“2. Würzburger Ordnungstag“
Niedrigzinsen: Vorübergehendes Phänomen oder neue Normalität?

Seit dem Höhepunkt der Finanzkrise im Herbst 2008 sind niedrige Zinsen in den großen Industriestaaten ein gängiges Phänomen. Während die Notenbanken der USA, Großbritanniens und Japans ihre Leitzinsen bereits im Herbst 2008 auf Null bzw. nahe Null setzen, tat die EZB dies erst Ende 2013. Niedrige Zinsen in der Eurozone gibt es allerdings schon seit dem Frühjahr 2009, nachdem die EZB den Leitzins von 4,25% Anfang Oktober 2008 auf 1% im Mai 2009 ermäßigt hatte. Nach einer vorübergehenden Anhebung des Leitzinses auf 1,5% im Jahre 2011 hat die EZB diesen seither schrittweise auf 0,05% im September 2014 gedrückt. Auch am langen Ende des Marktes sind die Zinsen – gemessen an der Nominalrendite für zehnjährige Bundesanleihen – der Leitzinsentwicklung tendenziell gefolgt. Die Nominalverzinsung für zehnjährige Bundesanleihen ermäßigte sich von gut 3% im Herbst 2008 auf ein Niveau von knapp 1% im Oktober 2014.

In Zuge dieser Entwicklung wurden die Realzinsen, gemessen an der Differenz zwischen Nominalzins und Inflationsrate, negativ. Die negativen Realzinsen in der Eurozone sind allerdings seit Juli 2011 wieder tendenziell zurückgegangen (von 1,5 auf 0,25 Prozentpunkte im September 2014), weil die Inflationsrate in dieser Zeit (von etwa 3% auf 0,3% im September 2014) stärker sank als die (nominalen) Leitzinsen (von 1,5 % auf 0,05%).

Während die Volkswirtschaften der USA und Großbritanniens inzwischen wieder auf einen Wachstumspfad eingeschwenkt sind, stagniert das BIP in der Eurozone und Japan. Daher sind nun global verschiedene Geschwindigkeiten beim Ausstieg aus der Niedrigzinspolitik wahrscheinlich. Während in den USA und in Großbritannien Leitzinserhöhungen vom Niveau Null absehbar sind, ist ein Ende der Niedrigzinsphase in der Eurozone nicht angezeigt. Hier ist der Ausstiegszeitpunkt ist angesichts der anhaltenden Wachstumsschwäche bei gleichzeitiger Reformmüdigkeit in wichtigen Euroländern wie Frankreich und Italien ungewisser denn je. Damit kondensiert sich die Themenstellung, ob es sich bei den Niedrigzinsen um ein „vorübergehendes Phänomen oder neue Normalität“ handelt, auf die einfache Frage: Wie lange müssen wir noch mit niedrigen Zinsen leben? Mögliche Antworten erfordern einen Blick in die Kristallkugel. Dabei richtet sich der Blick auf

  1. vier Anhaltspunkte für die Dauer niedriger Euro-Zinsen: Schätzungen von EZB-Präsident Mario Draghi und DIW-Präsident Fratzscher, die Bibel sowie die absehbare Entwicklung von Inflationsrate und Wachstum;
  2. zwei Thesen, und zwar auf die These vom „Global Savings Glut“ von Ben Bernanke sowie die These der strukturellen Nachfrageschwäche von Larry Summers;
  3. vier Szenarien: (1) Wachstum erstarkt; (2) Wechselkurs stürzt ab; (3) Vermögensblasen sprießen; (4) Deflation kommt.

1. Vier Anhaltspunkte für die Dauer niedriger Euro-Zinsen

Beim ersten Anhaltspunkt wird beispielhaft Bezug genommen auf Stellungnahmen zweier namhafter Experten. Der EZB-Präsident Mario Draghi verkündete im Juni 2014 die Botschaft, dass niedrige Notenbankzinsen bis mindestens Ende 2016 wahrscheinlich sind[1]. Er begründet dies mit schwachem Wachstum und schwacher Kreditnachfrage der Unternehmen, während keine nennenswerten Inflationsgefahren zu erkennen sind. Vielleicht behält Präsident Mario Draghi mit seiner Prognose recht. Die Zinsbotschaft von Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des DIW, vom Juni 2014 ist ähnlich: Die Zinsen für die kommenden zwei bis drei Jahre werden bei dem gegebenem Wachstums- und Inflationsumfeld so niedrig wie jetzt bleiben[2]. Dem entsprechend müssten die Sparer müssen noch mehrere Jahre mit niedrigen Zinsen leben.

Zweitens ist zu fragen, was wir aus der Bibel lernen können, gemäß der auf sieben fette Jahre sieben magere Jahre folgen? Das ist Glaubenssache. Ein Blick auf die Zeitschiene zeigt, dass wir niedrige Eurozinsen seit Mai 2009 haben. Demnach wären in Anlehnung an die sieben mageren Jahre niedrige Zinsen etwa bis Mai 2016 zu erwarten.

Diese Bibelstelle ist allerdings noch in anderem Zusammenhang für das Thema interessant: Die 7 fetten und die 7 mageren Jahren wurden dem Pharao im Traum verkündigt. Dort sah er 7 fette Kühe, die von 7 mageren Kühen verschlungen wurden. Da der Pharao den Traum nicht verstand, bat er Josef, der sich zuvor schon als Traumdeuter bewährt hatte, den Traum zu deuten. Beeindruckt von dessen Deutungskunst, ernannte er Josef zu seinem Statthalter. Josef ließ daraufhin genügend Speicher bauen, um die Erträge der Getreideernte der fetten Jahre zu sammeln, damit diese in den schlechten Jahren verkauft werden konnten. So wurde eine Hungersnot abgewendet. Allerdings mussten die Einwohner in den mageren Jahren für das Getreide bezahlen, so dass sie zuerst ihr Geld, dann ihr Vieh und ihr Land und schließlich sich selbst als für die Bezahlung einbringen mussten und so zu Sklaven des Pharaos wurden.

Für unser Thema bezogen lautet die entsprechende Frage: Wird die Eurozone zum Sklaven dauerhaft niedriger Zinsen? Niedrige Nominalzinsen und negative Realzinsen haben allerdings nicht nur Vorteile wie z.B. die günstige Finanzierung von Investitionen in Realkapital. Sie sind – wie die Verabreichung von Medikamenten durch den Arzt – auch mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Zu niedrigen Zinsen hebeln wichtige ökonomische Funktionen des Zinssatzes aus, nämlich den Zins als Preis für Geld bzw. Kapital, als Maßstab für die Rentabilität von Investition und die Opportunitätskosten der Geldhaltung sowie als Mittel des Inflationsausgleichs.

Wenn der Zins dauerhaft zu niedrig ist, wird z.B. seine ökonomische Distributionsfunktion geschwächt. So werden die Sparanreize der privaten Haushalte beeinträchtigt und die Altersvorsorge erschwert.

Die Unternehmen können sich zwar zu günstigen Bedingungen verschulden, um zu investieren. Sie tun dies aber nur, wenn es Vertrauen und rentable Investitionen gibt. Wir alle kennen die Aussage von John Maynard Keynes, nach der man die Pferde zwar zur Tränke führen, sie aber nicht zum Saufen zwingen kann. Zu niedrige Zinsen können aber auch die Allokationsfunktion des Zinses beeinträchtigen und Fehlinvestitionen Vorschub leisten. Niedrige Zinsen verursachen den Unternehmen Probleme bei der betrieblichen Altersvorsorge. Sie führen z.B. zu geringeren Ablaufleistungen bei der Direktversicherung, bei der der Arbeitgeber eine Lebensversicherung für die Altersvorsorge seiner Arbeitnehmer abschließt. Die Ablaufleistung wird geschmälert, da dem früher üblichen Zinseszinseffekt aufgrund der Wiederanlage der Zinserträge weitgehend die langfristige Wirkung genommen wird.

Die Finanzminister der Eurozone sparen Zinskosten. Sie sind aber auch einem viel geringeren Konsolidierungsdruck ausgesetzt, was Begehrlichkeiten zugunsten höherer Staatsausgaben weckt. Die Finanzminister haben damit einen Anreiz, darauf hinzuwirken, dass der Ausstieg aus der Niedrigzinsphase zeitlich möglichst weit nach hinten geschoben wird. Auch bei der tatsächlichen Beendigung der Niedrigzinsphase kann eine Reihe von Problemen lauern. Bedenken dürften immer wieder vorgebracht werden, ob die Konjunktur schon soweit gefestigt ist, dass sie höhere Notenbankzinsen verkraften kann. Auch dürfte die Frage gestellt werden, ob das Bankensystem bereits fit ist für höhere Notenbankzinsen.

Der dritte Anhaltspunkt betrifft die säkular niedrigeren Inflationsraten und Inflations-Risikoprämien in den Zinssätzen[3]. Die Inflationsprognosen führender Wirtschaftsforschungsinstitute und des IWF[4] sehen anhaltend niedrige Inflationsraten bis 2016 voraus. Dies gilt auch für die Inflationsprojektionen des Stabes der EZB[5] . Letztere liegen mit 0,6% für 2014, 1,1% für 2015 und 1,4% für 2016 deutlich unter dem Inflationsziel der EZB von einer Inflationsrate von unter aber bei knapp 2%. Dies spricht für noch länger andauernde niedrige Nominalzinsen. Falls es doch zu zyklisch bedingt deutlich höhere Inflationsraten kommen sollte, dann würde die EZB wahrscheinlich mandatsgemäß die Zinsen anheben.

Der vierte Anhaltspunkt und ein großer Unsicherheitsfaktor für die künftige Zinsentwicklung ist das Wachstum. Die Eurozone ist nach Ansätzen einer Konjunkturerholung im Jahre 2013 wieder in die Stagnation zurückgefallen. Die einschlägigen Prognosen lassen auch keine durchgreifende Belebung[6] erwarten. Damit ist auch kein schnelles Ende der Niedrigzinsphase In der Eurozone in Sicht. Festzuhalten ist, dass die Wachstumskräfte Deutschlands viel bescheidener ausfallen als lange Zeit angenommen wurde. Ein großes Wachstumsrisiko für die Eurozone stellt der Reformstau in Frankreich und Italien dar. Positiv zu werten ist hingegen, dass einige Programm-Problemländer der Eurozone dank Konsolidierung und Reformen wieder auf einen moderaten Wachstumspfad einmünden konnten. Solange das Wachstum in der Eurozone aber insgesamt schwach bleibt, ist der Zeitraum der Niedrigzinsphase eher in mehreren Jahren zu beziffern und der Zeitpunkt eines Ausstiegs eher später als früher anzunehmen.

2. Zwei Thesen zu dauerhaft niedrigen Zinsen

2.1. The Global Savings Glut („Globale Ersparnisschwemme“)

Der Begriff wurde 2005 von Ben S. Bernanke[7] geprägt. Er beschreibt die These, wonach bereits vor der Finanzkrise 2008 weltweit ein Überhang an Ersparnissen im Vergleich zu den Investitionen bestand. Unter Ersparnisschwemme wird der globale Anstieg des Angebots an Ersparnissen verstanden, wobei hier das Sparvolumen der Schwellen- und Öl exportierenden Länder – insbesondere dasjenige Chinas – hervorgehoben wird. Für einzelne Volkswirtschaften erzeugt die Ersparnisschwemme die Neigung, statt Investitionen Exportüberschüsse zu finanzieren[8]. Das Gegenstück der Exportüberschüsse – insbesondere von China, Japan und Deutschland – sind die hohen Außenhandelsdefizite der USA. Gemäß Ben S. Bernanke sind die USA für ausländische Investoren wegen neuer Technologien und steigender Produktivität sehr attraktiv. Das in die USA fließende Kapital steigerte den Wert des Dollar, wodurch Importe der USA in Dollar gerechnet billiger und Exporte in ausländischer Währung gerechnet teurer würden.

Die These von der globalen Ersparnisschwemme gibt freilich auch Anlass zu Kritik. Sie wird z.B. von Werner Sinn[9] in Zweifel gezogen. Er weist darauf hin, dass die Bernanke-These ignoriert, dass die USA mehr ausgegeben als eingenommen haben und sich deshalb stark im Ausland verschuldet hat. Die US-Regierung hat in ihrer Wirtschaftspolitik auf die Verschuldung der privaten Haushalte gesetzt, um den privaten Verbrauch zu stärken. Dies verminderte das Sparen in den USA. Die US-Ersparnislücke wurde vom Ausland ausgefüllt, wenn auch nicht nachhaltig.

Da die geplanten Ersparnisse weltweit höher waren als die geplanten Investitionen, sanken die Zinssätze bereits vor der Finanzkrise. Die These von der Ersparnisschwemme kann also zumindest teilweise erklären, warum die Zinsen bereits bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2008 tendenziell rückläufig waren. Sie erklärt hingegen kaum die sehr niedrigen Zinsen seit 2009. Wichtiger als die „Global Savings Glut“ ist hier die These von der „Banken-Schwemme“, d.h. niedrige Zinsen sind das Ergebnis der anhaltend sehr expansiven Geldpolitik in allen wichtigen Währungsräumen.

Vor der Finanzkrise haben die weltweiten Ungleichgewichte in den Handels- und Leistungsbilanzen – hohes Defizit in den USA und beträchtliche Überschüsse in China, Japan und Deutschland – Unsicherheit erzeugt und der Bildung der US- Immobilienblase Vorschub geleistet. Das Platzen der US-Immobilienblase löste dann die Finanzkrise 2007/8 aus. Die US-Defizite und die Überschüsse Japans und Chinas sind seit der Finanzkrise und der großen Rezession 2009 per Saldo deutlich gesunken. Die Außenbilanz des Euroraums ist etwa im Gleichgewicht.und stellt damit keinen Hinderungsgrund für eine länger anhaltende Niedrigzinsperiode. Sie gibt aber auch keine Anhaltspunkte für ihre Dauer.

2.2. Säkulare Stagnation

Der ehemalige US-Finanzministers Larry Summers hat der These der säkularen Stagnation in seiner Rede vor dem Internationalen Währungsfonds (IWF) im November 2013 zu neuem Leben verholfen[10]. Die These beschreibt eine lange Phase schwachen Wachstums oder Nullwachstums, die mit niedrigen Inflationsraten und tiefen (d.h. negativen) Realzinsen einhergeht. Gemäß Summers liegt der Kern des säkularen Wachstumsproblems in einem strukturellen Ungleichgewicht zwischen Investitionstätigkeit und Sparaufkommen. Es würde einfach zu viel gespart und zu wenig investiert. Eine mangelnde gesamtwirtschaftliche Nachfrage würde das Wachstum bremsen und zu unausgelasteten Kapazitäten und Arbeitslosigkeit führen. Summers vertritt die Ansicht, dass der gleichgewichtige Realzins unter Null gefallen ist. Er beziffert ihn etwa minus 2 bis 3 %. Erst bei diesem Realzins wären Sparen und Investitionen wieder im Gleichgewicht und die Wirtschaft könne erneut dynamisch wachsen. Da die Realzinsen trotz sehr expansiver Geldpolitik in den USA, European und Japan immer noch zu hoch wären, nehmen die Unternehmen zu wenige Kredite auf, um zu investieren und das Wachstum zu beleben. Daher bleibe die Arbeitslosigkeit zu hoch.

Summers argumentiert, dass schon vor der Finanzkrise Anzeichen für die strukturelle Nachfrageschwäche sichtbar gewesen wären. Selbst die gewaltige Blase am US-Immobilienmarkt war bis 2007 nicht groß genug, um eine so hohe Nachfrage zu schaffen, die eine Auslastung der Kapazitäten gewährleistet hätte. Auch mehrere Jahre nach der Weltrezession von 2009 sei die Nachfrage immer noch viel zu schwach. In seinen wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen warnt Summers deshalb davor, die US-Geldpolitik zu früh zu straffen und die Budgetdefizite nicht zu rasch abzubauen. Da Realzinsen noch viel zu hoch seien, um genügend private Investitionen anzustoßen, sollte die US-Regierung ein großes kreditfinanziertes Investitionsprogramm auf den Weg bringen. In diesem Kontext schlägt Summers vor, mehr Inflation zuzulassen, um den Realzins stärker unter Null zu drücken. Zudem sollte die Nullgrenze bei den Nominalzinsen fallengelassen und auf Kontoguthaben bei Banken negative Zinsen gezahlt werden.

Hiergegen lässt sich freilich einwenden, dass dies auf eine doppelte Enteignung der Sparer hinauslaufen würde, und zwar einerseits über mehr Inflation und andererseits über negative Nominalzinsen. Niedrige Nominalzinsen bzw. negative Realzinsen verursachen Einbußen beim Ersparten und lähmen den Anreiz zum Sparen. Der traditionelle Zinseszinseffekt, den die Banker gelegentlich als „achtes Weltwunder“ bezeichnen, würde ins Gegenteil verkehrt.

Kritik an Summers Thesen äußerte z.B. auch John B. Taylor[11] Bereits Summers Faktenbeschreibung sei nicht korrekt. In den Jahren vor der Finanzkrise gab es klare Anzeichen von Überhitzung der US-Wirtschaft. Die Häuserpreise schossen nach oben und die Inflationsrate stieg, wohingegen die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordtief von 4,4% fiel, d.h. unter als „natürliche Rate“ definierte Marke von 5%. Die schwache Erholung der US-Wirtschaft seit der Weltrezession 2009 sieht Taylor in verfehlter US-Wirtschaftspolitik begründet. Unternehmen und Konsumenten wurden durch zu viele neue Regulierungen, Interventionen sowie teure staatliche Ausgaben- und Sozialprogramme verunsichert. Daher sei das Wachstumsproblem der USA nicht nur nachfrageseitig sondern auch angebotsseitig z.B. durch den Abbau überzogener Regulierungen anzugehen.

Dabei könnte sich die USA mit ihrer traditionell dynamischen Wirtschaft noch eher eine expansive Finanzpolitik leisten als viele Mitglieder der Eurozone. Für Euroländer mit hohen Staatsschulden ist der Spielraum für höhere Budgetdefizite gering, weil sonst erneut eine Staatschuldenkrise aufflammen könnte. Schon deshalb ist Europa nachfrageseitig stärker auf die Geldpolitik angewiesen als die USA. Auch dies spricht für eine länger anhaltende Niedrigzinsphase in Europa. Allerdings haben viele Euroländer auch auf der Angebotsseite Handlungsspielräume, indem sie über Strukturreformen die Unternehmen bei den Kosten entlasten, ihre Flexibilität erhöhen und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken.

3. Vier Szenarien zur Zinsentwicklung

Hinweise für die zukünftige Zinsentwicklung lassen sich auch durch eine Reihe von Szenarien gewinnen, die von der aktuellen Lage ausgehen. Drei der hier vorgestellten Szenarien wären künftig mit höheren Zinsen verbunden, wohingegen ein Deflationsszenarium die niedrigen Zinsen für lange Zeit fortschreiben würde.

1. Szenarium: Wachstumsschub beendet Niedrigzinsphase

Das Wachstum des Welt-BIP in den Jahren 2015 und 2016 wird z.B. von Deutsche Bank Research mit rund 4% p. a., das der USA mit 3 bis 3 ½% und das Chinas mit ca. 8% p. a. prognostiziert (Stand September 2014). Im ersten Szenarium wird nun angenommen, dass das Wachstum in den USA und in China in den Jahren 2015 und 2016 um ca. 2 Prozentpunkte höher ausfällt. Damit ziehen die Konjunkturlokomotiven USA und China die Eurozone aus der Stagnation. Zudem wird unterstellt, dass Italien und Frankreich sich dem Reformdruck beugen sowie die Konsolidierung und Strukturreformen in einigen Programm-Problemländern der Eurozone noch stärkere Wachstumswirkung entfalten.

Das Vertrauen der Investoren kehrt zurück und Europa erlebt 2015 und 2016 ein überraschend lebhaftes Wachstum von beispielweise ca. 3% p. a. statt der im September 2014 prognostizierten 1-1½ % p. a. Infolgedessen nehmen Kapazitätsauslastung und Beschäftigung spürbar zu. Bankkredite für Investitionen springen an. Die Löhne steigen stärker als die Produktivität. Die Inflationsraten geraten nach oben in Bewegung und verletzen das Inflationsziel der EZB. Die Geldpolitik wird allmählich gestrafft. Die Niedrigzinsphase geht spätestens 2016 zu Ende. Dieses Szenarium dürfte allerdings aus der Sicht vom Oktober 2014 eine relativ geringe Wahrscheinlichkeit aufweisen.

2. Szenarium: der Euro-Wechselkurs stürzt ab

Die EZB hat mit ihrer forcierten geldpolitischen Expansion den Wechselkurs des Euro gegenüber dem Dollar vom Mai bis Oktober 2014 bereits von 1,40 $ auf ca. 1,25 $ gedrückt. Es wird angenommen, dass die EZB bei anhaltend schwachem Wachstum ihre quantitative Lockerung verstärkt und auch auf den Kauf von Staatsanleihen ausweitet. Zudem werden eine fortgesetzte Erholung der US-Konjunktur und eine Straffung der US-Geldpolitik ab Frühjahr 2015 unterstellt. Diese Konstellation der Fundamentaldaten lassen den Dollarwechselkurs des Euro auf die Parität absacken.

Dies würde zwar die Konjunktur der Eurozone merklich stärken. Ein so deutlicher Wechselkursverfall würde aber zweifellos auch Preis steigernd wirken. Das Inflationsziel der EZB von knapp 2% gerät in Gefahr. Die EZB würde mandatsgemäß (wenn auch vermutlich verzögert) mit höheren Leitzinsen und Liquiditätsentzug reagieren, um den Binnen- und Außenwert des Euro zu verteidigen. Dies tritt spätestens Anfang 2016 ein. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenarium dürfte deutlich höher einzuschätzen sein als beim Szenarium 1.

3. Szenarium: Vermögensblasen sprießen

Das dritte Szenarium geht von der realistischen Annahme aus, dass die Erwartung dauerhaft niedrigerer Zinsen immer mehr Leute dazu verleitet, höhere Risiken einzugehen, um Rendite zu erzielen. Es entstehen Vermögensblasen bei Immobilien und Aktien. Vermögensblasen hat es zwar schon immer gegeben hat und sie enden nicht immer mit Krisen. Ein Platzen von Vermögensblasen kann aber gefährliche Ausmaße für Anleger, Banken und ganze Volkswirtschaften annehmen, wenn die Jagd nach Rendite mit hohen Risiken einhergeht und es zu starken Übertreibungen und Herdentrieb an den international stark verflochtenen Finanzmärkten kommt. Dies war bis 2008 am US-Immobilien- und Hypothekenanleihemarkt der Fall und die US-Subprimekrise löste dann die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise aus.

Das Problem für Notenbanken besteht bei Vermögensphasen freilich darin, die Problemblasen richtig zu diagnostizieren und rechtzeitig mit geeigneten Mitteln abzubauen. Eine Blasenbildung bei Aktien in Europa ist derzeit nicht erkennbar, da die Gewinnperspektiven bei schwachem Wachstum bescheiden sind und sich dies auch in den Aktienkursen niederschlägt. Was die Immobilienpreise in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union betrifft, so sind diese im ersten Halbjahr 2014 nach über zwei Jahren erstmals im Schnitt wieder leicht gestiegen. Während die Preise am Immobilienmarkt Deutschland steigen und auch in Irland und Portugal wieder anziehen, sind die Preise in Frankreich, Italien und Spanien weiter rückläufig. Eine Immobilienblase in der Eurozone ist nicht erkennbar. Dies könnte sich bei weiterhin niedrigen Zinsen und der fortschreitenden Sanierung des europäischen Bankensystems allerdings rasch ändern. Ob und wann es in diesem Fall zu höheren Zinsen kommen würde, ist freilich offen. Dennoch ist diesem Szenarium eine gewisse Wahrscheinlichkeit nicht abzusprechen.

4. Szenarium: Deflation tritt ein

Eine Deflation – definiert im Sinne eines kumulativen Abwärtsprozesses von Preisniveau und Produktion – ist für die Volkswirtschaft und Notenbank die schlechteste aller Welten. In diesem Szenarium würden private Haushalte Kaufzurückhaltung und Unternehmen Investitionszurückhaltung üben, weil sie niedrigere Preise erwarten. Für die Geldpolitik besteht das Problem darin, dass ein Deflationsprozess, bei dem Preisniveau, Produktion und BIP sinken, nur schwer durchbrochen werden kann. Die Geldpolitik der EZB ist bei einem Nominalleitzins von Null mit ihrem Zinslatein am Ende. Wenn die traditionelle Liquiditätsbereitstellung durch indirekte Offenmarktpolitik mit Sicherheiten basierten Wertpapierpensionsgeschäften ausgereizt ist, dann bleibt noch die Option der Liquiditätsausweitung über quantitative Lockerung, d. h. dem massiven Ankauf von Anleihen inklusive Staatsanleihen. Die EZB nimmt die Deflationsrisiken sehr ernst und handelt nach dem Motto: Vorbeugen ist besser als heilen. Die Deflationssorgen der EZB basieren derzeit auf

(1.) rückläufiger Inflationsrate (0,3% im September, im Sommer 2012 Spitze von 3%);

(2.) schwachem Wachstum bei sinkender Kreditvergabe an Unternehmen und geringer Zunahme von M3.

Derzeit ist in der Eurozone eher ein Rezessionsszenario denn ein Deflationsszenarium erkennbar. Erstens sind die Inflationsraten v. a. wegen sinkender Rohstoffpreise rückläufig; dies läuft sich wieder aus. Die Inflationsrate liegt deutlich unter dem Inflationsziel der EZB von knapp 2%, aber weiterhin positiv. Zweitens herrscht kein sich selbst verstärkender Abwärtsprozess bei Preisen und Produktion. Das BIP bewegte sich im zweiten Quartal 2014 seitwärts, nachdem es in vier aufeinanderfolgenden Quartalen gestiegen war. Der Geschäfts- und Konsumklimaindex der Kommission zeigen eine leichte Abschwächung ab Mitte 2014 nach einem kräftigen Anstieg seit dem vierten Quartal 2012.

Die von der EZB anvisierte ultraexpansive Geldpolitik über quantitative Lockerung ist nicht unproblematisch. Sie erhöht das Risiko, dass der Konsolidierungs- und Reformdruck in einigen großen Euroländern nachlässt und die Rückschlagsgefahren an den Finanzmärkten wieder zunehmen[12]. Zudem würde ein massiver Ankauf von Staatsanleihen auf eine laut EU-Vertrag unzulässige monetäre Budgetfinanzierung hinauslaufen. Eine Deflation ist derzeit wenig wahrscheinlich. Würde der Fall jedoch eintreten, dann ist eine anhaltende Niedrigzinsphase sehr wahrscheinlich. Dann könnten niedrige Zinsen zur neuen Normalität werden.

4. Fazit: Niedrigzinsen: vorübergehendes Phänomen oder neue Normalität?

Global sind bei den (Leit-)Zinsen ab Herbst 2014 zwei Geschwindigkeiten zu erwarten. In den USA und in Großbritannien ist eine Phase von Null aus steigender Notenbankzinsen absehbar, da die Erholung dort vorankommt. In der Eurozone wird die Phase niedriger Zinsen vorerst – etwa noch zwei Jahre andauern. Dies würde etwa dem im Deflationsszenarium erwähnten Rezessionsszenarium entsprechen.

Ein deutsches Sprichwort lautet: „Der Zins hat schnelle Füße – er läuft davon, bevor du dich umsiehst“. Das sollte man jedoch nicht so interpretieren, dass Zinsen dauerhaft niedrig sind, also den Sparern und Anlegern „fort“ laufen. Die diskutierten Anhaltspunkte, Thesen und Szenarien zu dieser komplexen Thematik lassen summa summarum den Schluss zu, dass der Zins auch wieder „zurückkommen“ und steigen wird, dafür hat er zu viele – nicht nur ökonomisch wesentliche – Funktionen! Niedrige Zinsen bleiben eher ein Krisenphänomen und sind (noch) keine „neue Normalität“.

Quellenverzeichnis

  • Werner Becker/Barbara Böttcher (2014), Währungspolitik, in: Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration.
  • Ben S. Bernanke (2005), The Global Saving Glut and the U.S. Current Account Deficit, Remarks at the Sandridge Lecture, Virginia Association of Economists, Richmond, Virginia, March 10
  • Jean-Pierre Danthine (2013): Causes and Consequences of Low Interest Rates, speech at the Swisscanto Market Outlook 2014, Lausanne November 14.
  • EZB (2014), Von Experten des Eurosystems erstellte gesamtwirtschaftliche Projektionen für das Euro-Währungsgebiet vom September 2014, Monatsbericht September
  • Kieler Institut für Weltwirtschaft, https://www.ifw-kiel.de/wirtschaftspolitik/konjunkturprognosen
  • Philipp Plickert (2013), Ist Sparen eine Sünde? FAZ vom 2.12.2013,
  • Hans-Werner Sinn (2009), Der Kasino-Kapitalismus, Econ-Verlag
  • Lawrence H. Summers (2013), IMF Fourteenth Annual Research Conference in Honor of Stanley Fischer, Washington, DC, November 8
  • http://de.wikipedia.org/wiki/Sparschwemme
  • International Monetary Fund (2014), World Economic Outlook (WEO), Legacies, Clouds, Uncertainties, October

[1] Philipp Plickert, Draghi kündigt Nullzins bis Ende 2016 an, FAZ vom 25. Juni 2014

[2] DIW-Chef vor EZB-Entscheid: Niedrigzinsen noch für mehrere Jahre, dpa Newsticker, 5. Juni 2014

[3] Jean-Pierre Danthine (2013): Causes and Consequences of Low Interest rates, Speech at the Swisscanto Market Outlook 2014, Lausanne November 14

[4]Z.B. Kieler Institut für Weltwirtschaft, https://www.ifw-kiel.de/wirtschaftspolitik/konjunkturprognosen; International Monetary Fund  World Economic Outlook (WEO), Legacies, Clouds, Uncertainties, October 2014

[5] EZB, von Experten der EZB erstellte gesamtwirtschaftliche Projektionen für das Eurowährungsgebiet vom September 2014, Monatsbericht Oktober 2014

[6] Siehe Fußnote 1 und 2.

[7] Ben S. Bernanke (2005), The Global Saving Glut and the U.S. Current Account Deficit, Remarks at the Sandridge Lecture, Virginia Association of Economists, Richmond, Virginia, March 10;  Ben S. Bernanke war von 2002 bis 2006 Governor im Federal Reserve Board der Fed und von 2006 bis 2014 Präsident der Fed.

[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Sparschwemme

[9] Hans-Werner Sinn (2009), Der Kasino-Kapitalismus, Econ-Verlag, S. 37

[10]Lawrence H. Summers (2013), IMF Fourteenth Annual Research Conference in Honor of Stanley Fischer, Washington DC, November 8

[11] Philipp Plickert (2013), Ist Sparen eine Sünde? FAZ vom 2.12.2013,

[12] Werner Becker/Barbara Böttcher, Währungspolitik, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2014.

Hinweis

Der Beitrag ist die schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem “2. Würzburger Ordnungstag“ am 8. Oktober 2014 in Frankfurt. In loser Folge werden hier weitere Vorträge dieses wirtschaftspolitischen Symposiums erscheinen.

 

Blog-Beiträge zum „2. Würzburger Ordnungstag“

Guido Zimmermann: Vermögensverteilung: Die Piketty-Kontroverse

 

 

 

3 Antworten auf „“2. Würzburger Ordnungstag“
Niedrigzinsen: Vorübergehendes Phänomen oder neue Normalität?“

  1. Interessant wäre doch auch einmal zu untersuchen, ob es sich im Falle der „Finanzkrise “ 07-08 wirklich um eine schockartige Krise gehandelt hat oder um eine wohlgeordnete ( wenn auch diabolische ) Umstrukturierung hin zu mehr Zentralisierung. Das ist doch gar nicht so abwegig, wenn man sich nach all den Versprechungen zu einer Rückkehr zur „Normalität“ jetzt der Tatsache stellen muss, dass eben nichts normal ist. Es fand keine Abwicklung statt, nichts wurde bereinigt. Es wurde nur durch die relativen Preise verschleiert und durch die Verschachtelung auf globaler Ebene versteckt. Es bleibt dabei – und das ist ja auch in der akzeptierten Praktik der Zentralbanken und Politik zum Thema Preisstabilität Gang und Gebe – : QE forever !!! Denn Sie wissen nur was Sie in ihren Modellen tun … .

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