Mario Draghi hat Anfang Juli einen Wechsel in der geldpolitischen Kommunikationsstrategie des Eurosystems vollzogen. In seinen einleitenden Worten zur Pressekonferenz im Anschluss an die Sitzung des EZB-Rats kündigte er an, dass die EZB-Leitzinsen für längere Zeit auf dem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden. Im englischen Original heißt es: „The Governing Council expects the key ECB interest rates to remain at present or lower levels for an extended period of time. This expectation is based on the overall subdued outlook for inflation extending into the medium term, given the broad-based weakness in the real economy and subdued monetary dynamics“ (Draghi, 2013). Bis dahin hatten EZB-Präsidenten es immer unterlassen, Andeutungen zu ihrem zukünftigen geldpolitischen Kurs und zu ihrer mittelfristigen Zinspolitik zu machen und sich darauf beschränkt, die aktuelle Zinsentscheidung zu kommentieren. Draghis Erklärung bedeutet den Einstieg in eine Politik der „forward guidance“, wie sie auch von einigen anderen Notenbanken praktiziert wird.
Befürworter einer „forward guidance“, wie Woodford (2012), führen an, dass die während der Finanzkrise bislang von den Notenbanken ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichten, um eine spürbare wirtschaftliche Erholung herbeizuführen. Obwohl die Leitzinsen erheblich gesenkt und die Geldmarktsätze durch eine Politik der quantitativen und qualitativen Lockerung auf beinahe null Prozent reduziert wurden, sei die gesamtwirtschaftliche Aktivität immer noch verhalten. Weitere Zinssenkungen seien derzeit nicht mehr möglich. Deshalb empfehlen sie den Notenbanken, ihr bisheriges Arsenal an geldpolitischen Sondermaßnahmen um ein Kommunikationsinstrument zu erweitern und sich zu verpflichten, die Leitzinssätze für einen längeren Zeitraum bei null zu halten. Dieses Nullzinsversprechen sollte längerfristig sein und auch bei Wiederanspringen der Konjunktur und Verletzen der selbst gesteckten Inflationsziele beibehalten werden.
Inzwischen scheint auch die Bank of England dieser Empfehlung zu folgen. Zufällig am selben Tag wie Mario Draghi hat ihr neuer Governor, Mark Carney, angekündigt, dass die Bank of England ihren Leitzinssatz („Bank Rate“) von derzeit 0,5% erst anheben wird, nachdem die Arbeitslosenquote (von derzeit 7,8 %) auf 7 % oder darunter gefallen ist – sofern die Prognose der zukünftigen Inflationsrate nicht erheblich über das Inflationsziel von 2% ansteigt (Bank of England, 2013; Dale, Talbot, 2013). Anders als Mario Draghi hat Mark Carney damit die Fortsetzung der Niedrigzinspolitik an das Erreichen eines numerischen Schwellenwerts für einen spezifischen Indikator („state-contingent guidance“) geknüpft und nicht auf unbestimmte Zeit angekündigt („open-ended guidance“). Deshalb ist die „forward guidance“ durch die Bank of England konkreter als die des Eurosystems, aber auch weniger flexiblel in Bezug auf den Eintritt  unvorhergesehener Ereignisse.
Was bedeutet „forward guidance“?
Zwei zentrale Aspekte von „forward guidance“ lassen sich unterscheiden, die bildlich als „delphisches“ und „odysseisches“ Element bezeichnet werden können (Campbell et al., 2013; Praet, 2013): Das „delphische Element“ beinhaltet die Veröffentlichung einer Prognose, wie die Zentralbank selbst die zukünftige Leitzinsentwicklung einschätzt; auf diese Weise gibt die Zentralbank eigene Informationen über die künftige Entwicklung politrelevanter Marktdaten an die Marktteilnehmer weiter. Das „odysseische Element“ beinhaltet ein bedingtes Versprechen der Notenbank, die Leitzinsen in Zukunft so lange auf einem angekündigten Niveau zu halten, bis eine zuvor vorgegebene Bedingung eintritt. Anders als Odysseus, der sich an den Mast seines Schiffs festgebunden hatte, ist die Selbstbindung der Zentralbank bei „forward guidance“ limitiert, denn sie behält sich vor, bei Eintritt der genannten Bedingungen von ihren Zinsversprechen abzuweichen.
Intention einer „forward guidance“ ist, über die Zinserwartungen der Marktteilnehmer Einfluss auf die mittel- und langfristigen Zinssätze zu nehmen. Bekanntlich kann die Notenbank mittels ihres Instrumentariums direkt allenfalls die kurzfristigen Zinssätze beeinflussen, während die mittel- und langfristigen Zinssätze neben den aktuellen, auch von den für die Zukunft erwarteten kurzfristigen Zinssätzen abhängen. Die kurzfristigen Zinssätze liegen inzwischen bereits auf einem Niveau nur wenig über null Prozent. Mit der Ankündigung, diese Zinssätze auf absehbare Zeit nicht wieder anzuheben, versucht die Notenbank, die Zinserwartungen der Marktteilnehmer zu beeinflussen und damit die langfristigen Zinssätze zu senken, die für Investitionsentscheidungen und für längerfristige Konsumentscheidungen von großer Bedeutung sind (Praet, 2013).
Warum betreibt die EZB „forward guidance“?
Auslöser für den Wechsel in der geldpolitischen Kommunikationsstrategie des Eurosystems waren offenbar Entwicklungen auf den europäischen Geldmärkten, worauf die EZB ohne weitere Leitzinssenkungen zu reagieren versuchte. In der ersten Jahreshälfte 2013 kam es zu einem Anstieg der längerfristigen Geldmarktzinsen und der Umlaufrenditen längerfristiger Staatsanleihen, wohl infolge einer von den Marktteilnehmern für 2014/2015 erwarteten Liquiditätsverknappung. Indizien für solch veränderte Markterwartungen waren aus den Tagesgeldsatz-Swaps abgeleitete Terminzinssätze, die zu steigen begannen (Europäische Zentralbank, 2013; Praet, 2013). Grund für die Erwartung einer zukünftigen Liquiditätsverknappung waren einmal das Auslaufen der beiden Ende 2011 bzw. Anfang 2012 ausgereichten Dreijahrestender, die zudem vorzeitig zurückbezahlt wurden. Darüber hinaus hat die Ankündigung der US Fed, ihre  quantitative Lockerung einzustellen, ebenfalls zur Liquiditätsverknappung beigetragen.
Um ein Austrocknen der Interbankenmärkte zu verhindern, stand das Eurosystem vor der Alternative, entweder die Leitzinsen weiter zu senken (oder gar einen Negativzins für Zentralbankeinlagen zu verlangen) oder die Markterwartungen geeignet nach unten zu korrigieren. Diesen letzten Weg ist die EZB mit der Ankündigung gegangen, dass die Leitzinsen für eine unbestimmte Zeit auf dem jetzigen Niveau verbleiben werden, weil das andeutet, dass die Geldmarktzinsen auch nach Auslaufen der Dreijahrestender auf niedrigem Niveau verbleiben werden. Damit stellt die „forward guidance“ des Eurosystems zwar auf die Kontrolle der mittel- und langfristigen Zinssätze ab, wohl aber nicht, um die ökonomische Aktivität anzuregen, sondern um einem Austrocknen der Interbankenmärkte vorzubeugen. Dass damit zugleich auch die Renditen für Staatsanleihen vorübergehend gesenkt werden konnten, war ein wohl nicht unerwünschter (Neben-)Effekt.
Wie passt „forward guidance“ zur Zwei-Säulen-Strategie?
Die EZB betont, dass die vom jetzt eingeleitete „open-ended forward guidance“ durchaus mit der Zwei-Säulen-Strategie der EZB im Einklang steht. Dieses Konzept beschreibt eine Funktion, wie das Eurosystem mit seinen Leitzinssätzen auf von ihr für die Zukunft erwartete Datenänderungen reagieren wird. Dabei enthält die Reaktionsfunktion zwei Gruppen von Indikatoren, nämlich einer Reihe realwirtschaftlicher Indikatoren („wirtschaftliche Analyse“) und die Entwicklung der Geldmenge M3 („monetäre Analyse“). Im Anschluss an die Erklärung Draghis im Juli gab es Vermutungen, das Eurosystem betreibe einen Strategiewechsel und gäbe ein Niedrigzinsversprechen auch für den Fall  aufkommender Gefahren für die mittelfristige Preisstabilität, um die Realzinsen zu senken und die Güternachfrage anzuregen. Inzwischen ist klargestellt, dass das Eurosystem bei seiner Strategie bleiben will und dass die „extended period of time“ endet, sobald die Inflationsrate auf mittlere Sicht über 2 % p.a. anzusteigen droht (Europäische Zentralbank, 2013). Offenbar rechnet das Eurosystem für längere Zeit mit einer Fortdauer der Krise, was allerdings kaum überrascht.
Dennoch bleiben Zweifel. Viele Notenbanken hatten zunächst eine eher vage Form der „forward guidance“ gewählt und sind dann dazu übergegangen, ihre Zinsversprechen an konkrete Indikatoren zu binden. Vage Versprechen verlieren nämlich schnell an Überzeugungskraft. Vor diesem Hintergrund könnte auch auf das Eurosystems der Druck wachsen, sich konkreter festzulegen und zu verraten, wie weit in die Zukunft die Lenkung der Zinssätze reichen wird und was eine „extended period of time“ bedeutet. Ohne solch konkrete Zusagen besteht ansonsten die Gefahr, dass „forward guidance“ rasch an Wirksamkeit verliert, weil die Marktteilnehmer ihre Zinserwartungen nicht oder nur wenig reduzieren. Tatsächlich ist die Wirkung der Erklärung vom Juli auf die Zinssätze inzwischen fast verpufft. Gibt die EZB aber solch ein konkretes Versprechen, muss sie es einhalten, selbst wenn zwischenzeitlich unerwartete Gefahren für die Preisstabilität auftreten, oder kann es brechen und damit ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Dies wäre eine Zwickmühle, aus der die EZB nur durch Preisgabe der Zwei-Säulen-Strategie herauskäme.
Literatur
Bank of England (2013): Monetary policy trade-offs and forward guidance, London.
Dale, S., Talbot, J. (2013): Forward guidance in the UK, VoxEU vom 13. September 2013
Draghi, M. (2013): Introductory statement to the press conference (with Q & A), Frankfurt am Main, 4 July 2013, http://www.ecb.europa.eu/press/pressconf/2013/html/ is130704.en.html
Europäische Zentralbank (2013): Zukunftsgerichtete Hinweise des EZB-Rats zu den Leitzinsen, in: Monatsberichte, 15. Jg., Juli, S. 7-10.
Praet, P. (2013): Forward Guidance and the ECB, VoxEU vom 6. August 2013.
Woodford, M. (2012): Methods of Policy Accommodation at the Interest-Rate Lower Bound. Federal Reserve Bank of Kansas City Symposium on the Changing Policy Landscape, Jackson Hole, WY, August 31, 2012.
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