In einem aktuellen Beitrag „Sollen – und werden – die Energiekonzerne den Atomausstieg bezahlen?“ in diesem Blog setzt sich Tim Krieger mit dem jüngst heftig diskutierten Problem der Kosten des Atomausstiegs auseinander. Dabei kommt er zu einigen überaus offensichtlichen Thesen wie etwa der Verantwortung der Energiekonzerne für die Entsorgung des Atommülls und der nicht mehr betriebenen Meiler im Sinne einer möglichst vollständigen Internalisierung von Entscheidungsfolgen. Mit dem Anschein ähnlicher Offensichtlichkeit wird aber teilweise auch über weit weniger Offensichtliches berichtet und dabei noch unvollständig bzw. falsch. Dies stellt den Anlass für die folgenden Anmerkungen dar.
- Die im Zusammenhang mit einem möglichen Stiftungsfonds angesprochene bisherige Ausfinanzierung der zukünftigen Ausstiegskosten erfolgt nicht über Rücklagen, sondern über Rückstellungen. Rücklagen sind im Gegensatz zu Rückstellungen Eigenkapital, was etwas verquer dargestellt wird, wenn es im letzten Absatz heißt: „… dass nicht nur die Rücklagen, sondern auch das Eigenkapital …“.
- Ansatz und Bewertung von Rückstellungen sind sowohl handels- als auch steuerrechtlich geregelt und Wirtschafts- sowie Betriebsprüfer kontrollieren intensiv, dass die entsprechenden Regelungen eingehalten werden. Beispielsweise heißt es in § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. d) und e) EStG:
„… Rückstellungen für die Verpflichtung, ein Kernkraftwerk stillzulegen, sind ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Nutzung bis zum Zeitpunkt, in dem mit der Stilllegung be-gonnen werden muss, zeitanteilig in gleichen Raten anzusammeln; steht der Zeitpunkt der Stilllegung nicht fest, beträgt der Zeitraum für die Ansammlung 25 Jahre;
Rückstellungen für Verpflichtungen sind mit einem Zinssatz von 5,5 Prozent abzuzinsen; Nummer 3 Satz 2 ist entsprechend anzuwenden …“
Es mag dahinstehen, ob dies eine optimale Vorgabe darstellt. Grundsätzlich ist sie aber erkennbar darauf angelegt, dass bei Ende des Kraftwerkbetriebs eine hinreichende Deckung für den Rückbau vorhanden ist. - Im Jahr 2000 schlossen die Bundesregierung und die Energieversorgungsunternehmen eine Vereinbarung, in welcher der Rahmen für einen geordneten Ausstieg aus der Kernernergie in Deutschland geschaffen wurde. Darin heißt es u.a. wörtlich:
„Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige Maßnahmen diskriminiert wird.“
Letztlich wurde damals ein Kompromiss zwischen den politischen Wünschen der rot-grünen Koalition und den Interessen der Kernenergiebetreiber gefunden, der für Letztere bereits eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem Status quo ante darstellte. - Nachdem im Oktober 2010 über das Atomgesetz der schwarz-gelben Regierung zwischenzeitlich eine Verlängerung der Kraftwerkslaufzeiten angesagt war, wurde im Frühjahr 2011 nach den Reaktorschäden von Fukushima ein Atom-Moratorium angesagt, an dessen Ende eine deutliche Verkürzung dieser Laufzeiten stand. Dabei wurde nicht nur gegen die Vereinbarung aus dem Jahr 2000 im Allgemeinen sowie die zitierte Passage im Besonderen verstoßen, sondern auch keinerlei Restitution für den wirtschaftlichen Schaden der Kraftwerksbetreiber gewährt – im Gegenteil: Eine kurz zuvor durch das Kernbrennstoffsteuergesetz eingeführte Brennelementesteuer wurde entgegen dem Wortlaut der 2000er-Vereinbarung und den aus dem Moratorium hervorgehenden Zusatzlasten mit Nachdruck umgesetzt.
- Die neuen Regelungen tangieren auch die Ausfinanzierung der Kraftwerkstilllegungen wie aus der zitierten Passage von § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. d) klar hervorgeht. Sofern nicht die 25 Jahre-Alternative Bestand hat, führt die geringere Restlaufzeit zwangsläufig zu einem Anpassungsbedarf gegenüber den bisherigen Rückstellungszuführungen. Es ist also merkwürdig, den Kraftwerksbetreibern eine „systematisch zu niedrige Rücklagen(sic!)bildung für einen späteren Atomausstieg“ vorzuwerfen, ohne diesen Zusammenhang zu thematisieren, da überhaupt nicht klar ist, ob bei vertragskonformen Weiterbetreiben der Meiler die gesetzlich vorgeschriebene Ausfinanzierung suffizient gewesen wäre bzw. es nach einer entsprechenden Anpassung sein wird. Jedenfalls ist der Blick auf den heutigen Stand der Rückstellungen irreführend, denn diese werden systemgemäß für jedes Kraftwerk bis zu seiner Stilllegung weiter steigen. Insofern hängt auch der Verweis auf die falschen gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Luft.
- Selbst die Bemerkung „Die Strategie der Konzerne, die Rücklagen (sic!) möglichst gering zu halten und damit eine Unterdeckung in Kauf zu nehmen“ ist eine schale Unterstellung – Betriebswirte werden sich noch daran erinnern, dass in früheren Zeiten eine zu starke Rückstellungsbildung aus steuerlichen Motiven vermutet wurde. Generell ist es nämlich für eine Kapitalgesellschaft steuerlich vorteilhaft, zukünftige Belastungen nicht zu gering zu schätzen und möglichst früh durch Rückstellungen zu antizipieren, so lange es nicht zu Verlusten in den jeweiligen Perioden kommt. Da die Energieunternehmen regelmäßig keine Vollausschüttung betrieben haben, haben sie in der Tat aus versteuerten Gewinnen Rücklagen (!!!) gebildet, die gegebenenfalls eines Tages zusammen mit dem sonstigen Eigenkapital auch für nicht antizipierte Ausstiegskosten als Deckungsmasse fungieren würden – steuerlich entsprechend verspätet und möglicherweise sogar nur betraglich reduziert anzusetzen.
- Dass der Staat dieses gesamte Eigenkapital im Zuge einer Stiftungslösung usurpieren könnte, wie es Tim Krieger in seinem letzten Absatz diskutiert, wäre ein weiterer bemerkenswerter Aspekt hoheitlichen Handelns. Die Ursurpation, so sie überhaupt rechtlich möglich wäre, würde indessen nicht nur die Eigentümer, sondern auch die Gläubiger der Kraftwerksbetreiber treffen. Sie wäre praktisch gleichbedeutend mit der sofortiger Insolvenz der Energieriesen und würde dazu führen, dass neben den zukünftigen Lasten des Atomausstiegs sofort ohne Notwendigkeit ganz andere Verwerfungen entstünden.
- Den wirtschaftlichen Zusammenbruch umgekehrt als „Drohpunkt der Unternehmen“ auf der Basis des Stauts quo zu sehen, passt zum Gesamtbild der bösen Konzerne, die sich auch noch erdreisten, das Gemeinwesen durch die Verfolgung von Ansprüchen in noch größerem Maße in Anspruch zu nehmen. Dabei wäre es nicht nur legal, sondern auch legitim und nicht „in der Bevölkerung und der Politik“ ernsthaft als „Erpressungsversuch“ zu interpretieren, wenn die Energieversorger im bislang nur virtuellen Rahmen von Verhandlungen über eine Stiftungslösung auch Schadenersatzansprüche einbringen wollten, die nach ersten Gerichtsentscheidungen zumindest in weiten Teilen durchaus begründet erscheinen.
- Ob die vollständige Berücksichtigung aller Rückstellungen und Schadenersatzansprüche ausreicht, um den Ausstieg zu finanzieren, kann heute noch niemand seriös vorhersagen. Entsprechend weiß auch niemand, ob die öffentlichkeitswirksame Zurückweisung einer Stiftungslösung, deren genauer Inhalt erst noch zu fixieren wäre, für die Allgemeinheit tatsächlich günstig ist und ob sowie gegebenenfalls unter welchen Umständen es doch noch zu einer solchen Lösung kommen wird.
All dies mag neben dem offensichtlichen marktwirtschaftlichen Prinzip, dass Solidarität erst dort einsetzt, wo Subsidiarität an ihre Grenzen stößt, und der allgemeinen Forderung nach einer Internalisierung von Entscheidungsfolgen lästig detailbeladen erscheinen. Es macht aber letztlich doch einen Unterschied, ob „vermeintliche Gewohnheitsrechte“ oder vertragliche Ansprüche gegen Vater Staat „versunken“ sind bzw. versinken können. Wenn sich Betreiber von Anlagen mit jahrzehntelanger Betriebszeit nicht mehr dauerhaft auf Vorgaben und vertragliche Zusagen der öffentlichen Hand verlassen können, werden sie derartige Investitionen schlicht unterlassen. Wer dies nicht für eine zukunftsgerichtete Betrachtung hält, mag weiter unentscheidbare Gerechtigkeitsdiskussionen führen, nur, bitte, dabei keine Offensichtlichkeit suggerieren, die bei angemessener Betrachtung gegenläufiger Aspekte nicht gegeben ist
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Eine Antwort auf „Kosten des Atomausstiegs – mehr und weniger Offensichtliches“