Zurück zum Primat der Politik?
Schlechte Vorsätze der Europapolitik für das neue Jahr

Wie jede große Krise, so wird auch die europäische Staatsschuldenkrise als Gelegenheit wahrgenommen, grundsätzliche politische Veränderungen anzustoßen. So bekennt der Bundesfinanzminister im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen ganz offen: „Es ist ja kaum jemals so intensiv über Europa geredet worden wie in den letzten Jahren. Ohne Krise bewegt sich nichts.“ Die Forderung nach einer echten europäischen Regierung, oder doch zumindest einem direkt gewählten europäischen Präsidenten, schiebt Wolfgang Schäuble gleich nach.

Auch aus der angewandten Philosophie kam bereits vor einigen Monaten eine Wortmeldung. Richard David Precht frohlockte damals in der Süddeutschen Zeitung angesichts der Londoner Rede von Mario Draghi und der nahenden Einsatzbereitschaft des ESM, dass die europäischen Staaten nun endlich weniger abhängig von privaten Geldgebern seien. Wenn zustimmend die Rede ist von der „Idee, Staatshaushalte von der Geißel des Spekulationsgeschäfts zu befreien“, so ist die Sache klar: Wenn Staaten zur Finanzierung ihrer Haushalte um die Zahlungswilligkeit privater Marktteilnehmer buhlen müssen, so ist das unter ihrer Würde, ja geradezu Majestätsbeleidigung.

Damit reiht sich Precht in die Reihe jener Strategen ein, die das Kernproblem der Krise in der fehlenden Durchsetzung des Primats der Politik sehen. Könnte die Politik dem Markt die Bedingungen diktieren, so wäre schließlich alles viel einfacher. Die Ideen zur Durchsetzung des Primats der Politik sind vielfältig. Manche setzen auf europäische Zentralisierung, in der Hoffnung, daß pure staatliche Größe bereits einschüchternd genug wirkt und es außerdem für den Bürger teurer wird, mit Abwanderung zu reagieren. Wer nicht von rechtstaatlichen Skrupeln gebremst wird, der schlägt auch mal eine Zwangsanleihe vor. Aber was soll man mit Gérard Depardieu machen, wenn er nach Belgien flieht? Ausreiseverbote? Nein, natürlich würde eine koordinierte europäische Steuerpolitik helfen, dem Primat der Politik Geltung zu verschaffen. Sogar gegenüber Obelix.

Es wirkt dabei etwas geschichtsvergessen, wenn gelegentlich von einer anzustrebenden Wiederherstellung des Primats der Politik geredet wird, als sei es erst in den letzten Jahren verloren gegangen, vielleicht gar durch die Globalisierung, die bekanntlich an allem Schuld hat. Dabei wird es schon Habsburgerkaiser im 16. Jahrhundert gewurmt haben, wenn sie, da half kein Gottesgnadentum, bei der Geldbeschaffung auf das Wohlwollen gewöhnlicher Kaufleute angewiesen waren. Später wird manch ein Zensor sich geärgert haben, wenn ein kritischer Geist einfach in den Kleinstaat nebenan umzog und von dort aus seine Pamphlete verbreitete. Und als man in Skandinavien vor gar nicht langer Zeit versuchte, Einkommen mit enteignenden Grenzsteuersätzen über 90 Prozent zu besteuern, wird man über Umzugswagen auf dem Weg in die ferne Schweiz auch wenig amüsiert gewesen sein.

Es wurde schon oft geschrieben, aber es wird trotzdem in der aktuellen Diskussion stets ausgeblendet, daß ein wesentlicher Grund für den kulturellen, zivilisatorischen und wirtschaftlichen Erfolg Europas über Jahrhunderte gerade darin bestand, daß das Primat der Politik gegenüber den privaten Angelegenheiten der Bürger eben nicht durchgesetzt wurde. Nicht das Primat der Politik ist Europas Erfolgsrezept, sondern das Wissen souveräner, mit Selbstvertrauen ausgestatteter Bürger, daß sie sich dem Zugriff ihres Staates entziehen können, wenn dieser die subjektiv empfundenen Grenzen des Erträglichen überschreitet.

Mit dem Binnenmarktprojekt, mit der Gewährleistung von Freizügigkeit für ihre Bürger, war die EU eigentlich auf dem besten Wege, an das alte europäische Erfolgsrezept anzuknüpfen. Ein Europa, das wirtschaftliche Offenheit und politischen Wettbewerb sicherstellt wäre ein Freiheitsprojekt. Es ist allerdings absehbar, daß wir uns hiervon auch im Jahr 2013 wieder einige Schritte entfernen werden.

Die europäische Politik ist gerade dabei, in der Terminologie des kürzlich verstorbenen Albert O. Hirschman, den Bürgern die Möglichkeit zum exit zu bestreiten und nur noch voice zuzulassen. Die individuelle Verweigerung des Kaufes spanischer Staatsanleihen durch einen niederländischen Bürger wird zum Beispiel konterkariert durch die zwangsweise Mithaftung dieses Bürgers als Steuerzahler für Verluste aus spanischen Staatsanleihen, die dem ESM oder der EZB entstehen könnten. Selbst durch einen Umzug innerhalb der EU wird er diese zwangsweise Mithaftung nicht abschütteln können.

Eine konsequente Durchsetzung des Primats der Politik nicht beklagenswert zu finden setzt einen verengten, rein politischen Freiheitsbegriff voraus, der lediglich die Möglichkeit der Bürger zu politischer Partizipation in demokratischen Verfahren betont — wobei selbst diese auf der europäischen Ebene bekanntlich völlig unzureichend ist. Individuelle Freiheit besteht aber auch und vielleicht vor allem darin, sich dem Politischen entziehen und eine substantielle Sphäre der Privatautonomie vor dem Politischen bewahren zu können. Leider wird dies in der europapolitischen Diskussion schon längst nicht mehr angemessen berücksichtigt.

Stattdessen wird das Ziel der Erhaltung der Währungsunion mit allen gegenwärtigen Mitgliedern willkürlich absolut gesetzt. „Scheitert der Euro, so scheitert Europa“ sagt die Bundeskanzlerin ohne weitere Begründung. Damit wird aber auch von vornherein jede Diskussion darüber unterbunden, welche politischen Kosten wir für die Beibehaltung der Währungsunion in ihren aktuellen Grenzen aufzuwenden bereit sind. Die überdehnte Währungsunion war von Beginn an ein politisches Projekt, das gegen den Rat zahlreicher prominenter Ökonomen verfolgt wurde, die hier keinen sinnvollen, dauerhaft stabilen Währungsraum sahen. Dies ist vielleicht die gefährlichste Version des Primats der Politik: Lernresistent ökonomische Gesetze zu ignorieren und politische Elitenprojekte um jeden Preis weiterverfolgen zu wollen.

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