Varianten des Kapitalismus
Globalisierung und Sozialstaat
Wettbewerb oder Koordination?

Im Motorsport gilt das geflügelte Wort, Rennen werden „auf der Bremse“ entschieden. Das ist übertrieben, ohne kräftigen Motor geht nichts. Die Kombination aus beidem macht den Erfolg aus. Das gilt auch für die Globalisierung. Unbestritten sind weltweit offenere Märkte ein bärenstarker Motor des wirtschaftlichen Wohlstandes. Die Empirie ist eindeutig. Umsonst ist allerdings wachsender Wohlstand nicht. Offenere Märkte beschleunigen den Prozess der „schöpferischen Zerstörung“. Den wirtschaftlichen Akteuren wird einiges an Anpassung abverlangt: „There is no gain without pain“. Die Menschen sind eher bereit, auch hohe Kosten der Veränderung auf sich zu nehmen, wenn sie sicher sein können, im Falle des wirtschaftlichen Scheiterns nicht ins Bodenlose zu fallen. Der Sozialstaat soll helfen, dass dies nicht geschieht, ohne den Motor des Wohlstandes abzuwürgen. Wie sich die Menschen zur Globalisierung stellen, hängt auch davon ab, was sie dem Sozialstaat zutrauen. Je effizienter er ist, je geringer seine Nebenwirkungen sind, desto schneller kann auch die wohlstandssteigernde weltweite Öffnung der Güter- und Faktormärkte voranschreiten.

Markt oder Staat?

Weltweit offenere Märkte eröffnen viele Chancen, sie bergen aber auch Risiken. Das wirtschaftliche Umfeld wird volatiler, die Struktur der Nachfrage nach Arbeit verschiebt sich regional, sektoral und qualifikatorisch. Es wird immer schwerer, steigende Arbeitskosten auf die Preise zu überwälzen. Arbeitsplätze sind nicht mehr für die Ewigkeit geschaffen, mehr individuelle Beweglichkeit ist notwendig. Und noch etwas ändert sich, teils wegen der Globalisierung, teils unabhängig davon. Die Wechselfälle des Lebens werden bedeutender. Individuen haben mehr als früher mit Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter und Pflegebedürftigkeit zu kämpfen. Kein Wunder, dass die Nachfrage nach „sozialer Sicherheit“ zunimmt. Damit aber nicht genug. Der schneller wachsende allgemeine Wohlstand verteilt sich ungleichmäßig. Die personelle Verteilung von Einkommen und Vermögen wird schiefer. Während es untere Einkommen eher schwerer haben, mittlere Einkommen immer öfter in Schwierigkeiten geraten, entwickelt sich die Lage der oberen Einkommen sehr positiv. Die Nachfrage nach „sozialer Gerechtigkeit“ nimmt zu.

Damit stellt sich aber die Frage, wer die Güter „soziale Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ anbieten sollte, der Markt oder der Staat? Die ordnungspolitische Regel ist unstrittig. Der Staat sollte nur dort tätig werden, wo er komparative Vorteile hat gegenüber dem Markt. Das gilt auch für den Bereich des Sozialen. Da hat sich einiges geändert. Der Markt produziert „soziale Sicherheit“ zumeist effizienter als der traditionelle Sozialstaat. Das gilt zumindest für die Wechselfälle des Lebens zu, wie etwa Krankheit, Alter und Pflegebedürftigkeit. Im Vorteil ist der Sozialstaat allerdings immer noch, wenn es darum geht, Individuen gegen die materiellen Folgen des Risikos der Arbeitslosigkeit abzusichern. Anders ist die Lage beim Angebot „sozialer Gerechtigkeit“. Auf diesem Feld hat der Sozialstaat komparative Vorteile. Das gilt nicht nur im Kampf gegen die Armut, es trifft auch bei der gleichmäßigeren Verteilung von Einkommen und Vermögen zu. Das Angebot an „sozialer Gerechtigkeit“ ist eine originäre Aufgabe des Sozialstaates. Daran hat auch die Globalisierung bisher noch nichts geändert.

Welten des Sozialstaates

Die Angebote an „sozialer Sicherheit“ und „sozialer Gerechtigkeit“ unterscheiden sich allerdings von Land zu Land erheblich. In Europa haben sich vier „Welten“ herauskristallisiert. Die angelsächsische „Welt“ setzt stärker auf den Markt, die nordische mehr auf den Staat, die kontinentale auf Korporatismus und die mediterrane eher auf Berufsstände. Das Urteil über die verschiedenen „Welten“ fällt unterschiedlich aus. Als Messlatte dienen allokative Effizienz (Arbeitslosigkeit, Wachstum) und „soziale Gerechtigkeit“ (Armut, Ungleichheit). Dabei fällt auf, dass angelsächsische und nordische Länder relativ effizient sind. Allerdings ist das nordische Modell „gerechter“ als das angelsächsische. Wenig effizient sind kontinentales und mediterranes. Das kontinentale ist aber „gerechter“ als das mediterrane. Am schlechtesten schneidet das mediterrane Modell ab, es ist weder effizient noch „gerecht“. Die besten Noten erhält das nordische, es ist effizient und „gerecht“. Der trade-off zwischen Effizienz und „Gerechtigkeit“, mit dem kontinentale und angelsächsische Länder zu kämpfen haben, scheint im Norden nicht zu existieren.

Die vier „Welten“ stehen im institutionellen Wettbewerb. Von einem „europäischen Sozialmodell“ kann keine Rede sein. Die Frage bleibt, wie zukunftsfähig die unterschiedlichen „Welten“ sind. Eine „Welt“ besteht im Wettbewerb nur, wenn sie effizient ist. Effizienz ist die ökonomische Basis für „soziale Gerechtigkeit“. Damit werden es die mediterrane und kontinentale Variante schwer haben, in ihrer gegenwärtigen Form im Wettbewerb zu überleben. Um die soziale Markführerschaft werden sich in Europa das nordische und angelsächsische Sozialmodell streiten. Die besseren Karten hat dabei das nordische. Es vereint Effizienz mit „Gerechtigkeit“. Anstelle des trade-off zwischen Effizienz und „Gerechtigkeit“ des angelsächsischen scheint im nordischen ein „free lunch“ zu existieren. Tatsächlich lässt sich auch im nordischen Modell der traditionelle Zielkonflikt nicht ausschalten. Er tritt in den nordischen Ländern weniger zutage, weil diese Länder die Effizienzverluste des Sozialen mit einer Offensive an der Front offener Märkte zu minimieren suchen. Die wirtschaftliche Freiheit ist in Skandinavien seit Mitte der 70er Jahre stärker gestiegen als in allen anderen „Welten“.

Wettbewerb oder Koordination?

Der institutionelle Wettbewerb der „Welten“ hat viele Feinde. Die Angst geht um, sozialpolitische Eigenheiten könnten verdampfen. Von der gegenwärtigen Vielfalt der „Welten“ bliebe künftig nur ein „europäisches Sozialmodell“. Das wäre in der Tat misslich, weil Europa mit der wirtschaftlichen Integration heterogener wird. Offenere Märkte machen die Länder wirtschaftlich vielfältiger. Das gilt für Individuen, Unternehmen und Regionen. Aber auch individuelle Präferenzen streuen mit steigendem Wohlstand stärker, auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene. Schließlich verstärken europaweite Wanderungen auch die ethnische Heterogenität. Offenere Arbeitsmärkte beschleunigen diese Entwicklung. Das alles trägt dazu bei, dass die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Europa stärker streuen werden. Ein einziges Modell des Sozialstaates ist immer weniger in der Lage, die wachsende Heterogenität in den Griff zu bekommen. Die Zeiten einer „one policy fits all“ sind vorbei. Gefragt sind institutionelle Arrangements, die weniger auf Homogenität, sondern auf Vielfalt geeicht sind. Mehr „Welten“ sind besser als weniger.

Die größere Heterogenität spricht für dezentrale Lösungen. Einer europaweit koordinierten Sozialpolitik sind enge Grenzen gesetzt. Konzentriert sich der Sozialstaat auf seine Kernkompetenz, sind Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung zu privatisieren. Die Frage der Koordination nationaler Politiken stellt sich auf diesen Feldern nicht mehr. Für das weiter staatliche Angebot einer Arbeitslosenversicherung und den Kampf gegen die Armut bleibt allerdings die Frage, auf welcher staatlichen Ebene operiert werden soll. Als Richtschnur sind Größenvorteile und grenzüberschreitende Spillovers einerseits sowie Präferenzkosten und Lernen von den Besten andererseits sinnvoll. Die ersten beiden Aspekte sprechen für Koordination, die letzten beiden für Dezentralisierung. Im Kampf gegen die Armut ist eine Koordination risikoreich, eine zentrale Arbeitslosenversicherung ist schädlich. Das gilt auch für Arbeitsmarkt-, Lohn- und Tarifpolitik. Eine Koordination ist allerdings sinnvoll, wenn es darum geht, einen adäquaten Rahmen zu setzen, der einen effizienten Wettbewerb auf dem Felde des Sozialen überhaupt erst ermöglicht.

Fazit

Die Globalisierung stellt die Welt vor neue Herausforderungen. Das spornt die Menschen an, es macht ihnen aber auch Angst, den einen mehr, den anderen weniger. Der gravierende strukturelle Wandel erfordert einen wirksameren Sozialstaat. Das ist die alte Idee der sozialen Marktwirtschaft, die nichts an Aktualität eingebüßt hat. Die Erkenntnis von Hölderlin, „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, gilt auch hier. Weltweit offenere Märkte bringen die „Welten“ des Sozialstaates auf Trab. Die Chancen steigen, dass das Angebot an „sozialer Sicherheit“ und „sozialer Gerechtigkeit“ effizienter erbracht wird. Ein effizienterer Sozialstaat ist einer, der sich auf seine Kernkompetenzen konzentriert und die Aufgaben auf der Ebene erledigt, auf der sie am besten erfüllt werden können. Das ist in Zeiten, in denen heterogenere individuelle Präferenzen und das Lernen von den Besten immer öfter flüchtige externe Effekte und scheinbare staatliche Größenvorteile dominieren, die lokale Ebene. Diese Tendenz weg von zentralen hin zu dezentralen Lösungen gilt auch für den Bereich des Sozialen, auch wenn das in den Köpfen der Politik noch längst nicht angekommen ist.

Eine Antwort auf „Varianten des Kapitalismus
Globalisierung und Sozialstaat
Wettbewerb oder Koordination?

  1. Ja aber die Globalisierung ist doch unaufhaltsam und auch notwendig. Dadurch erschliessen sich ja auch ganz neue Märkte und Möglichkeiten. Also ich finde sie bringt viel positives und viel mehr Austausch und Horizonterweiterung. Auf dem wettbewerb.ch Blog kam letztens auch ein Bericht darüber, wie sich das Arbeitsklima in einer neu internationalisierten Firma entwickelt hat und es war echt zum Vorteil von jedem Beteiligten.

    So viel von mir, Rainer

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