Griechenland soll zwei Jahre mehr Zeit bekommen, um seine Sparziele bzw. –vorgaben zu realisieren. Dieses Ergebnis verkündete Jean-Claude Juncker, der Chef der Euro-Gruppe, am 12. November auf einer Pressekonferenz und stellte sich damit demonstrativ gegen die Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde. Sie hatte hingegen gefordert, Griechenland habe seine vereinbarten Sparziele bis 2020 umzusetzen, um die Tragfähigkeit der Schulden zu gewährleisten. „Was wir als IWF als wichtig ansehen, ist eine Tragfähigkeit der griechischen Schulden“, sagte sie[1]. „Aus unserer Sicht ist der angemessene Zeitplan: 120 Prozent im Jahr 2020. Wir haben ganz klar unterschiedliche Ansichten.“ Das Beharren des IWF auf dem vereinbarten Zeitpunkt könnte ein Hinweis darauf sein, dass man die bisherige (politische) Praxis, unrealistische Annahmen über die Entwicklung Griechenlands zur Grundlage der weiteren Planungen zu machen, nicht länger mittragen will. Sieht der IWF die Schuldentragfähigkeit nämlich als nicht gesichert an, darf er keine weiteren Kredite an Griechenland vergeben.
Vor diesem Hintergrund stellen sich insbesondere 3 Fragen, die im Folgenden diskutiert werden sollen:
- Woher kommt der Zielwert von 120 Prozent und wie sinnvoll ist er?
- Wie wird die Finanzierungslücke von 33 Mrd. Euro gedeckt, wenn der Zielwert erst 2022 erreicht werden muss?
- Wie wahrscheinlich ist es, dass Griechenland 2020 oder 2022 das angestrebte Ziel einer Schuldenstandsquote von 120 Prozent erreicht?
Zu 1.: Die angestrebte Schuldengrenze von 120 Prozent ist in keiner Weise analytisch fixiert. Betrachtet man die dynamische Version der staatlichen Budgetrestriktion, die Gleichung (1) zeigt, dann ergibt sich die Neuverschuldungsquote (Γb) aus der Primärungleichgewichtsquote [Primärausgabenquote (gP) – Einnahmenquote (t)] und dem Produkt aus der Differenz zwischen dem durchschnittlichen Zinssatz (z) und dem nominalen Wirtschaftswachstum (x) sowie der Schuldenstandsquote am Ende der Vorperiode (b). Die Primärausgaben ergeben sich dabei aus den gesamten Ausgaben abzüglich der Zinszahlungen. Die Quoten sind jeweils auf das nominale BIP bezogen. Als tragfähig könnte eine Schuldensituation dann angesehen werden, wenn die Verschuldungsquote (b) nicht weiter steigt, also die Neuverschuldungsquote (Γb) einen Wert von null aufweist. Erst eine negative Neuverschuldungsquote führt hingegen zu einem Rückgang der Schuldenstandsquote.
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Weist ein Land nun eine Schuldenstandsquote von 120 Prozent (b = 1,2 in Gleichung 1) auf, dann hängt die Tragfähigkeit dieser Belastung vom durchschnittlichen Zins, vom Wirtschaftswachstum und der Primärungleichgewichtsquote ab. Geht man einmal von einer längerfristigen Primärüberschussquote von 4 Prozent aus (die erste Klammer in Gleichung 1 nimmt dann einen Wert von –0,04 an), so impliziert eine unveränderte Schuldenstandsquote von 120 Prozent, dass die zweite Klammer einen Wert von +0,033 annimmt. Die durchschnittliche Zinsbelastung kann also um 3,3 Prozentpunkte über dem nominalen Wirtschaftswachstum liegen. Aus der gegenwärtigen Sicht stark subventionierter Zinsen für Griechenland (das Land zahlt einen durchschnittlichen Zins von etwa 3 Prozent) wäre also die Tragfähigkeit selbst bei einem Null-Wachstum gewährleistet. Hat man jedoch die Vorstellung, Griechenland würde sich ab 2021 oder 2023 wieder am privaten Kapitalmarkt finanzieren können, dann läge der Zinssatz – aufgrund der zurückliegenden Erfahrungen – sicherlich höher als 3 Prozent. Wie stark dies dann auf den durchschnittlichen Zins durchschlägt ist wiederum von der Fristigkeit der Verschuldung abhängig. Das bedeutet aber grundsätzlich, dass das notwendige nominale Wirtschaftswachstum ebenfalls höher ausfallen müsste, um bei den sonstigen Annahmen einen Wert von 0,033 für den zweiten Klammerausdruck und damit die Tragfähigkeit zu gewährleisten. Niedrigere Primärüberschüsse können dabei durch ein höheres Wirtschaftswachstum kompensiert werden und umgekehrt. Ob eine Schuldenstandsquote von 120 Prozent tragfähig ist oder nicht, hängt folglich von den sonstigen Einflussfaktoren in Gleichung 1 und insbesondere vom Vertrauen der Anleger ab, das über die Zinshöhe entscheidet. Erwartet man hingegen auch von Griechenland, dass der Grenzwert von 60 Prozent für die Schuldenstandsquote zumindest längerfristig erreicht wird, dann bedarf es nach 2020 nicht nur einer Neuverschuldungsquote von null, sondern sie muss negative Werte annehmen. Dies setzt dann aber noch höhere Primärüberschussquoten und Wachstumsraten als in den vorherigen Beispielen voraus.
Zu 2.: Wird die Frist für Griechenland, innerhalb der die Sparziele erfüllt werden müssen, um zwei Jahre verlängert, so entsteht eine Finanzierungslücke von – aus heutiger Sicht – etwa 33 Mrd. Euro, die es zu decken gilt. Diese Lücke entsteht insbesondere dadurch, dass Griechenland die angestrebte Konsolidierung des Staatshaushalts nicht mit der vorgesehenen Geschwindigkeit realisiert. Die aktuelle Entwicklung veranschaulicht nachfolgende Abbildung.[2]
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Damit stellt sich im nächsten Schritt aber auch die Frage, wie diese Finanzierungslücke geschlossen werden soll. Ein drittes Griechenland-Rettungspaket ließe sich – insbesondere in Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl im nächsten Jahr – wohl kaum politisch durchsetzen. In der Diskussion steht daher zum Beispiel eine (weitere) Zinssenkung. Eine solche Maßnahme hätte auf der einen Seite den Vorteil, dass keine (offenen) zusätzlichen Ausgaben entstehen. Allerdings kommt eine solche Maßnahme einem (verdeckten) Forderungsverzicht gleich, da man die Zinsen immer weiter unter den Marktzins senkt. Auf der anderen Seite könnte mit einer solchen Maßnahme der durchschnittliche Zins, den Griechenland in den nächsten Jahren zu zahlen hat, reduziert und damit die Rückführung der Schuldenstandsquote unterstützt werden (siehe Gleichung 1). Ein zusätzlicher Kredit würde hingegen die Verschuldung Griechenlands (noch) weiter erhöhen (b steigt in Gleichung 1) und dadurch das angestrebte Ziel einer Schuldenstandsquote von 120 Prozent in noch weitere Ferne rücken lassen. Weitere vorgeschlagene Maßnahmen umfassen einen (deutlichen) Aufschub der Rückzahlungen sowie einen Schuldenrückkauf zu den gegenwärtig niedrigen Marktpreisen. Beim letzten Vorschlag ist jedoch offen, wie der Preis durch den Ankauf reagiert und wie Griechenland diese Maßnahme finanzieren soll.
Zu 3.: Die Kernfrage in diesem Zusammenhang lautet jedoch, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Griechenland bis 2020 oder 2022 aus eigener Kraft eine Schuldenstandsquote von 120 Prozent erreichen kann – unabhängig von der konkreten Begründung dieses Ziels. Dazu wurden vom Autor – auf der Basis von Gleichung 1 – Simulationen durchgeführt, deren Ergebnisse Abbildung 2 zeigt. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Annahmen, die den verschiedenen Szenarien zugrunde liegen und welche die folgende Übersicht zusammenfasst.[3]
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Szenario-EU basiert dabei auf den Annahmen der EU-Kommission bis 2014 (siehe Anmerkungen zu Übersicht 1) und wurde entsprechend ergänzt, um das angestrebte Ergebnis der EU-Finanzminister – eine Schuldenstandsquote Griechenlands von 120 Prozent bis 2022 – zu gewährleisten. Dabei wird allerdings berücksichtigt, dass gemäß der neuen Vorschläge eine Primärüber-schussquote von 4,5 Prozent nicht bereits 2014 sondern erst 2016 erreicht werden soll. Das Alternativ-Szenario 1 geht hingegen von weniger positiven (realistischeren) Entwicklungen in Bezug auf die PUQ und das Wirtschaftswachstum aus, während das Alternativ-Szenario 2 zusätzlich eine Senkung des durchschnittlichen Zinssatzes berücksichtigt, der im Rahmen der Überbrückungsfinanzierung zustande kommen könnte. Dabei wird hier nicht nur eine Zinssenkung von einem Prozentpunkt unterstellt, wie sie im Moment diskutiert wird, sondern ein kompletter Zinsverzicht von Seiten der öffentlichen Gläubiger. Dies würde den durchschnittlichen Zins, der auf die verbliebene Schuld gegenüber Privaten entfällt, auf etwa 1 Prozent senken.
Betrachtet man zunächst das (revidierte) EU-Szenario, so zeigt nachfolgende Abbildung, dass der Höchststand der Schuldenstandsquote 2014 mit knapp 190 Prozent erreicht würde. Danach sinkt sie, würde jedoch 2020 – dem bisherigen Zieljahr – immer noch etwa 150 Prozent betragen. 2022 könnte man jedoch einen Wert von 124 und 2023 einen Wert von 113 Prozent erreichen. Damit wäre die Vorgabe (fast) erfüllt. Das Problem bei diesem Szenario bilden allerdings die Annahmen. Das EU-Szenario erfordert eine längerfristige Primärüberschussquote von 6 Prozent und ein (durchschnittliches) nominales Wirtschaftswachstum von 7 Prozent. Hinzu kommt, dass der Umschwung bei beiden Größen trotz des Aufschubs recht schnell einsetzen müsste, da Griechenland im Jahre 2011 immer noch eine Primärdefizitquote von 2,3 Prozent und ein negatives Wachstum in Höhe von 6,1 Prozent aufwies. Ob die Ziele bzw. Prognosen für das Jahr 2012 eingehalten werden können ist dabei heute schon wieder fraglich. So sehr man Griechenland also eine solch rasante Entwicklung wünschen würde, so unwahrscheinlich ist sie aber auch. Die Vorstellungen der Euro-Finanzminister, die sich dieses Szenario zueigen gemacht haben, grenzen also an ein Wunder. Dies belegt auch ein Blick in die Vergangenheit. In den Jahren von 1980 bis 2010 ist es aus einer Grundgesamtheit von 27 Ländern nur in 3 Prozent der Fälle gelungen, einen Primärüberschuss von 5 Prozent oder mehr zu erreichen. Ferner haben es während dieser Zeit nur zwei Länder – nämlich Kanada und Belgien – geschafft, eine solche Primärüberschussquote über einen Zeitraum von mindestens 4 Jahren aufrecht zu erhalten.[4] Eine solche Anstrengung ist aber – wie die Übersicht der Annahmen zeigt – auch in Griechenland notwendig, um die gesetzten Ziele zu erfüllen. Ähnliches gilt für die Wachstumsrate des nominalen Bruttoinlandsproduktes. Selbst in den Jahren von 2001 bis 2009, als die Entwicklung durch niedrige Realzinsen „angefeuert“ wurde, kam Griechenland „nur“ auf eine durchschnittliche nominale Wachstumsrate von 6,2 Prozent. Eine auf längere Sicht durchschnittliche nominale Wachstumsrate von 6 oder gar 7 Prozent erscheint daher nur auf Kosten einer höheren Inflation erreichbar.
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Bei den Alternativ-Szenarien 1 und 2, denen aus Sicht des Verfassers deutlich realistischere Entwicklungen zugrunde liegen, wird das Ziel einer Schuldenstandsquote von 120 Prozent im Jahre 2022 deutlich verfehlt. Alternativ-Szenario 1 weist 2022 noch einen Wert von 186 Prozent auf, Alternativ-Szenario 2 immer noch eine Quote von 150 Prozent. In beiden Fällen liegt man also deutlich über dem angestrebten und von den Euro-Finanzministern für wahrscheinlich gehaltenen Zielwert. Gleichwohl setzen diese beiden Szenarien ebenfalls voraus, dass die Primärüberschussquote Griechenlands auch in den nächsten Jahren kontinuierlich steigt. Ein Teil dieses Effektes mag durch wachstumsbedingte höhere Steuereinnahmen zustande kommen. Es wird jedoch darüber hinaus auch für die kommenden Jahre notwendig sein, dass weitere Ausgabenkürzungen in Griechenland vorgenommen werden. Ähnliche Berechnungen liegen wohl auch den Überlegungen des IWF zugrunde. Daher erscheint es folgerichtig, wenn dessen Direktorin Lagarde einen zweiten Schuldenschnitt (hair-cut) fordert, der nun allerdings die öffentlichen und nicht wie im März dieses Jahres die privaten Gläubiger treffen soll. Nur mit einer solchen Maßnahme scheint – unter halbwegs realistischen Annahmen – eine Rückführung der griechischen Schuldenstandsquote auf 120 Prozent bis 2020 oder selbst bis 2022 überhaupt denkbar.
Diese Lösungsvariante weisen die Euro-Finanzminister jedoch weit von sich. Das ist politisch verständlich, würde doch ein solcher Schritt den Bürgern zum ersten Mal wirklich deutlich machen, dass die Griechenlandrettung ihr (Steuer-)Geld kostet. Es wären nicht mehr nur Kredite, die gegen strenge Auflagen vergeben werden und sogar noch Zinserträge erbringen, sondern es wären auf einmal reale Verluste, weil die vergebenen Kredite (teilweise) ausfallen. Daher wird sich insbesondere die deutsche Regierung im Vorfeld der Bundestagswahl im nächsten Jahr mit allen Mitteln gegen eine solche Lösung stemmen. Selbst wenn man diese ökonomischen Realitäten und Notwendigkeiten vielleicht zunächst mit Hilfe eines verdeckten Forderungsverzichts in Form niedrigerer Zinsen für Griechenland umgehen mag, so wird man längerfristig nicht umhin kommen, den Tatsachen ins Auge zu schauen. Die aufgezeigten Szenarien und die ihnen zugrunde liegenden Zahlen zeigen, dass das angestrebte Ziel ohne einen Forderungsverzicht öffentlicher Gläubiger nicht zu erreichen ist. Hinzu kommt, dass eine Reduktion der Zinsen auf öffentliche Kredite für Griechenland auch wieder Begehrlichkeiten bei den anderen Programmländern (Irland und Portugal) auslösen wird. Es wird daher Zeit, dass sich die Politik nicht länger hinter Wunschdenken verschanzt, sondern die ökonomischen Realitäten akzeptiert und auch der Öffentlichkeit gegenüber zugibt. Die nächste Gelegenheit dazu besteht am 20. 11. 2012, wenn sich die Euro-Finanzminister erneut zu Beratungen mit dem IWF treffen, um sich über das weitere Vorgehen zu einigen.
Fußnoten
- Die Neuregelung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
Schlimmer geht immer! - 1. Februar 2024 - Der Brexit und das Vereinigte Königreich
Drei Jahre danach - 8. Januar 2024 - Wie geht es weiter mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt? - 20. August 2022
5 Antworten auf „Euro-Finanzminister hoffen auf ein Wunder – oder: Der (politische) Zweck heiligt die Mittel“