Quo vadis Zensus? – ein Zwischenruf

Dass eine neue Volkszählung ohne Widerstände seitens einiger betroffener Kommunen vonstatten gehen würde, damit hatte vermutlich keiner gerechnet. Es ist verständlich, dass Kommunen, die durch den Zensus Nachteile (zumeist finanzieller Art) erleiden, versuchen diese abzuwenden. So erscheinen die Pressemeldungen der letzten Zeit, wonach viele Kommunen Klage gegen die Ergebnisse des Zensus einlegen wollen, auf den ersten Blick auch wenig erstaunlich. Allerdings wird dabei kaum über einen Zensus-Befund diskutiert, der die angekündigten Klagen in anderem Licht erscheinen lässt.

Um diesen Befund zu verstehen, muss man sich das Verfahren des Zensus vor Augen führen. Für Kommunen bis 10.000 Einwohner sind Melderegisterdaten aufbereitet und in Zweifelsfällen, d.h. wenn zum Beispiel zwei gemeldete Hauptwohnsitze für eine Person vorlagen, dahingehend überprüft worden, welches die tatsächliche Wohnadresse einer Person ist. Für Kommunen ab 10.000 Einwohner wurde hingegen eine Stichprobe aus aufbereiteten Melderegister- und Adressdaten gezogen. Mit anschließenden Hausbesuchen durch Erhebungsbeauftragte wurde die Anzahl der Bewohner überprüft. Es kamen also zwei unterschiedliche Verfahren zur Bestimmung der Bevölkerungszahl zur Anwendung.

Dabei war dieses unterschiedliche Vorgehen aus Effizienzgründen bewusst gewählt und im Rahmen des Zensus-Gesetztes legitimiert worden. Und tatsächlich richtet sich die Kritik im Wesentlichen auch nicht gegen das naturgemäß mit Unsicherheit behaftete Stichprobenverfahren für größere Kommunen. Vielmehr zeigt die Auswertung der Ergebnisse, dass bei der Durchführung des Verfahrens Fehler passiert sein müssen: Nachvollziehbar haben Kommunen mit sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen zum Teil Bevölkerung hinzugewonnen und andere haben Bevölkerung verloren. Allerdings gibt es systematische Unterschiede im Umfang der Bevölkerungsverluste, die sich just an der Grenze von 10.000 Einwohnern manifestieren. Konkret haben Kommunen über 10.000 Einwohnern rund 1,5%-Punkte stärkere Bevölkerungsverluste erlitten als Kommunen unter 10.000 Einwohnern. Nun mag eingewandt werden, dass vielleicht die korrekte Pflege der Melderegister in größeren Kommunen schwieriger als in kleinen Kommunen ist und somit größere Kommunen stärkere Bevölkerungsverluste aufweisen. Diese Argumentation entspricht im Wesentlichen den Ergebnissen des so genannten Zensus-Tests aus dem Jahr 2001, der als Grundlage des Zensus-Verfahrens diente. Allerdings bleibt der Befund des Strukturbruchs der Bevölkerungsverluste genau bei 10.000 Einwohnern auch dann bestehen, wenn man den Größeneffekt der Kommunen zusätzlich kontrolliert, also einen möglichen positiven Einfluss der Größe einer Kommune auf die Bevölkerungsveränderungen durch den Zensus herausrechnet. Derartige statistische Testverfahren sind natürlich immer auch mit Unsicherheit behaftet. Wie frappierend allerdings der beschriebene Strukturbruch hinsichtlich der relativen Bevölkerungsverluste exakt beim Übergang zwischen den unterschiedlichen Verfahren für kleine und große Kommunen ist, lässt sich ohne Schwierigkeiten auch mit bloßem Auge erkennen, wie die folgende Abbildung zeigt.

Bevölkerung
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Was bedeutet dieser Befund? – Offensichtlich wurden größere Kommunen schlicht aufgrund des gegenüber kleinen Kommunen unterschiedlichen Verfahrens zur Bevölkerungsfeststellung benachteiligt, d.h. sie haben relativ mehr Bevölkerung verloren.

Dass dieses an der Grenze von 10.000 Einwohnern geschehen ist, lässt sich nicht aus dem Zensus-Test ableiten. Es ist also keineswegs so, dass Kommunen über 10.000 Einwohner ihre Melderegister systematisch anders führen als die kleineren Kommunen. Das Ausmaß der durch die Ungleichbehandlung erfolgten zusätzlichen Bevölkerungsverluste für große Kommunen lässt sich vor dem Hintergrund der Bevölkerungskorrektur durch den Zensus für Deutschland insgesamt bewerten: Durch den Zensus wurde die Bevölkerung deutschlandweit insgesamt um 1,8% nach unten korrigiert; mit zusätzlichen Bevölkerungsverlusten von 1,5% liegt der Umfang der systematischen Benachteiligung großer gegenüber kleiner Kommunen durch den Zensus nur geringfügig niedriger.

Die Zensusergebnisse haben nicht nur Auswirkungen auf die Kommunalfinanzen, auch die Bundesländer sind über den Länderfinanzausgleich von den Ergebnissen betroffen. So freut sich Rheinland-Pfalz über Mehreinnahmen von ca. 150 Mio. € pro Jahr, wohingegen z.B. der Stadtstaat Hamburg mit Mehrkosten von ca. 70 Mio. € rechnen muss[1]. Aufgrund der deutlich unterschiedlichen Struktur der Gemeinden in den Bundesländern ist nach der obigen Diskussion auch hier zu vermuten, dass sich zumindest ein Teil der Unterschiede in den Bevölkerungsverlusten durch den Zensus durch den Anteil der Bevölkerung in Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern erklären lässt.

Die folgende Abbildung illustriert diesen Zusammenhang anhand einer einfachen linearen Regression. [2]

Bevölkerung
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Der empirische Befund macht deutlich, dass sich die Ungleichbehandlung kleiner und großer Kommunen in Form von unterschiedlichen Verfahren zur Bevölkerungsfeststellung massiv nachteilig für Kommunen ab 10.000 Einwohnern ausgewirkt hat. Ungeklärt ist zum jetzigen Zeitpunkt allerdings, worin die Ursache für die stärkeren Bevölkerungsverluste beim Stichprobenverfahren liegt. Mit den derzeit seitens des Statistischen Bundesamtes zur Verfügung gestellten Daten lässt sich diese Frage nicht tiefergehend analysieren. Damit bleibt auch die Frage offen, ob es überhaupt Korrekturmöglichkeiten der beschriebenen Verzerrungen gibt. Darüber hinaus muss mittelfristig natürlich auch entschieden werden, wie die Probleme des Zensus 2011 beim Zensus 2020 verfahrenstechnisch verhindert werden können.

Dieses macht vier Forderungen an das Statistische Bundesamt deutlich:

  1. Es dürfen in keinem Fall Daten des Zensusverfahrens – egal welcher Art – vernichtet werden, solange nicht alle Fragen zum Zensus geklärt sind.
  2. Es sollten schnellstmöglich alle hinsichtlich des Datenschutzes unkritischen Daten des Zensus veröffentlicht werden.
  3. Daten, die als Individualdaten aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht werden können, sollten zu Forschungszwecken zur kontrollierten Ferndatenauswertung zur Verfügung gestellt werden, wie es sich über die Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter auch für andere sensible Daten seit vielen Jahren bewährt hat.
  4. Der SAS-Code zur Datenaufbereitung sämtlicher Registerdaten als Grundlage des Zensus sollte veröffentlicht werden, um nachprüfbar auszuschließen, dass Fehler in der Datenaufbereitung zu Fehlern in den Zensus-Ergebnissen geführt haben.

Nur durch diese Maßnahmen kann ein weiterer massiver Vertrauensverlust gegen den Zensus minimiert werden.


Fußnoten


[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/zensus-wie-sich-der-zensus-auf-den-laenderfinanzausgleich-auswirkt-1.1685531

[2]  Auch unter Eliminierung der drei Stadtstaaten (ganz rechts in der Abbildung) bleibt der negative Zusammenhang – wenn auch schwächer – bestehen (R2 = 16,25%).

Björn Christensen und Sören Christensen
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