Das ägyptische Drama
Eine verfassungsökönomische Perspektive

Wenn ich mein Auto an der SB-Tankstelle vollgetankt habe, bieten sich mir zwei Möglichkeiten: Entweder ich bezahle und fahre erst dann weiter, oder ich bezahle nicht und fahre sofort weiter. Letzteres ist natürlich illegal, das heißt, es gibt eine Regel, die ein solches Verhalten verbietet. Aber hätte ich abseits der Moral auch einen Anreiz dazu, auf die verbotene Option selbst dann zu verzichten, wenn ich wüsste, dass mir der Besitzer der Tankstelle meinen Rechtsbruch nicht wird nachweisen können? Diese Frage hängt davon ab, wo ich mich befinde. Wenn ich mich irgendwo in der Fremde befinde, vom Tankstellenbesitzer nicht mehr erreicht und von niemandem erkannt werden kann, dann wird mich nur die gute Kinderstube an die Regel binden können, erst zu bezahlen und dann zu fahren. Sollte ich umgekehrt im Umfeld der Tankstelle bekannt sein und damit meinen Ruf als ehrbarer Mensch riskieren, und sollte ich vielleicht auch einen unangenehmen Besuch eines aufgebrachten Tankstellenbesitzers fürchten müssen, dann wird es sehr wahrscheinlich in meinem eigenen Interesse liegen, zunächst zu bezahlen und dann erst weiter zu fahren. Ich werde die Regel also selbst dann befolgen, wenn der Bruch der Regel keine rechtlichen Folgen hätte. Regeln, deren Einhaltung im Interesse derjenigen liegt, deren Verhalten durch die Regel beschränkt wird, nennt man selbsterzwingend. Damit selbsterzwingende Regeln eingehalten werden, braucht es keine übergeordnete Instanz, wie etwa den Staat.

Was aber, wenn eine Regel nicht selbsterzwingend ist und wenn es auch keine übergeordnete Instanz gibt, die die Regeltreue von oben erzwingt, weil es der Staat selbst ist, der handelt? Dann befinden wir uns zum Beispiel in einem Gemeinwesen, das sich anschickt, eine Demokratie einzuführen, das es aber noch nicht geschafft hat, diesen Regeln eine selbsterzwingende Struktur zu verleihen. Denn es ist keineswegs natürlicherweise im Interesse demokratischer Machthaber, die Regeln der Demokratie einzuhalten. Es könnte von Fall zu Fall viel besser sein, zum Beispiel Richter unter Druck zu setzen, damit diese bestimmte Urteile sprechen und auf diese Weise politische Konkurrenten ausschalten. Es könnte nützlich sein, Gesetze und Verordnungen im Nachhinein zu verändern, Wahlregeln an die Bedürfnisse der Regierung anzupassen und so weiter. Und schließlich: Warum sollte ein Regierungschef überhaupt sein Büro räumen, „nur“ weil er abgewählt wurde? Wer zwingt ihn eigentlich dazu? Und wenn ihn einer zwingt, wer sollte das sein und auf der Basis welcher Legitimation?

Solche Fragen sind auch unter Fachleuten lange wenig beleuchtet worden, weil man annahm, dass demokratische Machthaber so etwas wie eine demokratische Ethik verinnerlicht haben und sich aus diesen Gründen auch dann an die Regeln der Demokratie halten, wenn das nicht in ihrem Interesse liegt; so wie die meisten Autofahrer immer und überall ihre Tankrechnung zahlen, ganz egal, ob man sie beim Gegenteil erwischen könnte oder nicht. Ganz gewiss gibt es auch viele Persönlichkeiten in der Politik, welche in einem solchen Sinne ehrlich sind. Nur: Was ist, wenn ein Demokrat einmal nicht so lupenrein ist, wie es im Sinne der demokratischen Regeln wäre? Welches wäre dann die höhere Macht, die ihn zurecht weist? Und woraus sollte diese wiederum ihre Legitimation entfalten? Dazu fallen uns schnell Systeme der Gewaltenteilung ein, der „checks and balances“. Aber was ist, wenn auch an anderer Stelle kein Interesse an der Erhaltung der demokratischen Regeln besteht, und wenn zudem die gegenseitige Kontrolle verschiedener staatlicher Instanzen nicht im Sinne einer unsichtbaren Hand der Selbsterzwingung demokratischer Regeln dient? Dann könnte beispielsweise jemand auf die Idee kommen, das Büro des abgewählten Regierungschefs gewaltsam zu räumen, aber nur mit dem Ziel, sich selbst dort dauerhaft niederzulassen. Wer wäre dann die legitime Instanz, um diesem neuerlichen Treiben wiederum Einhalt zu gebieten? Am Ende natürlich immer das Volk als Ganzes, denkt man mit einer gewissen Berechtigung, aber das Volk müsste sich nun erst einmal organisieren. Es müsste in einer konzertierten Aktion Druck ausüben, was jeden einzelnen in ein möglicherweise hohes Risiko setzt. Gewalt und Bürgerkrieg könnten selbst dann die Folge sein, wenn das Volk selbst mit seinem Protest friedlich bleibt, und auch wenn eine Revolution von Erfolg gekrönt war, müsste jemand in die Macht gesetzt werden, von dem man annehmen darf, dass dieser die Regeln der Demokratie (wieder) einhält. Und wieder: Was ist, wenn sich herausstellt, dass er es aus eigenen Stücken nicht tut und dass die Regeln auch nicht selbsterzwingend sind?

Noch schwieriger wird es, wenn noch gar keine Einigkeit darüber besteht, welches die Spielregeln der Demokratie überhaupt sind oder einmal sein sollen. Dann wird ein Machthaber nach einer Abwahl möglicherweise sogar mit einer gewissen Berechtigung in seinem Büro bleiben mit dem Argument, dass seine Abwahl abseits legitimer Regeln stattgefunden habe. Andere werden das anders sehen und eine bestimmte Gruppe als neue legitime Macht inthronisieren wollen, und wieder andere werden wieder eine andere Gruppe als neue legitime neue Machthaber eingesetzt sehen wollen. Jede Gruppe hätte dann aus einer gewissen Perspektive heraus Recht oder Unrecht; und sie mögen doch allesamt überzeugte und ehrliche Demokraten sein. Um solchen Wirrungen zu entkommen, müsste man sich also erst einmal auf gemeinsame Regeln einigen. Aber wie will man sich demokratisch auf Regeln einigen, wenn man noch keine Regeln der Demokratie hat, auf deren Basis man sich einigen soll? Diesem Zirkel zu entfliehen, ist grundsätzlich unmöglich, und deshalb kann keine Demokratie gedeihen, wenn nicht von irgendwo grundlegende Regeln hergekommen sind oder sich entwickelt haben, die von der allergrößten Mehrheit der Bevölkerung anerkannt werden – warum auch immer.

Aus allen diesen Gründen ist das gängige Bild über die Entstehung von Demokratien, welches uns allen eingeimpft wurde, irreführend. Nach diesem Bild sind Demokratien entstanden, weil das Volk sich die Herrschaft einer kleinen Elite nicht mehr bieten ließ, weil es die Herrscher von der Macht entfernt und sich sodann in demokratischer Einigkeit eine freiheitliche Verfassung gegeben hat, nach der das Volk von nun an leben wollte. Die Mutter aller Varianten dieses Bildes ist die Französische Revolution. Aber wenngleich diese Revolution so vieles verändert und auch manche Weiche in Richtung auf eine freiheitliche Gesellschaft gestellt hat, so hat sie eines doch gewiss nicht geschaffen: eine parlamentarische Demokratie. Dazu hat es am Ende mehrerer weiterer Anläufe und über anderthalb Jahrhunderte gebraucht, bis die vierte Republik nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich eine stabile Demokratie bescherte. Es gibt auf der Welt ein paar Demokratien, deren Entstehung auf den ersten Blick dann doch dem Bild von dem Volk entsprechen, welches eine herrschende Macht davongejagt und sich im Anschluss eine demokratische Verfassung gegeben hat. Aber das sind nur ein paar, und selbst diese Fälle rücken immer weiter von dem idealisierten Bild ab, je genauer man hinsieht.

Das alles lässt sich gut mit zwei Grundproblemen erklären: Erstens kann man demokratische Regeln nicht auf demokratischem Wege im Rahmen demokratischer Regeln schaffen, die wiederum demokratisch im Rahmen demokratischer Regeln geschaffen wurden… Denn das endet in einem unendlichen Regress oder, etwas plakativer ausgedrückt, in einer Endlosschleife. Daher wird es immer mehr oder weniger zufällig geschehen oder auch nicht geschehen, dass demokratische Regeln von einem hinreichend großen Teil der Bevölkerung als legitim erachtet werden. Und zweitens sind diese Regeln nicht schon deshalb selbsterzwingend, weil sie allgemein als legitim erachtet werden – nicht einmal, wenn restlos alle sie als legitim erachten. Denn auch ein Tankstellenkunde könnte einsehen, dass erst bezahlt werden muss und dann weitergefahren, und diese Regel dann dennoch brechen, weil das einfach günstiger für ihn persönlich ist. Dass man dazu unmoralisch handeln muss, steht auf einem anderen Blatt. Ein Machthaber wird es, was die Moral angeht, sehr häufig wesentlich leichter haben. Denn es gibt viele Möglichkeiten, eine Rechtfertigung für diesen oder jenen Regelbruch zu finden; zum Beispiel unter Verweis auf außergewöhnliche Situationen und darauf, dass demokratischen Regeln unter normalen Bedingungen durchaus ihren Sinn hätten, diese oder jene schwierige Ausnahmesituation hier und jetzt dann aber doch den mutigen Schritt zum Abweichen von der reinen Lehre erforderten.

Hier nun kommen die äußeren Mächte ins Spiel. Sie können als Quelle legitimer Regeln des politischen Handelns und zugleich als Instanzen dienen, welche die Einhaltung dieser Regeln erzwingen. Solche äußeren Mächte können – so scheint es – spiritueller Natur sein, auf militärischer Gewalt beruhen oder auf dem Charisma einzelner Personen. Der spanische König Juan Carlos hat es Ende der 1970er Jahre – vielleicht auch gerade für sich selbst – als das Beste angesehen, seine von Franco geerbte allumfassende Macht weitgehend auf die repräsentative Funktion eines Königs in einer konstitutionellen Monarchie zu beschränken. Die nachgeordnete Macht der Gesetzgebung und der Verwaltung, erst Recht jene der Rechtsprechung, hat er an demokratisch zu legitimierende Instanzen abgegeben mit dem auch für ihn persönlich relevanten Vorteil, dass ihn der Unmut des Volkes über schlechte Regierungsarbeit nicht mehr die Position des Königs kosten konnte – und im Übrigen mag er gesehen haben, dass es Schlimmeres gibt als König in einer konstitutionellen Monarchie zu sein. Als im Jahre 1981 die Militärs gegen die Demokratie putschten, schickte Juan Carlos die Generäle einfach nur Kraft seiner persönlichen Autorität in die Kasernen zurück und rettete damit die spanische Demokratie.

In Westdeutschland wurde die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Westmächte etabliert und von außen gesichert. Manche Amerikaner glaubten dann, dass dies auch im Irak gelingen müsste. Aber es gelang nicht, und es gelang ebenso wenig in Afghanistan. Dann kam der arabische Frühling, und hier fehlte so ziemlich jede äußere Instanz, mit zwei Ausnahmen: dem Islam und in einigen Ländern dem Militär. Was den Islam angeht, so lässt sich in der Tat leicht so argumentieren: Wenn alle aus einem fest verankerten Glauben heraus eine einzig mögliche Menge an Spielregeln ableitet, dann ist das Problem der Legitimität grundsätzlich erst einmal gelöst. Und wenn dann noch alle an jenseitige Strafen glauben, die denen drohen, welche sich nicht an die Spielregeln halten, so ist auch das Problem fehlender Selbsterzwingung gelöst. Das genau schließt ein Teil der Bevölkerung im Irak, in Afghanistan und in der übrigen islamischen Welt aus dem Islam. Das Problem ist aber: Aus dem Islam folgt – ebenso wie aus dem Christentum und dem Judentum – alles und jedes, nur nicht eine einzig mögliche politische Verfassung. Hinzu kommt, dass die Menschen mal mehr und mal weniger im Islam verankert sind, manche gar nicht und wieder andere sind lediglich spirituell im Islam verankert, wünschen sich für das weltlich-politische Handeln aber Regeln, welche ausdrücklich nicht aus der spirituellen Welt folgen.

Aus diesen Gründen ist noch nie eine demokratische Verfassung aus einer Religion heraus entstanden. Nicht eine einzige! Voraussetzung war im Gegenteil immer eine mehr oder weniger umfassende Beschränkung der Religion auf das Spirituelle. Sodann ist man aber wieder auf das Problem zurückgeworfen, dass auf weltlichem Wege Regeln gefunden werden müssen, die von den allermeisten als legitim respektiert werden. Wie gesagt: Manchmal gelingt das, oft genug aber leider nicht. Wenn es in einem islamischen Land gelingt, dann beinhaltet das natürlich, dass alle auch die weltliche Herkunft dieser Regeln respektieren und den Anspruch aufgeben müssen, dass diese Regeln aus der Religion folgen müssten. Dann, allerdings nur dann, wäre auch der Islam problemlos mit einer freiheitlichen Gesellschaft im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie vereinbar.

Immer noch steht dann aber die Frage im Raum, woher die demokratischen Regeln kommen sollen, die von allen respektiert werden. Noch wissen wir nur, dass sie nicht aus einer Religion kommen können und dass sie nicht auf einem Procedere im Rahmen demokratischer Regeln kommen können, über die wiederum demokratisch befunden wurde … Es gibt eine plausible Sicht darüber, wie die westlichen Demokratien in Wirklichkeit entstanden sind. Danach haben sich ehemalige Alleinherrscher Schrittchen für Schrittchen einzelne Machtbefugnisse „abverhandeln“ lassen, und sie haben das getan, weil es jeweils in ihrem Interesse lag, so zu handeln. So lebt ein König von den Abgaben seiner Bürger, aber mehr als hundert Prozent von deren Einkommen kann er ihnen nicht wegnehmen. Wenn er also mehr Wohlstand will, als er durch höhere Abgabensätze erzielen kann, so liegt eine Alternative darin: Er sollte nicht den Prozentsatz dessen erhöhen, was er dem Volk entzieht, sondern die Basis dieses Prozentsatzes, das Einkommen und Vermögen der Bürger also. Dazu muss das Volk produktiv sein, gut gebildet, gesund, es muss über eine gute Infrastruktur verfügen und über moderne, korruptionsarme und effektive öffentliche Institutionen, welche unter Regeln handeln, die selbsterzwingend sind, eben gerade um Korruption und Vetternwirtschaft einzudämmen. In alles das muss der König investieren, gerade so wie ein Unternehmer in den Produktionsapparat seines Unternehmens investieren muss. Dann kann er später die Früchte seiner Investitionen in Form eines Teils dessen ernten, was das Volk unter diesen guten Bedingungen zu produzieren in der Lage ist.

Bis zu einem gewissen Punkt mag das alles im Rahmen der königlichen Alleinherrschaft möglich sein. Aber darüber hinaus gehört zu einer wachsenden Wirtschaft auch ein modernes politischen Institutionensystem, und das kommt ohne einen gewissen Grad an Unabhängigkeit der Justiz, der Fachbehörden und am Ende auch der Gesetzgebung nicht aus. Wenn der König nicht in einer Sackgasse enden will, so muss er irgendwann ein Stück seiner Macht abgeben, und historisch gesehen geschah genau das über Jahrhunderte. Auf diese Weise entstanden in Europa seit dem frühen Mittelalter schon die Vorläufer unserer heutigen Parlamente, es entstanden unabhängige Gerichte und ausführende Politikorgane, die schließlich auch per Machtverlust für das zur Verantwortung gezogen wurden, was ihnen misslang. Der König selbst entrückte in seiner Position mehr und mehr den operativen Dingen, aber es blieb dabei, dass er Teil hatte an den Früchten der modernen Gesellschaft, und er konnte nicht einmal abgewählt werden. Seine am Ende nur noch wenig bedeutsame Position hat in vielen Ländern dann den Übergang zur Republik erleichtert, während es anderswo bei der konstitutionellen Monarchie blieb. Das alles geschah aus einer gewissen inneren Logik heraus, und dennoch hatte es niemand so geplant. Kein König hat Teile seiner Machtbefugnisse mit dem Ziel abgegeben, damit ein Stück des Wegs zur parlamentarischen Demokratie zu ebnen. Dennoch war es am Ende das Ergebnis; ein Ergebnis allerdings, das keineswegs zwangsläufig ist.

Nun muss es nicht unbedingt ein König sein, von dem eine solche Entwicklung ausgeht, auch wenn das am Anfang in der Regel so war. In Ägypten könnte diese Rolle dem Militär zufallen oder, besser gesagt, es hätte dem Militär diese Rolle zufallen können. Bekanntlich halten die Militärs dort einen beträchtlichen Teil des Kapitalstocks, und daher dürften die Militärs durchaus ein eigenes Interesse daran haben, dass dieses Kapital produktiv ist und hohe Erträge erwirtschaftet. Wie produktiv sind aber die Produktionsfaktoren erfahrungsgemäß im Rahmen moderner westlicher politischer Institutionen, und wie produktiv sind sie in einem ideologischen Staat oder in einem Gottesstaat? Was immer die Militärs derzeit anstreben, ob sie nach dem Sturz Mubaraks eine Demokratie unter ihrer letzinstanzlichen Kontrolle akzeptiert hätten oder ob sie tatsächlich auch zum Zeitpunkt der Absetzung Mursis eine Restauration des Mubarak-Regimes anstrebten, wird sich nicht ohne weiteres klären lassen. Nur an einem wird das Militär nicht interessiert sein können: an einem Gottesstaat.

Es wäre aber zumindest auch denkbar gewesen, dass das Militär – aus überaus egoistischen Gründen – das Ziel hatte, eine weltlich verankerte parlamentarische Demokratie westlichen Typs in Ägypten zu errichten. Denn die Repräsentanten des Militärs könnten damit einen hohen Vermögensgewinn erzielen, wenn man Vermögen im ökonomisch üblichen Sinne als Barwert der künftigen Erträge seiner Aktiva definiert. Der säkulare Teil des ägyptischen Volkes könnte in diesem Sinne sogar ein gewisses Vertrauen in das Militär haben, indem es dem Militär die letzt-instanzliche „Juan-Carlos-Funktion“ überlässt, welche darüber wacht, dass alles nachgeordnete politische Handeln im Rahmen demokratischer Spielregeln abläuft, gerade damit die Militärs im Anschluss die Früchte eines effektiven Einsatzes ihres Produktivvermögens ernten können. Das Vertrauen in einen solchen Deal wäre freilich nicht auf der Überzeugung in die moralische Integrität der Militärs gegründet, sondern allein auf der Berechenbarkeit seiner eigennützigen Ziele. Das alles wäre also beileibe kein moralischer Deal, sondern ein von Eigennutz getriebener gewesen. Gerade das aber hätte ihn umso stabiler machen können.

Einem solchen Deal allerdings standen die Moslembrüder mit ihrem politischen Islam entgegen. Dieser sucht die Legitimität allen weltlichen Handelns in der Religion, und daher müssen auch alle politischen Spielregeln dort ihre Quelle finden. Er tut dies nicht, weil er im Islam begründet ist, sondern weil er die Trennung von Religion und Staat nicht hinnimmt. Weil er das nicht tut, gibt er auch keinen Raum für einen Deal zwischen dem ägyptischen Militär mit dem säkularen Teil des Volkes. Das allein wäre Grund genug für das Militär gewesen, die Moslembrüder aus dem Weg zu räumen. Dazu brauchten sie nicht einmal das Motiv zur Restauration des Mubarak-Regimes, von dem wir nicht wissen, ob sie es hatten. So ist es durchaus plausibel, dass das ägyptische Militär aus Eigennutz demokratische Regeln akzeptiert und sogar geschützt hätte und erst durch den Islamismus dazu veranlasst wurde, ihre alte Rolle wieder einzunehmen, jene des Mubarak-Regimes. Die Chance für einen politischen Deal hin zur Demokratie sind damit jedenfalls vorerst vertan.

Freiheitliche Verfassungen entstehen, das ist eine bittere Lehre, eben doch mehr oder weniger zufällig. Sie mögen mitunter zum Greifen nahe sein, wie in Ägypten nach der Revolution. Aber wie sich zeigt, gibt es dann doch keinen zwangsläufigen Weg dorthin. Alle moralische Überlegenheit der freiheitlichen Gesellschaft, alle Früchte, die wir in der westlichen Gesellschaft mit inzwischen großer Selbstverständlichkeit genießen, helfen nicht, uns an dieser Einsicht vorbei zu mogeln. Auch der Siegeszug der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal jener nach 1989 bedeuten nicht, dass der Weg in die freie Gesellschaft zwangsläufig ist. Eine freiheitliche Verfassung braucht diese zwei Eigenschaften: Sie muss breit akzeptiert sein und sie muss Regeln beinhalten, die selbsterzwingend sind. Eine Revolution allein schafft aber zunächst einmal nur ein Machtvakuum, in das hinein man grundsätzlich eine freiheitliche Verfassung bauen könnte. Sie schafft aber nicht die Bedingungen, unter denen eine solche Verfassung auch tatsächlich entsteht und breit genug akzeptiert wird. Deshalb sind selten freiheitliche Verfassungen aus Revolutionen hervorgegangen. Und was besonders bitter ist: Die Entstehung einer freiheitlichen Verfassung lässt sich leichter torpedieren als unterstützen. Auch das zeigt sich einmal mehr am arabischen Frühling.

Thomas Apolte

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