Transfersysteme und Armutswanderung in der EU
David Cameron, die CSU und der Status quo

In den letzten Tagen des alten Jahres sorgte ein Vorschlag für Diskussionen, den die CSU anläßlich der seit dem 1.1.2014 geltenden vollständigen Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Rumänien und Bulgarien gemacht hat. Die CSU beklagt die Gefahr einer Zuwanderung in die Sozialsysteme aus diesen beiden Ländern. Angesichts der großen Unterschiede in den absoluten Einkommen zwischen ihnen und den etablierten Mitgliedstaaten Mitteleuropas wird befürchtet, daß sich Menschen aus Südosteuropa ohne Arbeitsplatz oder sogar ohne den Willen zur Arbeit auf den Weg zu uns machen, um hier von Sozialleistungen zu leben.

Tatsächlich erwartet eine Studie des Institus für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), daß die Zuwanderung aus diesen Ländern zunehmen wird. Der Wanderungssaldo im Jahr 2014 dürfte demnach zwischen 100.000 und 180.000 Zuwanderern aus beiden Ländern liegen. Zu bedenken ist zwar, daß die Arbeitslosenquote unter rumänischen und bulgarischen Zuwanderern mit 9,6 Prozent bisher geringer ist als unter der ausländischen Erwerbsbevölkerung in Deutschland insgesamt. Dies kann aber ein Effekt der eingeschränkten Personenfreizügigkeit für diese Gruppen sein, die eine Zuwanderung in die Sozialsysteme bisher noch erschwert hat. Hinzu kommt, daß im Trend das Qualifikationsniveau der Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien eher abnimmt und der Anteil der gänzlich unqualifizierten Zuwanderer zunimmt.

Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, zwei Diskussionen sauber zu trennen. Die erste Frage ist, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU an und für sich vernünftig ist. Die zweite Frage ist dagegen, welche Anreize man im Detail setzen kann, um für eine Vereinbarkeit zwischen Mobilität der EU-Bürger und nationalstaatlicher Autonomie in der Sozialpolitik zu sorgen. In der politischen Diskussion geraten beide Aspekte oft durcheinander. So sieht beispielsweise auch der britische Premierminister David Cameron sein Land von südosteuropäischen Armutsmigranten bedroht. Er schlug daher kürzlich vor, die Personenfreizügigkeit insgesamt einzuschränken und nur noch geringe jährliche Zuwandererquoten zuzulassen. Er antwortet also auf die zweite Frage, indem er die erste Frage verneint.

Solche Überreaktionen sind wenig überzeugend. Sie laufen auf eine zentralisierte politische Steuerung hinaus, die implizit unterstellt, daß Politiker und Bürokraten überlegenes Wissen über die ökonomisch sinnvolle Zu- und Abwanderung in den einzelnen Ländern haben. Ökonomisch sinnvolle Zuwanderung ist aber das Resultat freiwillig geschlossener Verträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, und die Entscheidung über das sinnvolle Ausmaß von Zuwanderung ist genauso schwierig zu zentralisieren wie es z.B. die Entscheidung über die optimale Zahl der europaweit jährlich zu produzierenden Bratwürste und Baguettes wäre. Prägnanter gesagt: Der britische Premier möchte arbeitsmarktpolitische Planwirtschaft durch Mengenrationierung betreiben. Ein grundsätzliches Infragestellen der Personenfreizügigkeit in der EU ist außerdem auch deshalb zweifelhaft, weil für die osteuropäischen Länder der Beitritt zur Währungsunion ein Ziel ist. Damit ist aber auch eine frühzeitige vertiefte Integration in den europäischen Arbeitsmarkt sinnvoll, denn die Mobilität von Arbeitnehmern ist nach der endgültigen Fixierung der Wechselkurse ein wichtiger Anpassungsmechanismus im Fall einer asymmetrischen Wirtschaftsentwicklung.

Schließlich ist es auch wenig sinnvoll, lediglich die Kosten der Personenfreizügigkeit im Auge zu haben, den Nutzen aber zu vernachlässigen. In diesem Punkt weist die oben zitierte IAB-Studie darauf hin, daß mehr als zwei Drittel der bisher in Deutschland lebenden Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien überhaupt gar keine Transferleistungen empfangen, unter den Neuankömmlingen sogar drei Viertel keinerlei Leistungen bekommen. Daraus ergibt sich für das demographisch ohnehin geplagte Deutschland unterm Strich ein fiskalischer Nettonutzen, den man vernachlässigt, wenn man nur die Kosten in den Blick nimmt. Deutschland sollte also schon aus Eigennutz darum bemüht sein, grundsätzliche Skepsis an der europäischen Personenfreizügigkeit schnell und überzeugend zu kontern.

Im Gegensatz zu David Cameron verteidigt die CSU in ihrem umstrittenen (und leider bisher nicht vollständig öffentlich verfügbaren) Papier die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Grundsatz tatsächlich. Die Reformvorschläge sind eigentlich moderat: Es soll eine Karenzzeit von drei Monaten geben, die ein Zuwanderer als Steuerzahler in Deutschland verbringen soll, bevor er ein Anrecht auf Sozialhilfe erhält. Und es soll die Möglichkeit geben, eine Wiedereinreisesperre zu verhängen, falls Leistungen betrügerisch erlangt wurden. Beides ist innerhalb des geltenden EU-Rechts möglich. Es handelt sich bei diesen Vorschlägen also nicht um Maßnahmen, die die Freizügigkeit in der EU infrage stellen, sondern um eine Anpassung der heimischen Sozialsysteme, um deren Kompatibilität mit der Freizügigkeit innerhalb der EU zu gewährleisten.

Auch wenn sich die verschiedenen Transfersysteme von der Sozialhilfe bis zur Rentenversicherung nicht über versicherungsmathematisch berechnete Prämien finanzieren, sondern durch allgemeine Steuern und Abgaben, so steckt hinter ihnen doch ein Versicherungsgedanke. Dieser wird jedoch ausgehebelt, wenn man sich seine Versicherung erst dann aussuchen kann, wenn der Ernstfall bereits eingetreten ist – wenn man also beispielsweise als unvermittelbarer, unqualifizierter Arbeitsloser in das Land auswandert, das die komfortabelste Grundsicherung anbietet. Gerade diejenigen Bürger, die eine Präferenz für einen großzügigen Sozialstaat haben, sollten sich daher mit den Vorschlägen der CSU anfreunden können. Denn je mehr man dafür sorgt, daß das eigene Transfersystem weiterhin dem Versicherungsgedanken entspricht, desto mehr nimmt man sogar unter der (bisher noch fiktiven) Bedingung hoher Arbeitsmobilität im europäischen Binnenmarkt externen Druck vom eigenen Transfersystem.

Das Problem des CSU-Vorschlages ist also weniger die Substanz, als vielmehr die begleitende Rhetorik, die den Anschein erweckt, Deutschland werde von einer Völkerwanderung arbeitsloser Südosteuropäer bedroht. Dies ist aber, wie die oben zitierte Studie des IAB zeigt, sicher nicht der Fall. Eine solche Rhetorik kann schnell ungewollte Folgen haben und das grundsätzliche Bekenntnis zur Freizügigkeit von Arbeitnehmern in der EU als reines Lippenbekenntnis in den Hintergrund treten lassen. Auf der anderen Seite gehen auch Reaktionen aus anderen Parteien, die der CSU teils auch Ausländerfeindlichkeit vorwerfen, weit über das vertretbare Maß hinaus und zeigen, wie schwer es ist, eine rationale und unaufgeregte Diskussion über dieses Thema zu führen.

Der Status quo ist zwar nicht bedrohlich, aber er muß auch nicht unbedingt stabil sein. Die Bedingungen können sich ändern. Würde die Mobilität in Europa zunehmen, dann könnte die Arbitrage zwischen verschiedenen Transfersystemen durch Migration nämlich irgendwann doch zu einem Problem werden, das auch quantitativ bedeutsam wäre. Es wäre gut, für diesen Fall vorbereitet zu sein. Denn sonst könnten irrationale Überreaktionen, wie sie sich bei David Cameron bereits andeuten, politische Realität werden und die Freizügigkeit der Bürger in der EU tatsächlich wieder eingeschränkt werden.

4 Antworten auf „Transfersysteme und Armutswanderung in der EU
David Cameron, die CSU und der Status quo

  1. Das Problem des CSU-Vorschlages ist also weniger die Substanz, als vielmehr die begleitende Rhetorik, die den Anschein erweckt, Deutschland werde von einer Völkerwanderung arbeitsloser Südosteuropäer bedroht.

    Die Frage ist allerdings, ob diese Rhetorik eine originäre ist oder von den Gegnern der CSU nur unterstellt wird. Mein Eindruck geht eher in Richtung letzterem.

  2. mag sein, dass die Hysterie um südeuropäische „Armutszuwanderung“ wieder medial überspannt wird. eine ganz entscheidende Zuwanderungsherausforderung wird aber auf jeden Fall auf Europa zukommen: afrikanische Armutsflüchtlinge. da sich in Afrika bis 2050 die Bevölkerung nahezu verdoppelt haben dürfte, werden noch mehr Flüchtlinge mit Booten über das Mittelmeer versuchen ins gelobte Europa zu gelangen.und hier kann durchaus von Zuwanderung in die Sozialsysteme gesprochen werden. aber das nur am Rande. zielt ja nicht auf den Artikel ab….

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