Vor einiger Zeit ging es an dieser Stelle um die Position der Sozialdemokraten in den anschwellenden Diskussionen um die zukünftige Ausgestaltung des Finanzausgleichs. Die Vorschläge der SPD laufen darauf hinaus, daß der föderale Wettbewerb in Deutschland weiter eingeschränkt wird. Wo er noch zugelassen wird, soll er als ein vom Bund zentral gelenktes Turnier um Fördermittel gestaltet sein. Echte dezentrale Autonomie, Offenheit für politische Experimente und Innovationen und auch die Disziplinierung der Politik durch Bürger, die im Zweifelsfall einfach mit den Füßen abstimmen, sollen dagegen weitgehend eingeschränkt werden.
Vorbehalte gegen föderalen Wettbewerb
Das zuvor diskutierte SPD-Papier erschien nicht ohne Grund, sondern es spiegelt eine in Deutschland weit verbreitete Skepsis vieler Bürger gegenüber intensivem fiskalischem Wettbewerb. Diese Vorbehalte speisen sich zum Teil aus praktischen Erwägungen. Wenn zum Beispiel eine Familie von Berlin nach Bayern umzieht, dann ist dies ein Wechsel von einer Schulpolitik in eine andere, und dieser Wechsel ist mit Transaktionskosten verbunden. Man muß sich umstellen und umgewöhnen, das ist lästig. Wäre es nicht viel einfacher, wenn der Bund diejenige Schulpolitik, die er als richtig und gut erkannt hat, einfach überall im Land durchsetzen würde? Natürlich ist es so einfach nicht, denn es gibt keinen Grund zur Annahme, daß die für Bayern passende Schulpolitik auch in Berlin funktioniert, wo die sozialen Hintergründe der Schüler ganz andere sind, wo aber auch die Lernziele unterschiedlich sein können, da für einen anderen Markt ausgebildet wird. Und selbst wenn es diese Heterogenität nicht gäbe, würde immer noch gelten: Nach Rom führen viele Wege, von denen der beste vielleicht erst noch entdeckt werden muß. Das wiederum erfordert politische Experimente, die man am besten dezentral durchführt. Ein weiterer Vorbehalt gegen föderalen Wettbewerb hat vermutlich etwas damit zu tun, daß wir in Deutschland Politik fast nur noch unter Verteilungsgesichtspunkten diskutieren. Der aktuelle Wahlkampf ist dafür exemplarisch. Es geht kaum noch um die Frage, was sinnvoll ist und was nicht, um Effizienz, es geht auch kaum noch um eine offene Kontroverse um verschiedene politische Ziele und deren Gewichtung. Stattdessen geht es in allen Fachgebieten nur noch um Facetten von Verteilungspolitik. Von der Autobahn-Maut bis zum Betreuungsgeld für Familien steht die Frage im Vordergrund: Welchen gesellschaftlichen Gruppen nehmen wir etwas weg und wem geben wir etwas dazu? Ein Land, das von Verteilungsfragen besessen ist bis an die Grenze des Wahnsinns (oder vielleicht auch schon darüber hinaus), kann sich natürlich für föderalen Wettbewerb nur schwer begeistern. Denn wenn das Ziel die möglichst universelle und störungsfreie Durchsetzung der jeweils gerade grassierenden Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit ist, dann gibt es natürlich keinen Grund für echte Autonomie in den Bundesländern.
Der bundesstaatliche Finanzausgleich
Auch der Finanzausgleich in Deutschland ist gegenwärtig stark von solchen verteilungspolitischen Leitbildern geprägt. Das beginnt mit der Festlegung als Maßstabes für die Umverteilung zwischen den Bundesländern. Wenn wir einmal die – ökonomisch ohnehin nicht zu begründende – Einwohnerveredlung außen vor lassen, dann bildet die sogenannte Ausgleichsmeßzahl ab, welche Steuereinnahmen ein Land hätte, wenn seine Einnahmen pro Einwohner genau dem Durchschnitt aller Bundesländer entsprächen. Diese auf eine vollkommene Nivellierung der Einnahmen pro Kopf ausgerichtete Ausgleichsmeßzahl ist gleichzeitig das, wenn auch nie ganz erreichte, Ziel des horizontalen Länderfinanzausgleichs und auch der Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen, die vom Bund an finanzschwache Länder fließen. Ohne große Übertreibung kann man also sagen, daß dem Finanzausgleich eine quasi-kommunistische Fiktion zugrunde liegt, die besagt, daß jeder Bürger einen identischen Bedarf an öffentlichen Leistungen hat, egal ob er in Greifswald oder in München lebt. Die Vorstellung, daß regional unterschiedliche Präferenzen für öffentliche Güter, unterschiedliche Kulturen, oder auch unterschiedliche gesellschaftliche Bedingungen sich in regional unterschiedlichen Finanzbedarfen pro Einwohner niederschlagen könnten, ist der deutschen Finanzverfassung vollkommen fremd – abgesehen vom leidigen Randthema der Einwohnerveredelung. Folgerichtig verfügen die Bundesländer auch über keine ernstzunehmende Steuerautonomie. Lediglich in der ertragsschwachen Grunderwerbsteuer dürfen sie selbst die Sätze festlegen, ansonsten sind sie auf der Einnahmenseite ihrer Budgets gefesselt und verfügen nur über ein einziges flexibles Instrument: die öffentliche Verschuldung. Aber auch dieses werden sie mit dem Wirksamwerden der Schuldenbremse verlieren. Eine solche vollkommene Abwesenheit von Autonomie paßt zum oben skizzierten, eigenwilligen Föderalismusverständnis der Deutschen. Aber sie wirft auch die Frage auf, wozu man eigentlich eine föderale Verfassung hat, wenn am Ende ohnehin alle das Gleiche tun sollen? Soll sich der Status quo ändern und fiskalischer Wettbewerb ermöglicht werden, so ist das im Rahmen des aktuellen Finanzausgleichs nicht zu machen. Würde man es etwa den Ländern ermöglichen, einen autonomen Zuschlag auf die Einkommensteuer zu erheben, dann hätte im gegenwärtigen System offensichtlich jedes Bundesland einen starken Anreiz, dies nicht zu tun. Denn der auf Nivellierung ausgerichtete Finanzausgleich würde einen großen Teil der zusätzlichen Einnahmen abschöpfen. Gleichzeitig würde man sich mit höheren Steuern bei seinen Wählern unbeliebt machen, und möglicherweise auch mobile Einwohner verlieren, die ihren Wohnsitz verlagern würden. Der Steuerzuschlag wird erst interessant, wenn das zusätzliche Steueraufkommen auch ganz oder einem großen Teil im Land verbleibt.
Lehren aus der Schweiz
In der Schweiz konkurrieren auf engem Raum 26 Kantone miteinander. Sie alle verfügen über eine erhebliche Autonomie auch auf der Einnahmenseite ihrer Budgets. So können sie beispielsweise kantonale Einkommensteuertarife selbst beschließen. Dennoch gibt es in der Schweiz keinen ruinösen Steuerwettbewerb und die Kantone sind sehr gut in der Lage, regional differenzierte Angebote öffentlicher Leistungen durch ebenso regional differenzierte Steuersysteme zu finanzieren. Hier kann man Föderalismus beobachten, wie er funktionieren sollte: mit hoher dezentraler Autonomie, mit einer echten Vielfalt und Offenheit für regional unterschiedliche Entwicklungen der öffentlichen Ausgaben und Einnahmen, und mit echtem politischem Wettbewerb. Auch die Schweiz hat aber einen kantonalen Finanzausgleich, der zwischen starken und schwachen Kantonen umverteilt. Es gibt auch hier eine gegenseitige fiskalische Unterstützung. Diese ist aber so gestaltet, daß sie, im Gegensatz zum deutschen Finanzausgleich, mit föderalem Wettbewerb anreizkompatibel ist. Der einfache Unterschied besteht darin, daß der schweizerische Finanzausgleich sich nicht an tatsächlichen Einnahmen der Kantone orientiert, sondern am Umfang der kantonalen Bemessungsgrundlagen pro Einwohner. Es handelt sich in diesem Sinne um einen ressourcenorientierten Finanzausgleich, der an den Steuerbemessungsgrundlagen als fiskalischer Ressource anknüpft, aber nicht an den schlußendlich realisierten Einnahmen. Ausgleichszahlungen fließ in die Kantone, die tatsächlich arm sind. Sie fließen nicht in diejenigen Kantone, die eigentlich reich sind, die sich aber für niedrige Steuersätze und damit auch niedrige eigene Einnahmen entscheiden. Ein Schritt zu einem solchen ressourcenorientierten Finanzausgleich wäre auch notwendig, um in Deutschland den Ländern eine stärkere Steuerautonomie zu gewähren. Wenn, was zu hoffen ist, die Schuldenbremse funktionieren und die Bundesländer tatsächlich binden wird, dann wird ein solcher Schritt aber früher oder später unausweichlich sein. Denn wenn man ihnen die Verschuldung nimmt, dann haben die Länder im gegenwärtigen System kaum noch Spielraum, flexibel ihre Einnahmen an regional oder im Zeitablauf schwankende Ausgabenerfordernisse anzupassen.
Was tun?
Es gibt zahlreiche Details, die bei der Neuverhandlung des im Jahr 2019 auslaufenden deutschen Finanzausgleichs berücksichtigt werden sollten. Im Kern geht es aber vor allem darum, die Bedingungen für föderalen Wettbewerb in Deutschland zu schaffen und die Eigenverantwortung der Länder zu stärken. Dazu sind insbesondere zwei Schritt notwendig: Erstens sollte der aktuelle Finanzausgleich durch eine Alternative ersetzt werden, die sich nicht an tatsächlichen Einnahmen, sondern an der eigentlichen fiskalischen Leistungsfähigkeit der Länder orientiert. Zweitens ist den Ländern die Möglichkeit zu geben, autonome Zuschläge auf ertragsstarke Steuern zu erheben, insbesondere die Einkommensteuer, aber auch die Körperschaftsteuer. Verglichen mit dem Modell der Schweiz, wo die Kantone den vollständigen Tarifverlauf der kantonalen Einkommensteuer selbst bestimmen können, ist dies ein kleiner und vorsichtiger Schritt. Der Vorschlag bedeutet, daß die Länder auf den bundesweit geltenden Steuertarif jeweils einen landesspezifischen Zuschlagsatz draufschlagen dürfen. Man kann sich die Funktionsweise dieses Zuschlages wie die eines landesspezifischen Solidaritätszuschlages vorstellen. Idealerweise sollte der Einführung von Länderautonomie natürlich eine Absenkung des bundesweit einheitlichen Steuertarifs vorausgehen. So würde eine Lücke geschaffen, in die dann die Länder je nach eigenem Finanzbedarf mehr oder weniger weit vorstoßen können. Eine solche Reform ist technisch relativ leicht möglich, sie wird allerdings kurzfristig Gewinner und Verlierer unter den Bundesländern schaffen (mehr dazu hier), womit wir wieder beim leidigen Verteilungsthema wären. Eine Möglichkeit zum Umgang mit diesem Problem könnte darin bestehen, den Bund für einen Übergangszeitraum die Verlierer einer Systemumstellung kompensieren zu lassen. Dies wiederum kann man als Investition in den Systemwechsel hin zu einer effizienteren Organisation des deutschen Föderalismus verstehen. Mittel- und langfristig werden von einem Finanzausgleich mit sinnvolleren Anreizen durch eine Stärkung der Finanzautonomie der Länder nämlich auch diejenigen Bundesländer profitieren, die kurzfristig erst einmal mit geringeren Ausgleichszahlungen aus dem horizontalen Finanzausgleich leben müssen.
Befürchtet werden muss, dass der föderale Wettbewerb eine schöne Idee bleibt – der Weg zum politischen Zentralismus scheint wahrscheinlicher, hat er doch Methode: Der Deutsche soll auf die Zentralsteuerung fiskalischer, haushaltsbezogener und wirtschaftspolitischer Entscheidungen vorbereitet werden, damit es ihm einmal leichter fällt, wenn derselbe Schritt auf europäischer Ebene wiederholt wird. Wenn Sie meinen, schon die Unterschiede zwischen Bayern und Berlin bedingten einen subsidiären Demokratieansatz, dann warten Sie mal ab, bis die große Gleichmacherei zwischen Berlin und Madrid, Paris und Athen, Rom und Amsterdam angegangen wird. Die Grundsteine sind ja bereits gelegt. Auf Föderalisten kommen, wie ich fürchte, schwere Zeiten zu…