Wer im Vorfeld der Europäischen Währungsunion auf die Heterogenität der Mitgliedsländer in ihren strukturellen Merkmalen, ihrem Entwicklungsstand und ihren wirtschaftspolitischen Präferenzen hinwies und damit negative Perspektiven begründete, wurde häufig mit dem zu erwartenden wirtschaftspolitischen Wettbewerb in der Eurozone belehrt. Dieser würde die Staaten disziplinieren und in ihrem eigenen Interesse jene Wirtschaftspolitik hervorbringen, die eine adäquate Begleitung für die gemeinsame Währung sei. Tatsächlich ist der wirtschaftspolitische Wettbewerb ein Anpassungsmechanismus und damit eine Erfolgsbedingung für eine Währungsunion mit heterogenen Mitgliedern. Doch die Verwalter der Eurozone haben einen solchen Wettbewerb von Anfang an nicht zugelassen, was zu den bekannten Fehlentwicklungen führte.
Wettbewerbsmodell
In der Euro-Diskussion der 1990er Jahre bezog sich die Wettbewerbsvermutung nicht nur auf die Makro- und Finanzpolitik, sondern auch auf die Mikropolitik, vor allem die Arbeitsmarktpolitik. Nach wie vor hat die Vermutung und Einforderung des Wettbewerbs wirtschaftspolitischer Regime in der Eurozone große verbale Bedeutung. Doch er ist diffus geblieben, was Inhalt und Mechanismen betrifft. Was also hat man sich unter dem wirtschaftspolitischen Wettbewerb oder unter dem Wettbewerb wirtschaftspolitischer Regime vorzustellen? Bereits hier muß differenziert werden. Ausgangspunkt ist das Wettbewerbsmodell der Güter- und Faktormärkte, in dem die bekannten Mechanismen zu den besten Lösungen führen. Dieses Modell wirbt für sich selbst. In der wirtschaftspolitischen Diskussion wird es übertragen auf den Wettbewerb zwischen Systemen, institutionellen Regimen, Standorten, wirtschaftspolitischen Konzepten.
Wirtschaftspolitischer Wettbewerb
Im Modell des wirtschaftspolitischen Wettbewerbs bieten Regierungen wirtschaftspolitische Konzepte an, die einen Wettbewerb um einzelwirtschaftliche Aktivitäten auf den Güter- und Faktormärkten auslösen. Auch dieser Wettbewerb ist grundsätzlich in der Lage, das Anreiz-, das Macht- und das Wissensproblem zu lösen. So kommen die heterogenen Bürgerpräferenzen in den Mitgliedsstaaten zum Ausdruck, eine bessere Wirtschaftspolitik als die eigene kann erkannt, erlernt und umgesetzt werden. Die Macht der Regierung an einer falschen Wirtschaftpolitik festzuhalten sinkt mit den Kosten, die mit der Exit-Option für Bürger und Unternehmen verbunden sind. Die Abwanderungsdrohung diszipliniert also die Regierungen und kann als der eigentliche Wettbewerbsdruck auf die politischen Akteure interpretiert werden. Die institutionelle Arbitrage der Ab- und Zuwanderung entspricht nun der Wettbewerbsautomatik auf den Güter- und Faktormärkten. Entscheidet sich eine hinreichende Anzahl heimischer und ausländischer Akteure für einen Standortwechsel, kommt es zu einer Veränderung des abgewählten wirtschaftspolitischen Regimes. So weit der theoretische Hintergrund.
Voraussetzungen
Ein solcher institutioneller Wettbewerb, der die Basis für den wirtschaftspolitischen Wettbewerb ist, kommt jedoch nicht voraussetzungslos in Gang. Erstens müssen negative Auswirkungen der heimischen Wirtschaftspolitik spürbar oder erwartet werden, z. B. eine realwirtschaftliche Verschlechterung oder eine Erhöhung der Kosten für die Verschuldung von Staaten und Privaten. Zweitens müssen die Regierungen darauf tatsächlich mit einer Veränderung ihrer Wirtschaftspolitik reagieren, weil sie sonst mit Sanktionen zu rechnen haben. Solche Sanktionen stammen in erster Linie von den eigenen Wählern. Dazu kommen Sanktionen für Regelverstösse gegen Vereinbarungen mit den Wettbewerbern, sofern diese glaubwürdig sind. Die inhärente Automatik der Wettbewerbskräfte auf den Güter- und Faktormärkten fehlt dem institutionellen Wettbewerb also. Wirtschaftspolitischer Wettbewerb entsteht nur durch die Vermittlung des politischen Wettbewerbs. Die Theorie des institutionellen Wettbewerbs berücksichtigt diese starken Voraussetzungen für das Auftreten von Wettbewerbsprozessen sehr wohl. Sie finden sich jedoch nicht in der EU-Rhetorik, die auf die oberflächliche Assoziation mit der Automatik des Güter- und Faktormarktwettbewerbs setzt und entscheidende Faktoren ausblendet.
Pfadabhängigkeiten
Damit verliert die Erwartung eines wirtschaftspolitischen Wettbewerbs in der Eurozone auch ihren Realitätsbezug. Denn wenn es um wirtschaftspolitische Regime und den Prozess ihres Wandels geht, zeigt sich eine Komplexität und Sperrigkeit, die der Automatik des Wettbewerbs auf Märkten fehlt und die in der EU auch die politischen Koordinationsmechanismen widerspiegeln. Wie bereits ausgeführt wirken zwei Ebenen mit ihren jeweils eigenen Anreizstrukturen zusammen, einerseits die Koordination einzelwirtschaftlicher Entscheidungen und der Regeln dafür (Mikrogovernance) und andererseits die Festlegung der konstitutionellen und institutionellen Vereinbarungen einer Gesellschaft (Makrogovernance). Zu diesen zählen auch die Aufgaben, die von einer Gesellschaft dem Staat übertragen werden und damit zusammenhängend die Wahl des wirtschaftspolitischen Modells. Das einzelwirtschaftliche Geschehen ist eingebettet in formelle und informelle Regeln, etwa im Sinne einer gesellschaftlichen Organisationspyramide gem. O. Williamson. Im Ergebnis gewinnen Pfadabhängigkeiten und Beharrungstendenzen sowie Verzögerungen von notwendigen Anpassungsprozessen große Bedeutung. Der Wettbewerb wirtschaftspolitischer Modelle wird beeinträchtigt, weil eine (ordnungs)politische Einbettung dafür sorgt, dass Wirtschaftspolitik nicht beliebig ist und dass sich wirtschaftspolitische Präferenzen auch zwischen den Bürgern der einzelnen EU-Mitgliedsländer unterscheiden. Die Wahl seines Regimes hat eine Gesellschaft nicht zufällig getroffen, sondern ist in ihrem konstitutionellen/institutionellen Rahmen verankert. Ob das eine oder das andere wirtschaftspolitische Regime erfolgreicher ist, zeigt sich u.a. in den Austauschverhältnissen auf den Güter- und Faktormärkten.
Wirtschaftspolitische Regime
Zahlreiche Klassifikationen für wirtschaftspolitische Regime der Eurozone existieren. Holzschnittartig und alle verwirklichten Mischungsverhältnisse vernachlässigend können sie zwei Kategorien zugeordnet werden. Umgesetzt werden erstens ein eher ordnungs- und regelbetontes Regime mit der Tendenz Marktversagen vorzubeugen oder zu korrigieren und zweitens eine stärker interventionsorientierte Politik, die sich darüber hinausgehenden Aufgaben verschrieben hat und dafür ergebnisorientierte Eingriffe in wirtschaftliche Prozesse präferiert. Im Vorfeld der Währungsunion wurde argumentiert, dass die gemeinsame Währung einen wirtschaftspolitischen Wettbewerb in Gang setzen würde, dessen Ergebnis ein ordnungspolitisches Regime sein würde, sowohl in der Makropolitik als vor allem auch auf den Arbeitsmärkten. Weder die entsprechenden Prozesse noch deren Ergebnisse sind eingetreten. Wir hätten es wissen können, wie die vorangegangenen Überlegungen zeigen.
Falsche Anreize
Als erste Voraussetzung für das Ingangkommen wirtschaftspolitischer Wettbewerbsprozesse wurde die Wahrnehmbarkeit negativer Auswirkungen der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedsländern formuliert. Dies war und ist in der Eurozone nicht der Fall, die Austauschverhältnisse auf den Güter- und Faktormärkten bringen die Einschätzung unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Modelle nicht mehr zum Ausdruck. Entsprechend wurde auf implizite Austauschverhältnisse auch nicht mit einer typischen Reallokation von Gütern oder Faktoren reagiert. Mit dem Fehlen von eurozoneninternen Wechselkursen sind entsprechende Informationen nicht mehr unmittelbar verfüg- und beobachtbar, mit der bail out-Vermutung sowie der Verletzung tragender Regeln der Euro-Konstruktion verloren Risikoprämien in Zinssätzen ihre steuernde Wirkung und mit den später folgenden groß angelegten Hilfsprogrammen sowie einer äußerst expansiven Geldpolitik trat der Druck zur wirtschaftspolitischen Veränderung in den Hintergrund. Die Exit-Drohung von privaten Akteuren, die wirtschaftspolitischen Wettbewerb auslösen würde, unterblieb, verlor ihre Glaubwürdigkeit und verkehrte sich geradezu in ihr Gegenteil, als Einladung zu risikolosen Transaktionen in Mitgliedsländern mit Anpassungsbedarf.
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –
Die den realen Wechselkursen inhärenten Informationen werden nicht zu einem Regimewechsel genutzt (vgl. Abb. 1), die wirtschaftspolitischen Auflagen der diversen Programme sind nicht in der Lage die fehlenden Wettbewerbskräfte zu kompensieren. In einer solchen Konstellation bleiben unterschiedliche wirtschaftspolitische Regime in einem Währungsraum nebeneinander bestehen. Da die Rückkoppelung zu den Ursachen unterbleibt, kommen auch keine Wettbewerbsprozesse in Gang. Dies ist die Situation in der Eurozone seit dem Beginn der Krise.
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –
Auf große Unterschiede in den staatlichen Finanzierungskonditionen (vgl. Abb.2) wird ebensowenig mit einer Änderung des wirtschaftspolitischen Regimes reagiert wie auf eine schlechte Performance auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Abb. 3). Der als selbstverständlich vorausgesetzte wirtschaftspolitische Wettbewerb hat bisher kaum stattgefunden.
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –
Politische Prozesse
Dies ist nicht überraschend, ist doch auch die zweite Voraussetzung, die Befürchtung von Sanktionen im Falle eines Unterlassens wirtschaftspolitischer Reformen, nicht erfüllt. Dass wirtschaftspolitische Präferenzen in der Makrogovernance verankert sind und ordnungspolitische Regime im politischen Prozess geändert werden müssen, ist eine massive Bremse für die Auslösung von Wettbewerbsprozessen, die zu einem Regime führen sollen, das die Performance auf den Güter- und Faktormärkten verbessert. Solange Politiker zu Hause, also in den Mitgliedsstaaten, gewählt werden, haben sie Anreize an ihrem Politik-Modell auch dann festzuhalten, wenn es unterlegen ist und/oder unionsschädigend ist, von der Gesellschaft jedoch als das richtige eingeschätzt wird. Dies relativiert auch die Glaubwürdigkeit wirtschaftspolitischer Auflagen, die mit diversen Hilfsprogrammen verbunden sind. Ein Blick auf die Straßen, in die Parlamente, in die Verfassungsgerichte von Athen, Lissabon, Rom, Madrid, aber auch Paris erübrigt es, diese Zusammenhänge weiter auszuführen.
Zentrale Koordination
Die Europäische Union hat sich mit ihrem Übergang zu einer Währungsunion und durch den Umgang mit ihren eigenen Regeln in ein Integrationsgebilde transformiert, dessen Anreizstrukturen wirtschaftspolitischen Wettbewerbsprozessen gründlich entgegenstehen, die im EU-Binnenmarkt noch erwartet werden konnten. Nicht die dezentrale Koordination durch Wettbewerb auf der Grundlage eines ordnungspolitischen Konsenses, ist inzwischen der präferierte Mechanismus des Zusammenwirkens in der Wirtschaftspolitik, sondern die zentrale Koordination, also die Alternative des Wettbewerbs. Die zentrale Koordination wirtschaftspolitischer Maßnahmen oder Prinzipien entspricht Verhandlungslösungen auf der EU-Ebene, die die als notwendig eingeschätzten Maßnahmen sicherstellen sollen. Eine solche bürokratische Koordination der Wirtschaftspolitik kann unterschiedliche Intensitätsgrade annehmen. Sie kann freiwillig oder verpflichtend ausgestaltet sein, sie kann allgemeine Regeln oder diskretionäre Maßnahmen beinhalten. Sie kann im äußersten Fall die vollständige Abgabe von Kompetenzen beinhalten, also eine Vergemeinschaftung oder Zentralisierung. Einen solchen Akt stellte bereits die gemeinsame Euro-Währung mit allen damit verbundenen Konsequenzen dar. In der Eurozone sind die Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts ebenso in diese Kategorie einzuordnen wie alle Maßnahmen der sogenannten Euro-Rettung. Während erstere noch dazu gedacht waren, wirtschaftspolitischen Wettbewerb zu ermöglichen, dienten letztere bereits dazu, ihn zu verhindern.
Koordinationskosten
Generell sollen mit Koordinationslösungen Synergien genutzt und als notwendig eingeschätzte Voraussetzungen für weitreichende Integrationsprojekte erreicht werden. Doch gegenzurechnen sind Koordinations- und Entscheidungsfindungskosten, mögliche Verstösse gegen wirtschaftspolitische Präferenzen von Mitgliedsländern, die Wahl falscher Niveaus und Standards mit den entsprechenden Anreizeffekten und Renten. In politökonomischer Hinsicht ist eine Entmachtung von Gesellschaftsmitgliedern und Regierungen mit der Schaffung neuer – meist zentraler – Machtpositionen zu erwarten, die weitere Zentralisierungsprojekte nach sich ziehen wird. Dabei schließt die fehlende Glaubwürdigkeit von Koordinationsversprechen der Mitgliedsstaaten bei anhaltenden Fehlentwicklungen selbst eine Zentralisierung der politischen Verantwortung nicht aus, die dann als eine ultimative commitment-Technologie zu interpretieren ist.
Fazit
Die aktuellen Beschlüsse und Entwicklungen rund um die Bankenunion – vor allem die Überlegungen zu den Einlagensicherungssystemen – sind ein ausgezeichnetes Beispiel für die Konsequenzen dieses bürokratischen Koordinationsmechanismus. Die Europäische Union, vor allem ihre Eurozone, hat inzwischen einen Zustand erreicht, der Wettbewerbsprozessen nicht mehr förderlich ist, sie sogar verhindert. Dies gilt besonders für den viel beschworenen wirtschaftspolitischen Wettbewerb, der einmal den nachhaltigen Erfolg der gemeinsamen Währung sichern sollte. Die Voraussetzungen für sein Wirken waren von vorneherein schwach ausgeprägt und sind zunehmend ausgehöhlt worden. Es hat sich vielmehr heraus gestellt, dass sich die wohlfahrtsfördernden Kräfte eines wirtschaftspolitischen EU-Wettbewerbs nicht voraussetzungslos einstellen, dementsprechend konnten sie auch nicht genutzt werden. Sie selbst jetzt noch für die Zukunft des EU-Integrationsprozesses als gesichert herauszustellen ohne fundamentale Reformen der Zusammenarbeit zu beschließen, stellt sich daher als eine leere EU-Rhetorik heraus, die einer nicht reflektierten Übertragung der Automatik des Wettbewerbs auf Güter- und Faktormärkten auf die Wirtschaftspolitik entspringt.
Eine Antwort auf „Wirtschaftspolitischer Wettbewerb in der Eurozone
Gefangen in oberflächlichen Analogien und leerer EU-Rhetorik“