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Das nunmehr von der großen Koalition beschlossene Grundrentenpaket setzt den Schlussstein in einer Folge von Reformen, die man getrost unter der Rubrik „Schlimmer geht’s immer“ verbuchen dürfte. In der Liga der rentenpolitischen Top-3-Verfehlungen gebührt der jüngsten Verfehlung schlicht der erste Platz. Bereits vorher hatte es die damalige Arbeitsministerin Nahles durch die sog. „Rente mit 63“ auf einen der vorderen Plätze geschafft: In Zeiten eines steigenden Facharbeitermangels jedem dieser hochqualifizierten Beschäftigten einen fünfstelligen Betrag dafür zu versprechen, dass er sich doch bitte so früh wie möglich in den Ruhestand verabschieden sollte, ist schlicht absurd. Auch die „doppelte Haltelinie“ mit der Aussetzung der Nachhaltigkeitsgesetzgebung durch Arbeitsminister Heil dürfte es unter die Top-3 geschafft haben: Wirklich jeder weiß, dass immer mehr Alte immer länger von immer weniger Beitragszahlern finanziert werden müssen. Und dann zu versprechen, dass wir mit dem heutigen Beitragssatz das derzeitige Rentenniveau bei konstantem Rentenzugangsalter und ohne Plünderung des Bundeshaushalts halten können, gleicht mathematisch der Quadratur eines Kreises.
Wie auch immer – es kam noch schlimmer: Die von Hubertus Heil gemeinsam mit CDU/CSU verabschiedete „Grundrente“ verstößt gegen die wichtigsten Prinzipien unseres Sozialstaats und macht den derzeitigen Arbeitsminister zum unangefochtenen Rekordhalter im Brechen sozialpolitischer Fundamentalprinzipien. Der erste Verstoß ist unmittelbar mit dem Bruch des Lebensleistungsprinzips in der gesetzlichen Rentenversicherung verbunden. Bislang bekam jeder in Abhängigkeit von seinen Beiträgen eine die jeweilige Lebensleistung reflektierende Rente: Ein Durchschnittsverdiener erhielt bei Renteneintritt die Durchschnittsrente. Wer das doppelte Durchschnittseinkommen verdient hat, hat doppelt so viel bezahlt und bekommt die doppelte Durchschnittsrente. Und wer nur die Hälfte des Durchschnittseinkommens bezog, bezieht im Alter auch nur die Hälfte der Durchschnittsrente. Damit ist jetzt Schluss, denn in Zukunft gibt es Menschen, die für ihre Rente von beispielsweise 900 Euro die entsprechenden Beiträge gezahlt haben und gleichzeitig solche, die denselben Betrag erhalten, ohne dafür eine entsprechende Lebensleistung erbracht zu haben. Einzige Bedingung – man muss mindestens ein Leben lang (35 Jahre!) gearbeitet haben und darf nicht über andere beim Finanzamt erfasste Einkommen verfügen. Am Ende dieses Weges steht eine Art „bedarfsgerechtes“ Grundeinkommen für Alte ohne das bewährte Leistungs-/Gegenleistungsprinzip, das uns seit Jahrzehnten eine wirklich leistungsgerechte Rente beschert hat.
Der zweite Verstoß richtet sich gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz im letzten sozialen Auffangnetz unseres Sozialstaates. Bislang behandeln wir in der Sozialhilfe alle Menschen gleich – jeder hat ein Anspruch auf das gleiche sozio-kulturelle Existenzminimum unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft etc. Auch dies wird künftig anders sein, denn alte Arme werden in Zukunft besser behandelt als andere Arme! Wer vom Wege der egalitären Gleichbehandlung abrückt, darf sich allerdings nachher nicht mehr wundern, wenn sich andere Partikularinteressen melden und auch besser behandelt werden wollen. Merke: Das Alter allein ist kein Verdienst.
Auch der sozialstaatliche Grundsatz der Subsidiarität wird in Zukunft nur noch eingeschränkt Geltung haben. Zwar wird die über das Finanzamt administrierte Einkommensprüfung verhindern, dass auch Bezieher hoher anderer Einkünfte ihr Renteneinkommen aufgestockt bekommen. Allerdings ist die bislang vom Sozialamt durchgeführte Bedürftigkeitsprüfung deutlich umfassender, indem Vermögen und auch an der Quelle besteuerte Kapitaleinkommen bzw. sonstige Zuwendungen des Haushalts erfasst wurden. Zwar vermeidet der Grundrentenkompromiss den als „unzumutbar und demütigend“ geltenden Gang zum Sozialamt (nur für alte Menschen!), allerdings sind die administrativen und datenschutzrechtlichen Hürden der Finanzamtslösung ohne entsprechende Vorarbeiten enorm. Wer glaubt, dass dies reibungslos in ein bis zwei Jahren zu machen sei, glaubt wahrscheinlich auch daran, dass die Aufstockung der „armen“ Rentner ab 2021 verschoben wird, wenn die Administration der Einkommensüberprüfung durch das Finanzamt noch nicht greift. Aber sei es drum, die Finanzmarktsteuer zur Finanzierung der Grundrenten ist ja auch noch gar nicht eingeführt – aber schon ausgegeben.
Nicht genug, dass die Grundrente a là Heil das Lebensleistungs-, Subsidiaritäts- und Gleichbehandlungsprinzip unseres Sozialstaats bricht – sie verstößt auch gegen das Gebot der intergenerativen Fairness. Durch die sich abzeichnende demographische Entwicklung müssen zukünftige Generationen deutlich steigende Alterslasten tragen, die sich aufgrund der milliardenschweren Wahlgeschenke an die gegenwärtigen Rentner bzw. rentennahen Jahrgänge weiter erhöhen. Die unmittelbare Folge daraus ist immens: Zunehmend mehr junge Leistungsträger haben ein wachsendes Akzeptanzproblem mit den von ihnen nicht unterschriebenen Generationenverträge. Es droht die Kündigung – und nichts kann für die zukünftigen Rentner gefährlicher werden als genau diese Kündigung.
Hinweis: Der Beitrag erscheint als Leitartikel in Heft 4 (2020) der Fachzeitschrift WiSt.
- BVerfG, Schuldenbremse und Haushaltsnotlage
Was nun Deutschland? - 11. Dezember 2023 - Die Aktienrente
Ein Schuss nach hinten! - 20. November 2022 - Die Spahn’sche Pflegereform: ein doppelter Deichbruch - 14. Juni 2021
Diese überaus zutreffende Analyse zeigt im Umkehrschluss, auf welch jämmerlichem Niveau die politische Diskussion in unserem Land angekommen ist. Pseudosoziale Beschwörungsformeln wurden schon immer zur Begründung dafür angeführt, dass Klientele der jeweiligen Parteien bedient werden sollten. Der aktuelle Abgleich von „Argumenten“ und Realität zeigt indessen eine seit dem zweiten Weltkrieg wohl einmalige intellektuelle Verwahrlosung. Danke an alle, die dies so virtuos entlarven wie der Kollege Raffelhüschen!