Der Nationalstaat – Ein Auslaufmodell?
Regionen, Nationen und Überstaaten

Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.“ (Mark Twain)

Der Nationalstaat hat schon lange keine gute Presse mehr. Er wird von vielen mit Nationalismus in Verbindung gebracht. Nun haben sich auch noch rechte Populisten mit völkischen Ideen seiner bemächtigt. Damit ist er endgültig zum Schmuddelkind nationaler Eliten geworden. Sie prognostizieren seit langem den baldigen Tod des Nationalstaates. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis supranationale Institutionen an seine Stelle träten. Die Meinung in der Bevölkerungen ist allerdings eine andere. Eine große Mehrheit sieht im Nationalstaat eine präferierte Institution. Sie wünscht sich ausdrücklich eine nationalstaatliche Identität. Supra-nationale Institutionen, wie die Europäische Union, rangieren weit dahinter. Auch die Empirie spricht eine andere Sprache als die nationalen Eliten. Die Zahl der Staaten hat in den letzten Jahrzehnten weltweit sprunghaft zugenommen. Es kam zu vielen Sezessionen. Regionen spalteten sich ab, teils friedlich, teils gewaltsam. Aus ihnen wurden meist eigenständige (National)Staaten mit eigener Identität.

Schraubstock-These

Wirtschaftliche Integration führt zur politischen Desintegration. Das ist eine These des bekannten Harvard-Ökonomen Alberto Alesina. Der Nationalstaat gerate von zwei Seiten unter Druck. Er schrumpfe und Regionen würden selbständig. Wichtige Treiber sind offenere Märkte, weniger Kriege und mehr Demokratie. In der Blütezeit der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert beherrschten Protektionismus, Kriege und Diktaturen weltweit die politische Szene. Große Nationen boten größere ökonomische Märkte und mehr militärische Sicherheit. Der Preis war oft eine diktatorische Herrschaftsrente (Rainer Hank). Das alles änderte sich nach dem 2. Weltkrieg. Die ökonomischen Märkte wurden offener, es gab weniger kriegerische Auseinandersetzungen, Demokratien lösten vielerorts Diktaturen ab. Mit der Globalisierung verstärkten sich die ökonomischen Kräfte. Es war nun leichter möglich, ökonomische Vorteile auch außerhalb großer Nationen zu erzielen.

Der Prozess weltweit offenerer Märkte, friedlicherer Entwicklung und demokratischerer Entwicklung schrumpfte die Nationalstaaten. Die Nationalstaaten wurden zwar kleiner aber nicht weniger, ganz im Gegenteil. Eine wachsende Zahl von Sezessionen erhöhte die Menge an (National)Staaten. Die Zahl der Staaten stieg von 74 im Jahre 1946 auf 202 im Jahre 2018. Diese Entwicklung wurde durch das Verhalten der Regionen verstärkt. Große Nationalstaaten hatten zwar den Vorteil von höheren Erträgen großer wirtschaftlicher Räume. Sie litten aber unter dem „Nachteil“ erheblicher ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Unterschiede. Unter den Bedingungen weltweit offenerer Märkte konnten die Regionen diese Heterogenitäten ausleben. Meist wollten sie nur mehr Autonomie. Oft forderten sie aber auch einen eigenen Staat. Dann wollten sie sich vom „alten“ Nationalstaat trennen. Das geschah meist friedlich, bisweilen aber auch gewaltsam. Eine Fülle neuer (Klein- und Kleinst)Staaten entstand. Die Bürger dieser neuen staatlichen Gebilde sehen sich oft als eigenständige, souveräne Nationen mit eigener Identität.

Supra-nationaler Fehlschlag

Der Wunsch der nationalen Eliten, dass weltweit offenere Märkte die Nationalstaaten überflüssig machen würden, wurde bisher nicht Wirklichkeit. Zwar konnten nun auch kleinere Nationalstaaten die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung nutzen. Das gelang allerdings nur, weil ein weltweites Regelwerk für offenere Märkte sorgte. Garantierte private Eigentumsrechte, Vertragsfreiheit und freier Marktzugang zählen dazu. Ohne „gute“ Regeln funktionieren Märkte nicht (hier). Ein solches Regelwerk ist ein öffentliches Gut. Normalerweise verhindert Trittbrettfahrerverhalten, dass es effizient angeboten wird. Dieses Dilemma entschärfte der amerikanische Hegemon, der in der Nachkriegszeit wichtige Teile des Regelwerkes im eigenen Interesse anbot. Ab den 80er Jahren verstärkten weltweit sinkende Transaktionskosten den Globalisierungsschub noch. Das Ergebnis waren explodierende Sezessionen aber nicht das Ende des Nationalstaates.

Auch die Hoffnung mancher, dass supra-nationale Institutionen die Nationalstaaten ersetzen würden, hat sich nicht erfüllt. Solche schlagkräftigen Institutionen haben sich nicht entwickelt. Die USA sind ein „schrumpfender Gigant“ (Jagdish Bhagwati). Sie haben das Interesse und die Fähigkeit verloren, der Welt ein einigermaßen funktionsfähiges Regelwerk zur Verfügung zu stellen. Weltweit agierende supra-nationale Akteure, wie die WTO, der IWF, die Weltbank, siechen dahin. Die Länder müssten sich weltweit auf schlagkräftige Institutionen einigen. Das ist nicht in Sicht. Die Zahl der wichtigen Spieler hat sich mit Ländern wie China, Indien, Brasilien erhöht. Mit ihnen nahmen auch die heterogenen Interessen zu. Auch künftig müssen Nationalstaaten wohl nicht befürchten, von supra-nationalen Institutionen abgelöst zu werden. Allerdings führt die Erosion des weltweiten Regelwerkes für offene Märkte dazu, dass die Anreize zu Sezessionen zurückgehen werden. Der Höhepunkt der Bildung neuer (National)Staaten scheint überschritten.

Europäischer Sonderweg?

Der alte Traum von den „Vereinigten Staaten von Europa“ wird weiter geträumt. Auch die neue Präsidentin der EU-Kommission träumt ihn. Würde er Wirklichkeit, wären die Nationalstaaten in der Europäischen Union über kurz oder lang Vergangenheit. Tatsächlich ist der Trend zur Zentralisierung ungebrochen. Die Treiber dieser Entwicklung, die Roland Vaubel vor fast 30 Jahren aufgezeigt hat, wirken weiter[1]. Mit der Europäischen Währungsunion hat sich die Zentralisierung noch einmal beschleunigt. Die einheitliche Geldpolitik löst eine Harmonisierung der Fiskalpolitik aus. Nach der misslungenen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank verbreitet sich die Forderung wie ein Lauffeuer, nun müsse eine gemeinsame, expansive Fiskalpolitik die Aufgabe übernehmen, die Konjunktur in der Währungsunion zu stabilisieren. Geschieht dies, sind die Supra-Nationalisten ihrem Ziel, die Nationalstaaten zu entmachten, einen Schritt näher gekommen.

Es könnte allerdings auch anders kommen. Noch gibt es eine starke Fraktion der Mitgliedsländer der Europäischen Union, die der Idee eines „Europas der Vaterländer“ nachhängen. In der jüngsten Zeit hat sich eine Gruppe von Nationalstaaten in der Europäischen Union um Irland, die Niederlande, die baltischen Staaten und skandinavische Länder in der „Neuen Hanse“ („Hanse 2.0“) gegen Deutschland und Frankreich zusammengetan. Sie sind daran interessiert, dass die Mitgliedsländer der Europäischen Union auch künftig weiter das Sagen haben. Zweierlei liegt ihnen am Herzen. Zum einen wollen sie die vertikale Verteilung der Kompetenzen neu ordnen. Nur Aufgaben, die der EU einen Mehrwert bringen, sollen von der EU-Kommission verantwortet werden (hier). Zum anderen wollen sie Kompetenzen, die bisher effizienzverschlingend auf EU-Ebene liegen, auf die Nationalstaaten zurückverlagern. Ein weiterer Schritt wäre, dass die Staaten kritisch überprüfen, welche Aufgaben von ihren Regionen übernommen werden können.

Renaissance der Nationalstaaten?

Die Finanz- und Euro-Krise zeigten, dass es um die Schlagkraft supra-nationaler Institutionen nicht gut bestellt ist. Nicht der IWF, die G20, die G7 oder die EU-Kommission retteten die Weltwirtschaft und den Euro vor dem Absturz. Es waren die Nationalstaaten, die im Verbund mit den Notenbanken das Schlimmste verhinderten. Das Trauerspiel um die WTO verstärkt den Eindruck der Schwäche supra-nationaler Institutionen. Daran sind die Nationalstaaten nicht ganz unschuldig. Die USA hungern über das Veto der Besetzung von Richtern im Schiedsgericht die WTO schon seit einiger Zeit aus und legen es lahm. Dennoch: Die Zeiten explodierender Zahlen an neuen (National)Staaten dürften erst einmal vorbei sein. Der Protektionismus ist wieder auf dem Vormarsch, kriegerische und terroristische Unsicherheiten nehmen zu, illiberale Demokratien und Autokratien schwächen die Demokratisierung weltweit. Die Anreize von Regionen, sich als eigenständigen (National)Staat zu etablieren, gehen zurück. „Alte“ Nationalstaaten werden stabilisiert.

Die Schwäche supra-nationaler Institutionen ist auch das Ergebnis unterschiedlicher Interessen. Mit steigendem Wohlstand werden die Präferenzen weltweit heterogener: Ökonomisch, politisch und sozial. Die institutionelle Diversität nimmt zu. Ein Blick auf die „Welten des Kapitalismus“ zeigt, dass Nationen ökonomische, politische und soziale Probleme auf unterschiedliche Art und Weise angehen (hier). Es gibt nicht den einen Weg. Viele Wege führen nach Rom. Zwischen den Nationalstaaten ist ein intensiver institutioneller Wettbewerb im Gang. Eine weltweite Einigung auf eine einheitliche Linie wird immer schwerer. Das ist allerdings kein Verlust. Die nationalen Wettbewerber können voneinander lernen. Und sie tun es auch. Das Ergebnis ist effizienter und gerechter als wenn alles welt- oder europaweit über einen Kamm geschoren wird. Der Nationalstaat wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Und das ist gut so. Allerdings darf das „Nationale“ nicht nationalistisch werden und das „Staatliche“ nicht überhandnehmen.

Fazit

Die kosmopolitischen Eliten prophezeien dem Nationalstaat seit langem das baldige Ableben. Er sei weltweit ein Auslaufmodell. Supra-nationale Institutionen und autonomere Regionen würden seine Aufgaben effizienter erfüllen. Aber Totgesagte leben oft länger. Die Finanz- und Euro-Krisen haben supra-nationale Institutionen entzaubert. Wesentlich besser haben sich die „alten“ Nationalstaaten geschlagen. Eines bleibt allerdings: Die Interessenunterschiede zwischen den Nationalstaaten sind groß. Das gilt weltweit. Es trifft aber auch für die Europäische Union zu. Der anhaltend heftige Streit um die Flüchtlinge, den Euro und den Brexit zeugen davon. Auch künftig werden sich die Nationalstaaten um die besten Wege streiten, ökonomisch, politisch und sozial. Ein institutioneller Wettbewerb ist unvermeidlich aber produktiv. Wettbewerbsfähig bleiben die Nationalstaaten nur, wenn sie auch intern für mehr föderalen Wettbewerb sorgen. Allerdings braucht der institutionelle Wettbewerb ordnungspolitische Leitplanken (Regelwerk), der Spielraum für regionale, nationale und globale Aktivitäten lässt. Darauf sollte sich die Politik konzentrieren, national und weltweit. Internationale Ordnungspolitik fängt zuhause an.

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[1] Vgl. Vaubel, R., Die politische Ökonomie der wirtschaftspolitischen Zentralisierung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Jahrbuch für Politische Ökonomie, Bd. 11 (1992), S. 30 – 65

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