Beträchtlicher staatlicher Fussabdruck in der Schweiz

„Arbeit dehnt sich in genau dem Mass aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht.“ Dies ist einer der markanten Sätze des britischen Historikers Cyrill Northcote Parkinson. Er hat sie in den 1950er Jahren geprägt, um das von ihm erforschte Bürokratiewachstum zu beschreiben. Durch seine trefflichen und zuweilen ironisierenden Darstellungen von Bürokratien, die scheinbar ohne nachvollziehbaren Grund unaufhaltsam wachsen, wurde Parkinson weltberühmt.

Auch die Volkswirtschaftslehre befasst sich mit dem Staat und seinem Eigenleben. So haben die Ökonomen William Niskanen und Anthony Downs Anfangs der 1970er Jahre argumentiert, dass man sich von der romantischen Vorstellung Max Webers lösen müsse, die Bürokratie sei die «treue Erfüllungsgehilfin», die die Vorstellungen der Bürger effizient und uneigennützig umsetze. Völlig zu Recht. Denn auch Bürokratien streben nach Grösse, Macht und Einfluss.

Im Ergebnis decken sich die Leistungen der öffentlichen Verwaltung oft nicht mit den gesellschaftlichen Vorstellungen der Bürger. Es entsteht – und besteht – eine Diskrepanz zwischen den Zielen der Bürger und den Resultaten bürokratischen Handelns. Es ist das Verdienst der Politischen Ökonomie und damit auch des Schweizer Ökonomen Bruno S. Frey, diese Mechanismen theoretisch beschrieben zu haben. Die Bürokratietheorie gilt zwar für alle grossen Organisationen – sei es in grossen Firmen im privaten Markt oder im Staat. Im Falle der staatlichen Bürokratie kommt allerdings erschwerend hinzu, dass kaum Wettbewerbsdruck und Vergleichsmassstäbe existieren, mithin also der Effizienzdruck aus der Privatwirtschaft fehlt.

Was also sagt die Realität zur Theorie? Wo lässt sich ein überbordendes Bürokratiewachstum in der Schweiz tatsächlich beobachten? Und was wäre eigentlich ein überbordendes Bürokratiewachstum? Der Faktencheck gestaltet sich in der Tat nicht so einfach. Geht man davon aus, dass der Staat das tut, was er tun sollte, dann müsste man eigentlich mit zunehmendem gesellschaftlichem Wohlstand einen abnehmenden Staatsanteil am Sozialprodukt und Bevölkerungswachstum erwarten. Warum? Weil sich die öffentlichen Leistungen im Unterschied zu vielen privaten Gütern durch steigende Skaleneffekte auszeichnen. Die Kosten des Staats dürften also mit dem Wohlstand und der Bevölkerungsgrösse nicht wesentlich steigen – für den einzelnen sollte es sogar billiger werden, wenn sich mehr Personen an der Finanzierung beteiligen. Denkt man beispielsweise an die Aussenpolitik, so ist tatsächlich kaum einzusehen, warum hier keine Stückkostendegression genutzt werden könnte. Bei anderen Staatsaufgaben sieht es ähnlich aus.

Was aber, wenn diese Vermutung falsch ist? Was, wenn der Staat tatsächlich unter einer «Kostenkrankheit» leidet, wie es der Ökonom William Baumol einmal trefflich formulierte? Dabei ging er davon aus, dass die öffentliche Verwaltung zwingermassen unterproduktiv bleibe, weil sie besonders arbeitsintensiv sei. Wenn man an den Gesundheitssektor denkt, ist dieses Argument tatsächlich nicht unplausibel.

Leider ist nicht nur die theoretische Benchmark unklar. Auch wer den staatlichen Fussabdruck messen will, muss sich auf eine Mischung aus Sisyphos- und Detektivarbeit einlassen. Das liegt daran, dass die Abgrenzung zwischen Staat und Privat je länger desto weniger eindeutig gezogen wird. Dies gilt auch und gerade für die Schweiz – die New Public Management-Reformen in den 1990er Jahren haben die Situation noch unübersichtlicher gemacht, als sie ohnehin schon ist.

De facto leben alle westlichen Staaten in Mischwirtschaften, halb staatlich, halb privat. Staatliche Akteure «wildern» ohne Hemmungen in privaten Märkten, und private Akteure lobbyieren geschickt für staatlichen Schutz und Beihilfen. Dass die Kernverwaltung bei Bund, Kantonen und Gemeinden zum Staat zählen, ist zwar eindeutig. Wie verhält es sich aber bei Spitälern, SBB, Post, Swisscom, BKW, Alpiq, Axpo oder den Kantonalbanken? Und warum waren vieler dieser Betriebe früher im Bereich der öffentlichen Verwaltung klassifiziert und heute nicht mehr, ohne dass der Steuerzahler auf sein Haftungsrisiko der «impliziten» Staatsgarantie verzichten dürfte? Zu all den Fragen gibt es keine eindeutigen und über die Jahre konsistenten Antworten. Die Statistiken sind also notwendigerweise verzerrt. Transparenz zum staatlichen Fussabdruck ist angesichts der Ausgangslage umso wichtiger – allerdings auch umso schwieriger zu erreichen.

Deshalb habe ich mich zusammen mit meinem Mitarbeiter Marco Portmann in Detektivmanier auf die Spurensuche gemacht. Ich fokussiere in diesem Beitrag auf das Verwaltungswachstum. Klar ist: Mit 6’082 Franken je Einwohner im Jahr 2019 liegt die Schweiz kaufkraftbereinigt im europäischen Mittelfeld. Die Schweiz gibt 7.3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für Staatsbedienstete aus. Von 1995 bis 2019 sind die Ausgaben für Verwaltungspersonal in der Schweiz pro Kopf um 88 Prozent gestiegen. Das spricht nicht dafür, dass die Schweiz in den letzten 25 Jahren besondere Effizienzpotenziale in der öffentlichen Verwaltung genutzt hätte.

claschabb1

– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

Auf welcher Staatsebene ist das Ausgabenwachstum am höchsten? Am höchsten fällt das Wachstum beim Bund aus mit 2.8 Prozent jährlich ab 2008, gefolgt von den Kantonen (2.4 Prozent) und Gemeinden (1.6 Prozent). Es gibt aber grosse kantonale Unterschiede. In Basel-Stadt wird mit 8’528 Franken und in Genf mit 8’767 Franken je Einwohner am meisten für die Kantons- und Gemeindebediensteten ausgegeben; im Aargau sind es gerade einmal 3’419 Franken. Bleiben die aktuellen Wachstumsraten bestehen, steigen die Disparitäten weiter an. Ein Drittel der öffentlichen Beschäftigung entfällt auf staatliche und staatsnahe Unternehmen.

Was ist das Fazit aus dem Blick in die Daten? Die staatlichen Verwaltungsausgaben und das Beschäftigungsvolumen beim Staat und den staatsnahen Unternehmen sind alles andere als gering. Es ist wohl an der Zeit, unser Selbstbild – unsere Selbstwahrnehmung – eines unbürokratischen Musterschülers zu revidieren: Das Parkinson’sche Gesetz gilt auch bei uns.

Sowohl Ausgaben als auch Beschäftigung wachsen beständig. Betrachtet man kaufkraftbereinigte Verwaltungsausgaben pro Einwohner, ist die Schweiz nicht Musterschülerin, sondern bloss europäisches Mittelmass. Die Verwaltungen von Bund, Kantonen und Gemeinden wachsen unter anderem stark im Bereich der allgemeinen Verwaltungsausgaben. Gerade diese Ausgabenkategorie wurde jüngst wieder als wirtschaftswachstumshemmend identifiziert.

Zum Beschäftigungswachstum tragen auch die staatsnahen Unternehmen und Institute des öffentlichen Rechts bei. Um die Governance dieser staatlichen und staatsnahen Betriebe ist es bekanntlich nicht zum Besten bestellt. Die Personalausgaben und der Akademikeranteil wuchsen beim Bund am stärksten, während die Kantone und Gemeinden die Beschäftigung am stärksten erhöhten. Sie taten dies allerdings weniger akademisiert und spezialisiert als der Bund. Dieses Muster ist konsistent mit einem fortschreitenden Vollzugsföderalismus, im Zuge dessen der Bund die Richtung vorgibt und die Kantone ausführen. Es gibt erklärungsbedürftige Lohnungleichheiten zwischen Staat und Privatwirtschaft. Insbesondere die Löhne beim Bund sind vergleichsweise hoch. Diese Differenzen sind aus Bildungs- und Arbeitsmarktperspektive nicht unproblematisch und sollten näher untersucht werden.

Literatur:

Marco Portmann und Christoph A. Schaltegger (IWP): Staatliche und staatsnahe Beschäftigung in der Schweiz. Wo wächst der öffentliche Sektor?

Podcast zum Thema:

Der Staat expandiert, der Markt stagniert. Wege aus der ordnungspolitischen Verwahrlosung

Prof. Dr. Norbert Berthold (Julius Maximilians-Universität Würzburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger (Universität Luzern und Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik)

Blog-Beiträge zum Thema:

Christoph A. Schaltegger (2022): Der Markt braucht den Staat. Und der Staat braucht Regeln. Was uns die soziale Marktwirtschaft heute zu sagen hat

Norbert Berthold (2021): Was ist des Marktes, was des Staates? Wuchernde Staatswirtschaften, gezinkte Märkte und ratlose Ordnungspolitiker

Norbert Berthold (2019): Tiefer als die Ökonomie. Zerbröseln die Fundamente der Sozialen Marktwirtschaft?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert