Deutschlands Exportüberschüsse sind hoch – zu hoch, meinen viele Kritiker in Europa und Nordamerika. Um die globalen Ungleichgewichte wieder in den Griff zu bekommen, seien lenkende Eingriffe der Wirtschaftspolitik zwingend geboten. Nach dem im Herbst 2011 eingeführten „Gesamtwirtschaftlichen Überwachungsverfahren“ der EU müssen Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen von mehr als sechs Prozent des BIP sogar mit Strafen rechnen, wenn sie diese Überschüsse nicht zurückfahren. Auf diese Weise sollen auch die wirtschaftlich starken Länder einen Beitrag zur Überwindung der Euro-Krise leisten.
Auch im Inland wird die These von den exzessiven Exportüberschüssen zunehmend populär. Die Rolle des Schurken im Stück wird dabei vor allem der Lohnpolitik zugewiesen. Sie sei viel zu bescheiden, hätte sich mit stagnierenden Reallöhnen zufrieden gegeben und auf diese Weise deutschen Unternehmen auf den Exportmärkten einen unfairen Wettbewerbsvorteil verschafft. Doch wer ist eigentlich der Adressat dieser Vorwürfe? Sind es die Gewerkschaften, die die Einkommensinteressen ihrer Mitglieder aus den Augen verloren hätten? Oder die Bundesregierung, die unter Missachtung der verfassungsrechtlichen Tarifautonomie politischen Druck auf die Tarifparteien ausgeübt hätte? „Die Gewerkschaften“ gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr, seit im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung der Organisationsgrad zunächst im Osten und dann auch im Westen dramatisch gesunken ist. Und auch die Regierung ist weder willens noch in der Lage, den lohnpolitischen Kurs vorzugeben.
Hier liegt der erste Denkfehler in der Argumentationskette der Exportlenker: Forderungen an die gesamtwirtschaftliche Lohnpolitik laufen leer, weil es eine solche Lohnpolitik in Deutschland gar nicht gibt.
Auch die dabei konstatierte Stagnation der Löhne verdient ein genaueres Hinsehen. Sind wirklich alle Löhne stagniert? Wie ist dann die zeitgleich geführte Diskussion um die wachsende Ungleichheit im Lande zu erklären? Tatsächlich gab es eine Stagnation nur im Durchschnitt über alle Löhne hinweg – dahinter verbirgt sich eine spürbare Ausdifferenzierung der Lohnstruktur mit steigenden Löhnen in den oberen und stagnierenden oder sinkenden Löhnen in den unteren Segmenten. Gerade im Niedriglohnsegment sind in Deutschland in den vergangenen Jahren viele neue Arbeitsplätze entstanden. Und dies hat nichts mit schlaffen Gewerkschaften oder unternehmerfreundlichen Regierungen zu tun, sondern mit Hartz IV. Die tiefgreifenden Reformen im Sozialbereich haben eine derart weitreichende Reintegration ehemaliger Problemgruppen in den Arbeitsmarkt bewirkt, dass die gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit in Deutschland von rund 5 Millionen auf 2,9 Millionen Personen zurückgegangen ist.
Natürlich wäre es schöner gewesen, wenn all die zusätzlichen Arbeitsplätze im Hochlohnsegment angesiedelt gewesen wären. Doch der Abbau der strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland vollzog sich (aus Gründen, die nicht zuletzt bei der Qualifikationsstruktur der Arbeitslosen zu suchen sind) in erster Linie durch eine Ausweitung des Niedriglohnsegments. Dies drückte den Durchschnittslohn aller Beschäftigten, was aus makroökonomischer Sicht den Eindruck insgesamt stagnierender Löhne erweckt.
Hier liegt der zweite Denkfehler der Exportlenker: Sie verwechseln die Stagnation der Durchschnittslöhne mit einer Stagnation aller einzelnen Löhne und übersehen die zunehmende Lohndifferenzierung und den massiven Strukturwandel im Beschäftigungssystem, der mit der Reintegration ehemals Arbeitsloser in den aktiven Arbeitsmarkt einherging.
Die Ausweitung des Niedriglohnsektors konnte natürlich nicht ohne Konsequenzen für die Produktivitätsstrukturen bleiben. Neue Arbeitsplätze für geringqualifizierte und geringentlohnte Arbeitskräfte weisen eine niedrigere Produktivität auf als Arbeitsplätze für Hochqualifizierte. Genau wie bei den Löhnen ergab sich damit bei der Arbeitsproduktivität ein statistischer Durchschnittseffekt. Deshalb stieg die Arbeitsproduktivität aus makroökonomischer Sicht eher mäßig, was aber nichts zu tun hat mit dem technologischen Fortschritt an den einzelnen Arbeitsplätzen.
Hier liegt der dritte Denkfehler der Exportlenker: Sie verwechseln den geringen Anstieg bei den makroökonomischen Produktivitätskennziffern mit technologischer Schwäche und übersehen die Auswirkungen der Schaffung neuer Arbeitsplätze für Geringqualifizierte auf die statistisch gemessene Durchschnittsproduktivität.
Und was hat all dies mit der Euro-Krise zu tun? Â Es gibt kaum Zweifel, dass die Entwicklung der deutschen Exporte ohne Währungsunion deutlich anders verlaufen wäre. Die Wettbewerbsstärke deutscher Exporteure hätte eine Aufwertung der deutschen Währung nach sich gezogen, wodurch der Exportüberschuss gedämpft worden wäre. Und die heutigen Schuldenländer der Euro-Zone hätten durch eine Abwertung ihrer Währungen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten wiedererlangen können. Daraus folgt aber noch lange nicht, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen den deutschen Außenhandelsüberschüssen und den südeuropäischen Außenhandelsdefiziten gäbe.
Hier liegt der vierte Denkfehler der Exportlenker: Sie übersehen, dass eine expansive Lohnpolitik in Deutschland an der Grundkonstellation in den Schuldenländern gar nichts ändern würde. Sie würde zwar die deutschen Exporte bremsen, aber die Vorstellung, dadurch würden die griechischen oder spanischen Exporte quasi automatisch steigen, ist in einer global verflochtenen Weltwirtschaft mehr als naiv. Wenn die Ansprüche des Staates und der privaten Haushalte an das Sozialprodukt höher sind als das Sozialprodukt selbst, helfen weder Lohnerhöhungen in anderen Ländern noch international koordinierte Makropolitiken oder Beistandskredite – das einzige, was hilft, sind entschlossene KorrekturÂmaßnahmen im eigenen Land.
Wie wird es weitergehen mit den deutschen Exportüberschüssen: Ausschlaggebend dafür wird vor allem die Entwicklung in den Vereinigten Staaten und den Schwellenländern sein. Wenn die Vereinigten Staaten ihr Defizit in den Griff bekommen und der chinesische Nachfragesog nach deutschen Investitionsgütern nachlässt, wird die deutsche Wirtschaft automatisch geringere Exportüberschüsse erzielen. Dazu braucht es keine wirtschaftspolitische Kehrtwende, wie die Exportlenker sie fordern, denn das Auslaufen des „Exportmodells Deutschland“ wird sich unter diesen Bedingungen von ganz allein einstellen.
Wenn die Exportüberschüsse zurückgehen, wird die wirtschaftliche Dynamik nicht mehr im gleichen Maße wie früher vom industriellen Sektor ausgehen können. Stattdessen wird der an der Binnennachfrage orientierte Dienstleistungssektor in den Vordergrund rücken – insbesondere die modernen, von den Informations- und Kommunikationstechnologien geprägten unternehmensnahen Dienstleistungen. Ein derartiger Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft stellt hohe Anforderungen an die berufliche Mobilität der Arbeitskräfte, denn in der Wissensgesellschaft sind die Qualifikationsanforderungen nicht nur tendenziell höher, sondern auch anders als in der Industriegesellschaft.
Die deutsche Wirtschaft hat schon einmal einen massiven Strukturwandel von der Industrie zu den Dienstleistungen erlebt, und zwar in Westdeutschland in den 1970er und 1980er Jahren. Da viele Arbeitskräfte diesem Strukturwandel nicht gewachsen waren, kam es damals zu einem spürbaren Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit, der bis heute nachwirkt. Wenn die Politik eine Wiederholung dieser Entwicklung vermeiden möchte, dann sollte sie sich auf die Bildungs- und Ausbildungspolitik konzentrieren, damit die vom Strukturwandel betroffenen Arbeitskräfte die qualifikatorischen Voraussetzungen erhalten, die für einen erfolgreichen Übergang in die Wissensgesellschaft nötig sind. Wie dagegen die von den Exportlenkern empfohlene Strategie, auf breiter Front die Löhne zu erhöhen, diesen Strukturwandel befördern soll, ist schwer nachvollziehbar.
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Blogbeiträge zu Leistungbilanzsalden:
Norbert Berthold: Deutschland auf der Anklagebank. Der Euro verzerrt die Leistungsbilanzsalden
Dieter Smeets: Der Euro begünstigt den deutschen Außenhandel in der Währungsunion
Gunter Schnabl: Deutschland ist stark. Und soll es auch bleiben. Die Leistungsbilanzüberschüsse als Achillesferse wirtschaftlicher Stabilität
Gunter Schnabl: Vier Generationen von Leistungsbilanzungleichgewichten
Norbert Berthold: Herakles und die Euro-Hydra. Banken-, Staatsschulden- und Zahlungsbilanzkrisen
Michael Grömling: Mythen und Fakten zur deutschen Exportdominanz
Norbert Berthold: Steht das „Geschäftsmodell Deutschland“ auf der Kippe? Euro-Rettungsschirme sind „struktureller Merkantilismus“
Michael Grömling: Nicht von ungefähr – zum Zusammenhang von Wirtschaftsstruktur und Leistungsbilanz
Wolf Schäfer: Erst Lagarde, nun auch Geithner: Deutschland exportiert zu viel!
- Chinas Subventionen
Hinnehmen oder abwehren? - 14. Juni 2024 - Lokführer schaffen sich ab - 12. März 2024
- Strategische Industriepolitik
Mit Schwung ins technologische Abseits - 17. November 2023
Sie schreiben, stärker steigende deutsche Löhne würden „zwar die deutschen Exporte bremsen, aber die Vorstellung, dadurch würden die griechischen oder spanischen Exporte quasi automatisch steigen, ist in einer global verflochtenen Weltwirtschaft mehr als naiv“. Ist das so? Führen höhere deutsche Löhne nicht tendenziell zu einer Euro-Abwertung, die den Krisenländern hilft?
Wäre es (von Umsetzungsfragen einmal abgesehen) nicht vernünftig, wenn in Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern über einen mittelfristigen Zeitraum die Lohnpolitik nach der Formel „Produktivitätsfortschritt + 2% Zielinflationsrate der EZB + 1%-2% Euro-Stabilitätszuschlag erfolgen würde, während die wettbewerbsschwachen Länder umgekehrt einen entsprechenden Stabilitätsabschlag einhalten müssten?
Nummer fünf: Wenn in D (noch) höhere Löhne gezahlt werden, dann lockt das noch mehr Arbeitnehmer aus ganz Europa hierher.
Dann wird hier noch mehr produziert, und dementsprechend mehr exportiert.
@ Michael Hoffmann: Dass höhere Löhne Arbeitnehmer anlocken, mag ja noch stimmen. Dass der Export steigt, dagegen nicht, denn die relativ steigenden Löhne erhöhen die relativen Preise zulasten der deutschen Exporteure. Und das wäre auch gut so, denn nur durch eine relative Abwertung können die Krisenländer aufholen. Es können eben nicht alle zugleich wettbewerbsfähiger werden!
@ Tunt:
Entweder, die zusätzlich angelockten Arbeitnehmer drücken durch das Überangebot wieder die Löhne.
Oder sie werden alle zu den höheren Löhnen beschäftigt; das geht sinnvollerweise nur mit zusätzlicher Produktion. Diese zusätzlichen Produkte müssen zu einem erheblichen Teil exportiert werden, um die zusätzlichen Arbeitnehmer bezahlen zu können (die ggf. sparsam leben und Geld nach Hause zur Verwandtschaft schicken).
Das Anheben von Löhnen zur Förderung der Binnennachfrage fkt. evtl. in einer geschlossenen Volkswirtschaft, aber nicht in einem länderübergreifenden offenen Markt wie es die EU inzwischen in vielerlei Hinsicht ist, für Arbeitnehmer und für Produkte.
@ Michael Hoffmann: Leider gehen sie auf das Lohn-Preis-Problem in Ihrer Antwort nicht ein. Die relative Verteuerung deutscher Produkte bremst den Export und fördert den Import gerade im Verhältnis zu Euro-Ländern.
Und wieso sollen höhere Löhne zu zusätzlicher Produktion führen? Das behaupten Sie nur. Der Lock-Effekt für ausländische Arbeitnehmer verpufft nämlich, wenn die deutschen Unternehmen gar keine zusätzlichen Arbeitskräfte benötigen.