erfordert. Diese Verzerrung zu Lasten der Investitionen könnte man dadurch mildern, dass im präventiven Arm der Fiskalregeln ein konjunkturbereinigtes Haushaltsdefizit von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nur dann erlaubt ist, wenn der Staat über die notwendigen Abschreibungen hinaus zumindest Investitionen in gleicher Höhe tätigt. Dieser auf die Bundesbank zurückgehende Vorschlag begrenzt bewusst die Höhe der anrechenbaren Investitionen.[3] Schließlich können staatliche Investitionen private Investitionen verdrängen, die in der Regel effizienter sind. Wichtig ist auch, nur echte staatliche Investitionen im Sinne der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu berücksichtigen und nicht etwa als Investitionen umetikettierte Konsumausgaben.

• Viertens sollten die Haushaltsregeln den Corona-Wiederaufbaufonds berücksichtigen. Dieser vergibt finanziert durch Schulden der EU nicht nur Kredite an die Mitgliedsstaaten, sondern leistet auch in großem Stil Zuschüsse. Diese Transferzahlungen aus Brüssel sind Einnahmen der Mitgliedsstaaten und senken deren Haushaltsdefizite. Aber ökonomisch ändern sie nichts an der Haushaltslage, weil die Staaten die EU-Transfers später wie Kredite zurückzahlen müssen – entweder durch höhere nationale Beiträge an den EU-Haushalt oder durch neue EU-Steuern, die die Bürger zu entrichten hätten. Im Rahmen der EU-Haushaltsregeln sollten die nationalen Haushaltsdefizite um die Brüsseler Transfers bereinigt werden.

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[1] EU-Kommission, „Vade Mecum on the Stability & Growth Pact“, 2019 edition.
[2] Eine gute Analyse der EU-Haushaltsregel gibt die Bundesbank, „Zur Ausgestaltung und Umsetzung der europäischen Fiskalregeln“, Monatsbericht, Juni 2017, S. 29 – 45. Hilfreich ist auch das Jahresgutachten 2021/22 des Sachverständigenrats, Seite 106 – 119.
[3] „Europäischer Stabilitäts- und Wachstumspakt: zu den einzelnen Optionen“, Bundesbank-Monatsbericht, April 2019, Seite 88.

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