Kurz kommentiert
Transferunion oder nicht?
Das steht noch nicht fest

Die Bewertung der Beschlüsse des Brüsseler Gipfels vom vergangenen Wochenende ist zwiespältig. Es gibt viele Gründe, enttäuscht zu sein. Es wurden echte Transfers in Höhe von 390 Milliarden Euro beschlossen, die zu einem großen Teil an reformbedürftige Südländer fließen. Gleichzeitig fehlt es an einer echten Konditionalität. Zwar können Länder, die die Reformbemühungen von Empfängerländern für unzureichend halten, ein Kontrollverfahren initiieren. Die Wahrscheinlichkeit ist aber hoch, dass dieses Verfahren am Ende ähnlich zahnlos sein wird, wie etwa die Mechanismen zur Durchsetzung der Maastricht-Kriterien es immer waren.

Deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass in der nächsten Krise die Schuldenstandsquote zumindest Italiens nicht geringer sein wird als heute – und dass dann wiederum eine schwierige Entscheidung zwischen neuen Transfers und der Gefahr eines Schuldenschnitts zu treffen sein wird. Denn die jetzt fließenden Mittel entschulden die Südländer nicht, sondern sie helfen den Ländern nur in den kommenden Jahren durch die größte Not.

Erste grobe Schätzungen gehen davon aus, dass auf Deutschland durch das beschlossene Corona-Paket zusätzliche Lasten von etwa 80 Milliarden Euro zukommen. Vieles hängt dabei von noch offenen Details ab, etwa der Frage, welche neuen Einnahmeninstrumente die EU genau bekommt, um zusätzliche Einnahmen zur Schuldentilgung zu generieren. Tröstlich ist für Deutschland, dass die geschätzten 80 Milliarden über einen langen Zeitraum verteilt anfallen und die jährlichen Budgets kaum spürbar belasten werden.

Dennoch: 80 Milliarden sind ein sehr hoher Betrag, insbesondere dann, wenn man sich die konkreten Ausgaben vorstellt, von ICE-Strecken bis Bildungsinvestitionen, die man hiermit hätte finanzieren können. Man sollte sich also von der psychologischen Erleichterung, die die Verteilung auf viele Jahre bringt, auch nicht gänzlich in die Irre führen lassen. Die Bundesrepublik leistet hier einen sehr substantiellen Beitrag zum Zusammenhalt der EU und dies sollte, gerade auch von den Nettoempfängern, entsprechend gewürdigt werden.

Die Verhandlungsergebnisse für die nächste reguläre Budgetperiode der EU fallen eher enttäuschend aus. Der Löwenanteil der Mittel wird wiederum für ineffiziente Umverteilung in Form von Agrarsubventionen, sowie für leidlich effektive Umverteilung in Strukturprogrammen verwendet. Echte EU-weite öffentliche Güter, vom Klimaschutz bis zu einer europäischen Verteidigungspolitik, erhalten dagegen weiterhin nicht das nötige Gewicht. Die EU hat immer noch nicht die Kraft, dort angemessene Aktivität zu entwickeln, wo sie eigentlich echte Effizienzvorteile gegenüber nationalstaatlicher Politik realisieren könnte.

Es gibt allerdings auch Lichtblicke. Der Transferanteil fällt mit 390 Milliarden Euro geringer aus als ursprünglich von der Kommission vorgeschlagen und das Gesamtpaket ist deutlich moderater als viele an Phantasterei grenzenden Vorschläge, die in den vergangenen Monaten in der öffentlichen Diskussion standen. Vor allem aber kristallisiert sich mit den „Frugal Five” ein Block von Ländern heraus, der fiskalischer Verantwortung in Brüssel ein gewisses Gewicht gibt. Kandidaten für Länder, die diese Gruppe zukünftig noch etwas anwachsen lassen könnten, gibt es auch – nicht zuletzt Deutschland.

Womit wir bei der Rolle der Bundesrepublik bei diesem Gipfel sind. Kritiker weisen darauf hin, dass die Bundeskanzlerin sich auf die Seite Frankreichs geschlagen und ihren natürlichen Ort im Kreis der fiskalisch konservativeren Länder verlassen habe. Da ist sicherlich etwas dran. Die inhaltliche Flexibilität der Bundeskanzlerin, die noch 2018 EU-Transfers vehement abgelehnt hat, ist wieder einmal atemberaubend. Verlässliche und glaubhafte Politik gegenüber den eigenen Bürgern sähe anders aus, war aber nach aller Erfahrung der Vergangenheit ohnehin nicht mehr ernsthaft zu erwarten.

Jedoch scheinen viele Kritiker hier auch unrealistische Erwartungen an einen möglichen kontrafaktischen Verlauf des Gipfels mit einer kontrafaktischen, also prinzipienfesten Bundeskanzlerin zu haben. Die Situation erforderte einen Kompromiss; ein stures Veto gegen jegliche Transfers hätte die EU möglicherweise in eine Existenzkrise gestürzt und wäre für keine hypothetische Alternativ-Bundeskanzlerin eine realistische Option gewesen. Hätte sich die Bundesregierung auf die Seite der Sparsamen Fünf geschlagen, dann hätte dies die Verhandlungsgewichte ein wenig verschoben. Die Beträge von 750 Milliarden für das Gesamtpaket und 390 Milliarden für direkte Transfers wären ein wenig abgeschmolzen. Aber man wäre auch dann nicht zu einem kategorial anderen Ergebnis, zu einer Randlösung ohne Transfers gekommen. Wer so etwas fordert, hat keinen Realitätssinn.

Wichtiger als der Gipfel selbst wird sein, wie seine Ergebnisse im Nachhinein interpretiert und mit Leben gefüllt werden. Im Zusammenhang mit der Ausstattung der EU mit eigenen Steuerquellen gibt es noch lohnende politische Abwehrschlachten zu kämpfen. Je bescheidener diese Ausstattung ausfällt, desto besser, um eine allfällige Zentralisierungsdynamik entlang des Popitzschen Gesetzes gar nicht erst ins Rollen kommen zu lassen. Falls die EU ein Bundesstaat werden soll, dann darf dieser Übergang nicht schleichend durch die Hintertür erfolgen, sondern muss offen diskutiert und gegebenenfalls durch Referenden in den Mitgliedstaaten legitimiert werden.

Bis es soweit ist, muss immer wieder betont werden, dass es hier um ein einmaliges, außergewöhnliches Paket geht, angesichts einer Pandemiekrise, die den ganzen Kontinent überraschend schwer getroffen hat. Noch ist die Transferunion nicht Realität. Das wird sie erst, falls die Transfermechanismen einmal dauerhaft institutionalisiert und routiniert genutzt werden. Davon sind wir noch viele Schritte entfernt. Wenn nun also auch die Kritiker der Gipfelbeschlüsse bereits übereilt eine angeblich schon existierende Transferunion kritisieren, dann erweisen sie sich damit wohl selbst einen Bärendienst und bestätigen ungewollt einen Wandel, den es so eigentlich noch gar nicht gibt.

Eine kluge Opposition gegen eine drohende Transferunion erkennt die Gipfelbeschlüsse als begrenzten Akt des Zusammenhalts in einer schweren Krisensituation an, besteht aber gleichzeitig darauf, dass es dabei bleibt.

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