Nach der Lehman-Pleite im Herbst 2008 breitete sich die Finanzkrise zunehmend auch in Europa aus. Es folgte der globale wirtschaftliche Abschwung im Jahr 2009, der in vielen Ländern zur größten Depression seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren führte. Das dritte Stadium der Krise begann 2010, als zunächst Griechenland – gefolgt von Irland, Portugal, Italien und Spanien – unter den Druck ausufernder Staatsschulden, anhaltender Instabilität des Finanzsektors und eines erneuten Einbruchs der Konjunktur gerieten. Mit dem Ziel, die Unsicherheit in den Märkten zu reduzieren und Ansteckungseffekte zu vermeiden, einigten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf weitreichende finanzielle Hilfen, strengere Regeln für die nationalen Haushalte sowie eine Verbesserung der Bedingungen für Wachstum und strukturelle Reformen. Während dieser Zeit wurde das europäische Krisenmanagement zu einer Angelegenheit von höchster politischer Priorität und die Gipfeltreffen der EU Staats- und Regierungschefs sowie die dort vereinbarten Maßnahmen das zentrale Instrument zur Krisenbewältigung.
Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen der „Forschungsstelle für Europäische Wirtschaftspolitik“ untersucht, ob die Krisentreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs sowie deren Ergebnisse (signifikante) Auswirkungen auf die Finanzmärkte in der Währungsunion und damit auf diejenigen Bedingungen hatten, denen sich die Mitgliedstaaten bezüglich ihres öffentlichen Sektors, der Realwirtschaft, des Bankensektors und der gemeinsamen Währung gegenüber sahen.[1] Im Rahmen der empirischen Studie wurden die formellen und informellen Treffen der EU Staats- und Regierungschefs als „Events“ interpretiert, deren (ökonomische) Auswirkungen durch die Entwicklung der (Überschuss-)Rendite an den Finanzmärkten in den Tagen nach den jeweiligen Treffen bewertet werden. Dies geschieht in Form einer Event-Studie, die auf Tagesdaten für sieben Mitgliedstaaten der Eurozone (Frankreich, Deutschland, Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien) basiert und den gesamten Krisenzeitraum von September 2008 bis April 2012 umfasst. Daneben wurde der Zeitraum der europäischen Staatsschuldenkrise ab Januar 2010 separat untersucht. Dabei wurden Zeitfenster von zwei bis 15 Tagen vor und nach den jeweiligen „Events“ betrachtet. Zusammenfassend kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die Investoren – bezogen auf den hier berücksichtigten Beobachtungszeitraum – das wirtschaftliche und politische Krisenmanagement für unzureichend und die Kommunikationsstrategie als wenig überzeugend ansahen.
Im Einzelnen zeigen die Ergebnisse, dass der Einfluss der Gipfeltreffen auf die nationalen Aktienkurse begrenzt war. Lediglich Frankreich und Deutschland wiesen eine signifikant positive Entwicklung ihrer Leitindizes unmittelbar nach den Treffen auf. Die im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Krisenländer konnten hingegen weder kurz- noch mittelfristig von der Signalwirkung der Gipfeltreffen profitieren. Auch die ausgewählten Aktienkurse europäischer Banken zeigten keine signifikante Reaktion. Die negativen Vorzeichen einiger Testergebnisse deuten vielmehr darauf hin, dass – vor allem in Griechenland und Irland – die Überschussrenditen der Aktienkurse nach den Events sanken. Diese Entwicklung ist insbesondere in der zweiten Untersuchungsperiode ab 2010 zu beobachten. Die Ergebnisse hinsichtlich der Überschussrendite für zehnjährige Staatsanleihen zeigen, dass nur Deutschland von einem (kurzfristigen) Rückgang seiner Risikoprämien profitierte. Die Regierungen der meisten anderen Staaten der Stichprobe sahen sich hingegen höheren Finanzierungskosten für ihre Schulden gegenüber, wodurch diese Fälle als „Misserfolge“ klassifiziert wurden. Die Sitzungen der EU Staats- und Regierungschefs erwiesen sich abschließend auch mit Blick auf die Entwicklung des Wechselkurses gegenüber dem US-Dollar als wenig einflussreich.
Zur Kontrolle weiterer Effekte wurden auch die Wirkungen der zins- sowie liquiditätspolitischen Maßnahmen der EZB sowie deren Ankäufe von Staatsanleihen auf die Finanzmärkte untersucht. Dabei gibt es einige Anzeichen dafür, dass die Staatsanleihenkäufe kurzfristig mit positiven Effekten auf die Renditen von Staatspapieren derjenigen Länder einhergingen, die in besonders starkem Maße in den Genuss des Ankaufsprogramms kamen: Griechenland, Italien und Spanien. Darauf lassen die negativen Vorzeichen der entsprechenden (allerdings nicht signifikanten) Koeffizienten schließen. Diese Entspannung kehrte sich jedoch insbesondere im Falle Griechenlands bereits nach wenigen Tagen wieder um. Es zeigt sich daher erneut, dass staatliche Marktinterventionen in den meisten Fällen keinen nachhaltigen Effekt auf die jeweiligen Preise haben. Ein signifikanter Anstieg der nationalen Aktienkurse als Folge der Anleihenkäufe ist nur in Italien aufgetreten. Abschließend ergaben die Untersuchungen, dass die Zins- und Liquiditätspolitik der EZB kurzfristig jeweils eine signifikante Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar zur Folge hatte. Dieses Ergebnis spiegelt zweifelsfrei die durchweg höchst expansive Geldpolitik während des Beobachtungszeitraums wider.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die in den Medien intensiv begleiteten Europäischen Ratstreffen die Finanzmärkte allenfalls kurzfristig beeinflussen konnten. Die Reaktion der Aktienkurse entsprach lediglich in Frankreich und Deutschland dem gewünschten Effekt, wohingegen Griechenland vor allem im Bankensektor mit signifikant niedrigeren Kursen konfrontiert war. In Bezug auf die Verzinsung zehnjähriger Staatsanleihen war nur die deutsche Regierung in der Lage, von den besseren (Re-)Finanzierungsbedingungen nach den Gipfeltreffen zu profitieren. Im Gegensatz dazu sahen sich die europäischen Krisenstaaten und Frankreich einem Anstieg der Risikoprämien gegenüber. Der Euro-Dollar Wechselkurs zeigte keine signifikanten Reaktionen. Dies deutet darauf hin, dass die Marktteilnehmer die aktuellen Entwicklungen in erster Linie als Krise einiger hoch verschuldeter Mitgliedsländer der Eurozone beurteilen und weniger als eine Krise der gemeinsamen Währung.
Die umfangreiche theoretische und empirische Literatur zur Kommunikation von Zentralbanken kann möglicherweise Antworten auf die Frage geben, warum EU-Gipfeltreffen nur einen vergleichsweise geringen Einfluss auf die Finanzmärkte hatten. So kann die Bereitstellung von Informationen über die wirtschaftlichen Aussichten kriselnder Staaten und die künftige europäische Politik gegenüber diesen Ländern die Finanzmärkte nur dann positiv beeinflussen, wenn sie glaubwürdig und konsistent erfolgt. Die Krise zeigt jedoch, dass Prognosen von Organisation wie dem IWF oder der EU oftmals zu Gunsten des betreffenden Landes verzerrt sind, um so die laufenden Hilfsmaßnahmen zu legalisieren. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Vorstellungen der Staats- und Regierungschefs, wie man der Krise gerecht wird und sie bewältigt, höchst unterschiedlich sind, was zu einer Vielzahl sich teils widersprechender Stimmen führte. Ein weiteres Argument für die fehlende Überzeugungskraft der Gipfeltreffen liegt möglicherweise in der dezentralen Struktur europäischer Entscheidungsprozesse. Da die Ergebnisse der Treffen – zumindest in bestimmten Fällen – von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden müssen, sind es möglicherweise erst diese endgültigen Ergebnisse, die die relevanten Nachrichten (allerdings dann erst zu einem späteren Zeitpunkt) reflektieren. Schließlich muss man die grundlegenden Unterschiede zwischen Zentralbanken und den EU-Gipfeltreffen im Hinterkopf behalten: Zentralbanken kommunizieren vor allem bekannte und allgemein akzeptierte Ziele und Instrumente. Sie konnten darüber hinaus vielfach bereits eine entsprechende Reputation aufbauen. Diese beiden Argumente zu Gunsten von Zentralbanken lassen sich jedoch bestenfalls zu einem geringen Teil oder auch gar nicht auf die Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs übertragen.
[1] Smeets, Dieter und Marco Zimmermann: Did the EU Summits Succeed in Convincing the Markets during the Recent Crisis?, Journal of Common Market Studies, Band 51 (2013), S.1158-1177.
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