Die Bürger werden gefragt
Bereits im Januar 2014 hat die Bundesregierung auf einer Klausurtagung eine neue sogenannte Regierungsstrategie beschlossen, die auf den etwas sperrigen Namen „gut leben – Lebensqualität in Deutschland“ getauft wurde. Lange hörte man in dieser Angelegenheit nichts mehr, doch im Spätherbst kam neue Bewegung in die Sache. Auf Anfrage von Abgeordneten der Grünen erklärte die Regierung, noch in dieser Legislaturperiode ein neues System von Indikatoren zur Beurteilung der Lebensqualität in Deutschland präsentieren zu wollen.
Das Bruttoinlandprodukt als Wohlstandsindikator hat dann zwar nicht ausgedient, soll aber neben anderen Indikatoren stehen, die andere Dinge messen. Die Idee ist nicht neu. Schon 2013 hat eine Enquete-Kommission des Bundestages einen sehr umfangreichen Bericht vorgelegt, in dem es auch darum ging, wie man den Stand der Dinge in Nachhaltigkeitsfragen in Kennzahlen abbilden könnte. Während diesem Bericht aber eine Fachdiskussion unter Politikern und ausgewiesenen Experten zugrunde lag, will es die Regierung nun einmal anders versuchen und stattdessen direkt mit den Bürgern reden.
Das Vorgehen soll so aussehen: Demnächst wird ein sogenannter „Bürgerdialog-Prozess“ initiiert, bei dem die Bundesregierung in Erfahrung bringen will, was die Bürger für ein geglücktes Leben so alles benötigen, was sie sich unter einem guten Leben überhaupt vorstellen. Dieses Gespräch mit den Bürgern soll sowohl in mindestens einhundert Präsenzveranstaltungen erfolgen, als auch in einem „Online-Bürgerdialog“.
Das gute Leben…
Es klingt natürlich zunächst einmal erfreulich, daß die Bundesregierung sich dafür interessiert, wie die Bürger sich ein „gutes Leben“ vorstellen und welche Voraussetzungen sie dafür von der Politik bereitgestellt haben möchten. Trotzdem ist Skepsis angebracht. Das liegt einerseits an der Fülle der angestrebten Kennzahlen. Für insgesamt 21 politische Themenfelder sollen Indikatoren gebildet werden, die das Wahre, Schöne, Gute und natürlich auch das Nachhaltige messen. Man kann sich leicht vorstellen, wie aus der Bundeskanzlerin mit Richtlinienkompetenz irgendwann eine Bundescontrollerin wird, die Kennzahlen austariert. Das BIP ist um zwei Prozent gewachsen, schön, aber der Index für internationale Verantwortung ist um zwei Hundertstel gesunken? Da müssen wir vor Jahresfrist noch etwas tun! Ein von Quantifizierung getriebener Politikstil muß jedenfalls nicht unbedingt erstrebenswert sein und kann leicht zur Evaluitis ausarten.
Auch die Frage nach der (Selbst-)Selektion von Teilnehmern an Dialogveranstaltungen stellt sich. Die katholische Kirche in Deutschland hat gerade erst entsprechende Erfahrungen mit einem solchen Dialogprozeß gemacht, der fast vollständig von gut organisierten, reformduseligen Lobbygruppen gekapert wurde, während der mit der Tradition seiner Kirche ganz zufriedene Durchschnittskirchgänger außen vor blieb. Davor wird auch der Bürgerdialog nicht sicher sein: Natürlich gehen zu Veranstaltungen diejenigen Bürger, die engagiert und an bestimmten Themen besonders interessiert sind. Der Bürger, der einfach nur seine Arbeit tun, sein Leben genießen und ansonsten in Ruhe gelassen werden will, wird dagegen kaum zu mobilisieren sein, aktiv am Bürgerdialog teilzunehmen.
Das größte Problem ist aber, daß hier wie so häufig die Dynamik von Präferenzen und Wertvorstellungen unterschätzt wird. Selbst ein perfekt funktionierender Bürgerdialog kann aber nur eine Momentaufnahme liefern. Jüngst wurde beispielsweise unter Sozialwissenschaftlern erstaunt darüber diskutiert, daß die aktuellen Jahrgänge von Studierenden eine sehr starke Präferenz für ein überschaubares Leben mit geregelten Arbeitszeiten zeigen und die besser bezahlten, aber auch belastenderen Berufe mit 80-Stunden-Wochen weniger erstrebenswert finden. Aber wer kann sicher sein, daß das Bild sich nicht in einigen Jahren schon wieder ändert?
Ein weiteres Problem ist aber schließlich auch, daß Indizes, die das gute Leben vermessen sollen, selbst wieder eine normative Kraft für jeden Einzelnen entfalten. Wenn einmal festgelegt ist, wie wir das gute Leben gemessen und definiert haben, und wenn die entsprechenden Indikatoren tatsächlich eine politische Wirkung entfalten und nicht doch in einer Schublade verschwinden, dann ist die Frage nach dem gelungenen Leben eben plötzlich eine gesellschaftliche Frage und keine Frage, das jeder einzelne für sich beantworten muß – oder auch nur darf. Ob sich ein liberaler Rechtsstaat auf dieses Terrain begeben sollte, ist aber höchst fraglich.
…und das Recht, sein Glück zu suchen
Natürlich hat dieser politische Ansatz einen Anknüpfungspunkt in der ökonomischen Wissenschaft, nämlich in der empirischen Glücksforschung, die sich vor allem auf Fragebögen stützt, die von den Angehörigen sehr, sehr großer internationaler Stichproben regelmäßig beantwortet werden. Tatsächlich liegt damit so etwas wie die Vermessung der menschlichen Lebenszufriedenheit vor, und man kann recht robuste Aussagen darüber treffen, welche ökonomischen, persönlichen, politischen und sonstigen Einflüsse einen statistisch signifikanten Effekt auf die durchschnittliche Lebenszufriedenheit der Befragten haben.
Aber was bedeutet das für die Politik? Einige Ökonomen folgern aus den Forschungsergebnissen der Glücksforschung, daß man nun eine Art politisches Mikro-Management der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit betreiben könne. Ein prominenter Vertreter dieser Position ist Richard Layard, der sogar soweit geht, zu fordern, daß das staatliche Bildungssystem den Schülern systematisch Werte vermitteln soll, die es ihnen leichter machen, im Leben glücklich zu sein. Dazu gehört dann insbesondere das Abtrainieren von besonders individualistischen Neigungen und übertriebenem Ehrgeiz. Wiederum stellt sich die Frage, ob dies das richtige Terrain für einen liberalen Rechtsstaat ist, und es ruft die etwas drastische Frage in Erinnerung, die John Stuart Mill einmal stellte: Wäre man lieber ein glückliches Schwein, oder ein unglücklicher Sokrates? Ist Glück also das einzige Ziel, oder gibt es noch andere, wie etwa Autonomie und Selbstachtung?
Dem stehen die Vertreter eines konstitutionellen Ansatzes gegenüber, insbesondere Bruno Frey und Alois Stutzer. Hier geht es um die Frage, was man für die Gestaltung des politischen Prozesses aus der Glücksforschung lernen kann. Vorgeschlagen werden etwa direkt-demokratische Mitbestimmung – also die scharfen Klingen von Referendum und Initiative, aber kein stumpfer Bürgerdialog – und eine verstärkte Dezentralisierung politischer Verantwortlichkeiten. Beides stärkt die Souveränität der Bürger in politischen Fragen und stiftet ihnen so einen prozeduralen Nutzen, der einfach aus dem Wissen folgt, einen stärker unmittelbaren Einfluß auf die demokratische Entscheidungsfindung zu haben.
Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten enthält die berühmte Passage, nach der „life, liberty and the pursuit of happiness“ zu den unveräußerlichen Rechten jedes Menschen gehören. Aber es ist eben die individuelle Jagd nach individuellem Glück, die hier im liberalen Sinne gemeint ist. In diesem Sinne kann auch der konstitutionelle Ansatz der ökonomischen Glücksforschung funktionieren, indem er fragt, welche Instrumente man dem souveränen Bürger an die Hand geben kann, damit er für seinen eigenen pursuit of happiness sowohl in der politischen als auch in der privaten Sphäre besser gewappnet ist. Das ist allerdings etwas ganz anderes als das politische Ziel der aktiven Maximierung einer Vielzahl von Indizes, die das „gute Leben“ abbilden sollen.
Fazit
Man kann zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht abschließend sagen, auf welchen der beiden hier skizzierten politischen Ansätze die Bundesregierung mit ihrer neuen Regierungsstrategie hinaus will. Aber die Tatsache, daß für 21 Themenfelder verschiedene Kennzahlen konstruiert werden sollen, deutet bisher eher in Richtung eines interventionistischen Mikro-Managements als eines konstitutionellen Ansatzes. Das wäre ein Holzweg.
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