Der Organallokationsskandal ist einer breiteren Öffentlichkeit, die sich nicht ernsthaft um das Schicksal transplantationsbedürftiger Patienten und den Grundbefund der Knappheit an Spenderorganen kümmern will, ein willkommener Anlass zur Klage über „korrupte Ärzte“. Das Thema der „gerechten Verteilung“ in der Transplantationsmedizin ist aber zu wichtig, um es allein solchen, von emotionalen Befindlichkeiten gefärbten Diskussionen über individuelles Fehlverhalten zu überlassen. Die zu beobachtenden Probleme waren auch in der ärztlichen Ethik angelegt.
1. Mediziner als Anwälte
Mediziner vergessen gern, dass sie zwar von Ethik reden, aber etwas anderes meinen als jene, die Gemeinwohlorientierung und Verallgemeinerbarkeit mit der Ethik verbinden. Ethik der Medizin gebietet es, Partei zu nehmen für den je eigenen Patienten und nicht für die Allgemeinheit der Patienten. Den Patienten A und dessen Wohl gegen das des Patienten B abzuwägen und dann unparteiisch zu entscheiden, ist der ärztlichen Rolle an sich wesensfremd, wird aber zunehmend von Ärzten verlangt.
Wir wollen aber nicht vom unparteiischen Richter behandelt werden, sondern von einem Anwalt speziell unserer partikularen Interessen. Nur in Ausnahmesituationen großer Knappheit – Katastrophenfälle bei zu knappen Intensivkapazitäten etwa – wollen wir die Abwägung zwischen verschiedenen Patienten nach Dringlichkeit der Behandlung zulassen („Triage“). Dann ist der Arzt in der Richter- und nicht in seiner eigentlichen Anwaltsrolle. Doch die Standesethik der Ärzte taugt nicht für die Rolle des Zuteilers. „Rationierungsagent der Gesellschaft“ hat der Arzt nicht gelernt. (Die Auffassung, dass ein Arzt, der ein Organ einem Patienten verschafft und dieses dadurch einem anderen vorenthält, sich dadurch des Totschlags oder der Beihilfe dazu an dem anderen schuldig machen könnte, ist wirklich erstaunlich, da dann fortwährend Totschläge nach den Allokationsregeln vorgenommen würden.)
2. Ärzte sind auch nur Menschen
Den Bürgern und potentiellen Patienten sollte klar sein, dass eine Mischung aus Eigeninteresse, zünftischen Verhaltensregeln („ärztliche Ethik“) und allgemeinen moralischen Orientierungen die Mediziner antreibt. Das Bild vom Arzt, der sich stetig für seine Patienten aufopfert und dabei zugleich nur dem gemeinen Wohl dienen kann, war immer schon absurd. Zum einen hat der Arzt eigene Interessen, zum anderen kann er gerade nicht primär dem gemeinen, sondern muss dem Wohl seines einzelnen Patienten verpflichtet sein.
Die ärztliche Ethik der Parteilichkeit für den eigenen Patienten steht im Widerspruch mit der Gemeinwohlverpflichtung einer öffentlich-rechtlichen Medizin, die den Arzt als Zuteilungsagenten knapper Mittel (miss-)brauchen will. Sobald es um ernsthafte Verteilungsprobleme geht, wird diese Rolle unerfüllbar. Der Arzt darf diese Fragen nicht entscheiden können. Erlaubt man den Ärzten, auf die Allokation in solchen fundamentalen Belangen Einfluss zu nehmen, dann müssen sie die Regeln zugunsten ihrer je eignen Patienten dehnen, soweit es eben geht. Die Parteinahme, die wir im Bereich allgemeiner Rechtsregeln in die Nähe der Korruption rücken, ist das Hauptgebot der ärztlichen Ethik und hat den Transplantationsskandal zumindest begünstigt.
3. Transplantationsskandale und kein Ende?
Die gegenwärtigen Transplantationsskandale verdecken, dass die überwiegende Zahl der Transplantationszentren sich, soviel bislang bekannt, an die Regeln gehalten hat. Sie alle konkurrierten unter erschwerten Bedingungen um Organe für ihre Patienten. Ohne Organe kann man nicht transplantieren. Organe bekommt man aber nur, wenn die Patienten so dringlich sind, dass sie sich in unmittelbarer Todesnähe befinden. Befinden sich Patienten in dem Dringlichkeitszustand, in dem sie in Konkurrenz mit anderen ein Organ erhalten können, dann sind die Erfolgsaussichten der Transplantation gewöhnlich so niedrig, dass man die Patienten lieber als intransplantabel betrachten sollte. Wenn aber nicht alle Zentren solche Patienten als intransplantabel ansehen, dann bekommen genau die Zentren bevorzugt Organe, die unvertretbar schlechte Erfolgsaussichten akzeptieren, nur um an Organe zu kommen.
Die Organe sollen nach Dringlichkeit – bei der Leber Todesnähe bzw. Todeswahrscheinlichkeit – und Erfolgsaussicht verteilt werden. Es muss ein vernünftiger Ausgleich zwischen den beiden Dimensionen gefunden werden. Der Anreiz, diesen Ausgleich je nach Knappheitssituation zu finden, muss institutionell verankert sein. Dazu muss nachgehalten werden, wie lange die Patienten nach Transplantation mit den Organen überleben. Die Zentren müssen einen Anreiz bekommen, sich nicht an Transplantationen mit zu geringen Erfolgsaussichten heranzuwagen (Aussichten, die natürlich von Zentrum zu Zentrum qualitätsbedingt variieren).
Eine Art Gedankenexperiment: Natürlich geht es bei jedem Patienten, dem man eine Leber transplantiert, um das Leben, aber unweigerlich wird damit einem anderen Patienten eine Leber vorenthalten. Die Patienten sind dem Tode nahe, die Ärzte selber häufig in extremen Lagen. Sie wissen zugleich, dass sie nur dann Patienten in einem vernünftigen – noch Erfolg verheißenden — Dringlichkeitszustand transplantieren können, wenn sie die Parameter von Patienten manipulieren. Nur so können sie verhindern, dass die Organe an Patienten mit ganz geringen Erfolgsaussichten und höchster Dringlichkeit gehen. Zentren, die eine entsprechende Zurückhaltung nicht üben und durchaus mit gutem ärztlichem Gewissen für ihre Patienten Partei nehmen, schnappen auf die Erfolgsaussichten achtenden Zentren die Organe weg, weil sie dringlichere Patienten transplantabel melden. Dass das auch die Auslastung der eigenen Abteilung fördert, ist gewiss eine nicht unwillkommene Nebenfolge. … Das ist nicht nur ein Gedankenexperiment…
Wir sollten endlich unserer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen und politisch allgemeine Regeln festlegen, die nicht nur nach Dringlichkeit, sondern auch nach Erfolgsaussichten Organe verteilen. Es ist skandalös, die Ärzteschaft in Dilemmasituationen wie beschrieben zu bringen. Das muss aufhören.
Dass die Ärzte traditionell Verteilungsfragen als medizinische Fragen begreifen wollen, um ihre eigenen politisch-moralischen Vorstellungen zu privilegieren, ist eine Dummheit. In diesem Fall muss man die Ärzte vor sich selbst schützen und das, was nicht-medizinisch ist und der ärztlichen Parteilichkeitsethik entgegensteht, gesellschaftlich und politisch entscheiden. Regeln, die nur die Dringlichkeit überprüfbar machen, und dieser nicht ein objektiv messbares Korrektiv der Erfolgsaussicht (individualbezogen) bzw. des gemessenen Erfolges in der Vergangenheit als Grund für zukünftige Zuteilungen (zentrumsbezogen) entgegenstellen, provozieren die unerträglichen Missstände, die selbst das Fehlverhalten von Ärzten provozieren mussten. Und zwar ganz unabhängig von der Frage der Vorteilsnahme und Korruption.
4. Wie hat es alles so enden können?
Es stimmt, die Mediziner haben sich viele der jetzigen Probleme selbst zuzuschreiben. Sie führten den “moralischen Dackel“ der vermeintlich überlegenen ärztlichen Ethik solange aus, bis dem armen Hund das Wasser ausging. Er erscheint nur mehr als gewöhnlicher kleiner Kläffer, der moralisch bellt, aber nicht beißt.
Trotzdem sollten wir den Ärzten gerecht werden. Viele waren nach Einführung des sogenannten MELD scores 2006/2007 – dem Punktesystem nach dem die Spenderlebern in Deutschland mittlerweile im wesentlichen nach Dringlickeit vergeben werden sollen – verzweifelt. Sie berichteten, dass sie nun “ganz andere Patienten“ als nach dem vorigen System sahen. Viele Patienten waren und sind in einem so schlimmen Zustand, dass die Ärzte entweder extreme Komplikationen erwarten oder aber den direkten Misserfolg. Der Gesichtspunkt der Erfolgsaussicht scheint zu kurz zu kommen und eine geordnete Vorbereitung auf die Transplantation nicht mehr möglich zu sein (für eine empirische erste Betrachtung aus der Übergangszeit vgl. Ahlert et al 2009).
Die gelinde Verzweiflung  vieler beteiligter Mediziner war nicht geboren aus finanziellen Interessen oder gar “Gier“, sondern aus dem tiefen Gefühl, dass etwas schieflief. Man hat dann das System dadurch aufgeweicht, dass man nach und nach ca. fünfzig Prozent der Lebern durch Sonderregelungen am objektivierbaren MELD score vorbei verteilte. Das hatte zur Folge, dass unter den Medizinern ebenso wie unter den betreuten Patienten erneut das Mißtrauen wuchs, ob nicht manchmal im Rahmen der Sonderregelungen bestimmte Patienten durch „geschicktes“ Vorgehen der behandelnden Ärzte einen Vorteil auch gegenüber durchaus noch kränkeren Patienten erhalten konnten usw.
Vor Einführung des MELD wurden Organe nach klinischem und damit durchaus stark subjektivem Urteil verteilt. Einzelne Ärzte konnten, durch „Auslegung“ der diagnostischen Regeln erfolgreich für ihre Patienten einen Vorteil herausholen. In einer solchen Situation wurde weitgehende Auslegung zum Akt der Selbstverteidigung und nicht des agressiven Vorteilssuchens für die eigenen Patienten.
Jeder Arzt muss im Rahmen des legal zulässigen und der ärztlichen Standesnormen dafür sorgen, dass das Leben speziell seiner Patienten gerettet werden kann. Sobald sich Mißtrauen hinsichtlich der Regeltreue der anderen ausbreitet, wird der Arzt es ebenso wie sein – in Lebensgefahr schwebender Patient – als Akt der moralisch gerechtfertigten Notwehr empfinden, die Regeln weit zu deuten. Etwas anderes ist es, wenn es angesichts der involvierten fundamentalen Interessen zu einem Verhalten vom Typ „Not kennt kein Gebot“ kommt (vgl. dazu die nützliche Sammlung Lübbe 2004). Man macht nicht nur nicht vor Manipulation halt, sondern begeht schließlich sogar einen Rechtsbruch. Das ist nicht in Ordnung und muss durch bessere Regeln und bessere Kontrolle abgestellt werden.
Aber die Reform muss bewirken, dass zwischen Dringlichkeit und Erfolgsaussicht institutionell oder durch explizite Regeln ein Gleichgewicht erzeugt wird. Der sportlichen Begeisterung dafür, die Ärzteschaft als korrupten Haufen zu stigmatisieren, sollten wir entgegentreten, damit die wirklich wichtigen Fragen des Medizinsystems besser in den Blick kommen. Wir Bürger vertreten durch unsere Politiker werden unserer Verantwortung nicht gerecht. Dafür die Mediziner verantwortlich zu machen, ist nicht gerecht.
Literatur:
Ahlert, M., W. Granigg, G. Greif-Higer, H. Kliemt und G. Otto. 2009. “Prioritätsänderungen in Der Allokation Postmortaler Spender-Lebern. Grundsätzliche und aktuelle Fragen.“ In Priorisierung in der Medizin. Interdisziplinäre Forschungsansätze, ed. W. A. Wolgemuth and M. Freitag, 38–54. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
Lübbe, Weyma. 2004. Tödliche Entscheidung. Paderborn: Mentis.
- Zum 13. August
„Nie wieder Krieg, es sei denn, es geht gegen Sachsen!“ - 13. August 2024 - Widerspruchslösung in der Organentnahme
„Für und Wider“ - 16. Juni 2024 - Das Grundgesetz
Keuschheitsgürtel der Demokratie - 23. Mai 2024
Ich möchte hier aus libertärer Sicht insbesondere zum Thema Organspende noch etwas anmerken:
Organe sind wie viele andere Dinge des Lebens (Nahrung, Wasser, Medikamente usw.) lebenswichtig. Organe sind im Grunde die besondere Form eines lebenswichtigen Medikaments. Es ist vollkommen normal und auch wichtig, daß wir für ärztliche Dienstleistungen und auch Medikamente bezahlen. Entweder tun wir das direkt selbst oder aber sind versichert und unsere jeweiligen Versicherungen übernehmen die Zahlungen.
Nur bei Organen scheint die Welt auf dem Kopf zu stehen. Dort ist es sogar strafbar, für Organe zu zahlen. Der Staat zwingt Organspender (seien es nun die Spender selbst bei einer Lebendspende oder die Angehörigen bei einer Spende nach dem Tod des Spenders) dazu, ihre Organe kostenlos abzugeben.
Wundern uns dann die nahezu zwangsläufig zu erwartenden Skandale noch? Also mich jedenfalls nicht.
Es sähe ganz anders aus, würden Organe wie jedes andere lebenswichtige Medikament auch behandelt und der Produzent (Spender) dafür bezahlt. Die Zahl der Lebendspenden würde dramatisch ansteigen. Es gäbe keine Unterversorgung mehr mit Nieren beispielsweise, dem Organ, welches am häufigsten benötigt wird. Auch Teile der Leber kann man lebend spenden und einige andere Organe (Lunge, denn wir haben bekanntlich zwei davon) ebenso.
Der Spender würde profitieren, weil er einen erheblichen finanziellen Vorteil besäße. Der Empfänger würde profitieren, weil sein Leben gerettet oder seine Lebensqualität entscheidend verbessert würde.
Und schon kommt das allseits bekannte Argument: „Ja aber wenn der Empfänger doch nun arm ist, dann bekommt er ja kein Organ.“ Das ist allerdings mit jeder anderen medizinischen Dienstleistung auch so. Kein Arzt arbeitet kostenlos (es sei denn er entscheidet sich selbst dazu, ein Teil seiner Zeit zu spenden, was durchaus viele tun). Keine Apotheke verschenkt Medikamente (außer zu Spendenzwecken). Wir müssen immer für medizinische Dienstleistungen zahlen. Das tun wir entweder selbst oder eben unsere Versicherung.
Mich überrascht immer wieder die Unfähigkeit der Politiker die naheliegendste Lösungen zu erkennen. Aber das wiederum ist wohl eine typische Berufskrankheit – die nicht versicherbar ist.
Zum Kommentar des Libertäten Lesers: Ein wesentliches Qualitätsmerkmal von Vorschlägen zur Reform von Regeln der Allokation lebenswichtiger medizinischer Güter ist deren politische Akzeptabilität an der Wahlurne. Natürlich ist es eine merkwürdige Welt, in der menschliche Leichen-Organe fraglos als Gemeineigentum behandelt werden und Lebendspendern jede Verfügung über die eigenen Organe, die mit einer Vorteilsnahme verbunden ist, verboten wird. Aber die politische Welt, die ist nun einmal so. Als Teilnehmer am demokratischen Prozess müssen wir den endemischen Organsozialismus als Faktum akzeptieren. Auch der Rechtsstaat mit seinen liberalen Abwehrrechten muss im sozialen Prozess erzeugt werden. Legitimität würde er in den Augen der meisten Bürger verlieren, wenn man Organe zu echtem Eigentum werden ließe.