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Der Mindestlohn macht Deutschland nicht gerechter
Arbeitsmarktforscher Ronnie Schöb im Interview

Im WiSt-Interview spricht der Arbeitsmarktexperte Ronnie Schöb über das zehnjährige Jubiläum der weitreichendsten Arbeit- und Sozialreformen in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik, das hiesige Beschäftigungswunder und die negativen Folgen des Mindestlohnes.

Herr Professor Schöb, der Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gilt seit Anfang dieses Jahres. Bei Ökonomen stößt er überwiegend auf Kritik. Warum soll Deutschland durch die Einführung des Mindestlohnes denn nicht gerechter geworden sein?

Ronnie Schöb: Das lässt sich leicht begründen. Einige Erwerbstätige, die bislang wenig verdient haben, bekommen nun mehr. Dafür werden andere, die bislang wenig verdient haben, nun noch weniger erhalten. Dabei handelt es sich um die Menschen, die durch den Mindestlohn ihren Arbeitsplatz verloren haben oder ihn noch verlieren.

Soll der Mindestlohn nicht gerade die Bedürftigsten unterstützen?

Schöb: Ja, doch diese Gruppe profitiert am wenigsten davon. Entweder ihre Mitglieder verlieren ihren Job und fallen auf das Grundsicherungsniveau zurück oder das zusätzliche Einkommen wird auf das ergänzende ALG II angerechnet. Im zweiten Fall kommt von der Lohnerhöhung gar nichts oder nur wenig an. Wer bislang fünf Euro pro Stunde bekommen hat und nun für 8,50 Euro Vollzeit arbeitet, der verdient brutto zwar 560 Euro mehr. Davon nimmt er aber letztlich nur 60 Euro mit nach Hause. Er bleibt indes weiter hilfsbedürftig.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Mindestlohn nicht zielgenau ist.

Schöb: Ja, so ist es. Die Gewinnergruppen sind leider mitnichten diejenigen, denen man mit dem Mindestlohn eigentlich helfen wollte. Wer hilfebedürftig ist und ergänzendes ALG II erhält, wird in den meisten Fällen auch weiterhin auf diese Hilfe angewiesen sein. Den meisten bleibt der Gang zum Jobcenter also auch künftig nicht erspart. Auch reihen sich nun auch diejenigen in die Schlange ein, die ihren Job aufgrund des Mindestlohnes verlieren.

Wer profitiert dann vom Mindestlohn?

Schöb: Besser gestellt werden die Haushalte, in denen der Zweitverdiener bislang weniger als 8,50 Euro verdient hat. Dabei dürfte es sich tendenziell um Haushalte handeln, wo der Erstverdiener ein Einkommen im mittleren Einkommensbereich hat.

Sie haben mehrfach kritisiert, dass die Bundesregierung bei der Einführung des Mindestlohns jegliche Risikoabwägungen außer Acht gelassen hat. Was genau meinen Sie damit?

Schöb: Im Koalitionsvertrag heißt es kurz und knapp: Durch die Einführung eines allgemein verbindlichen Mindestlohnes soll ein angemessener Mindestschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergestellt sein. Dabei wird geflissentlich übergangen, dass der Mindestlohn viele tausend Arbeitsplätze kostet. Die beste Sozialpolitik ist jedoch immer noch die Politik, die sich Vollbeschäftigung zum Ziel gesetzt hat. Wir laufen mit dem Mindestlohn und dem Versprechen auf höhere Einkommen Gefahr, Arbeitsplätze zu gefährden und damit die Erfolge der Sozialpolitik aufs Spiel zu setzen.

Die Befürworter des Mindestlohnes bestreiten, dass ein Arbeitsplatzverlust in nennenswerter Höhe zu befürchten ist. Wer hat denn nun Recht und lässt sich ein etwaiger Arbeitsplatzabbau quantifizieren?

Schöb: Die Mindestlohnbefürworter berufen sich auf empirische Studien, die moderate Lohnunterschiede aufgrund von Mindestlöhnen von maximal 26 Prozent untersuchten. Da gibt es einige Studien, die keine negativen Beschäftigungseffekte finden. Das ist ein wichtiges Ergebnis, aber noch lange kein Beweis dafür, dass es diese negativen Beschäftigungseffekte nicht doch gibt. Diese empirischen Ergebnisse lassen sich zudem nicht einfach auf Fälle übertragen, wo die Lohnerhöhungen 40, 50 oder gar 100 Prozent betragen. Gerne wird auch auf internationale Erfahrungen verwiesen, insbesondere auf die Einführung des Mindestlohns in England. Doch hätte man den Mindestlohn in Deutschland so ausgestalttet wie bei Einführung in England, dann müsste man in den neuen Bundesländern mit einem Stundenlohn von 4,60 Euro pro Stunde beginnen, in den alten Bundesländern bei 6,50 Euro. Wir haben jedoch gleich mit 8,50 Euro losgelegt.

Wie hoch ist denn der Lohnzuwachs durch die Einführung des Mindestlohnes bei uns in Deutschland?

Schöb: Vom Mindestlohn sind insgesamt knapp 1,2 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte betroffen, die Vollzeit arbeiten. Für rund ein Viertel davon erhöht sich der Mindestlohn um 30 Prozent oder mehr. In den neuen Bundesländern sind das drei Prozent aller Vollzeitbeschäftigten. Bei dieser Gruppe sind die negativen Effekte besonders groß. Wie viele Arbeitsplätze der Mindestlohn am Ende tatsächlich kosten wird, ist schwer vorauszusagen. Dass er Arbeitsplätze kostet, und zwar für diejenigen, die diese am dringendsten benötigen, ist jedoch sicher.

Sie haben bislang empirische Studien zitiert. Was sagt denn die Theorie?

Schöb: Die Theorie ist zwar ebenfalls nicht eindeutig, was moderate Mindestlöhne angeht. Bei großen Lohnsteigerungen sagt sie aber sehr eindeutig negative Effekte voraus – wenn sie durch den Mindestlohn verursacht sind.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es mehr oder weniger kreative Unternehmer zu geben scheint, die den Mindestlohn umgehen. Wie sind Ihrer Meinung nach die Erfolgsaussichten?

Schöb: Unternehmen sind findig, wenn es darum geht, kostspielige Regelungen zu umgehen. Für die vielen Kleinstunternehmen, für die durch den Mindestlohn die Existenz auf dem Spiel steht, sind die Umgehungsversuche trotz eines staatlichen Eingriffs dieser Güte noch zu überlegen. Je mehr der Mindestlohn umgangen wird, umso geringer fallen die arbeitsmarktpolitischen Nachteile aus. Auch werden die negativen Effekte umso geringer sein, je weniger sorgfältig kontrolliert wird.

Ist das nicht absurd?

Schöb: Ja, aber es ist nun mal Realität. Die Zeitungen sind ja in den letzten Wochen voll von Beispielen, wie der Mindestlohn bereits umgangen wird. Dabei bewegen sich die Unternehmer oftmals in Grauzonen. Wie werden die Zeiten für Mitarbeiter an der Garderobe während der Theatervorstellung behandelt? Was ist mit den Wartezeiten von Taxifahrern in der Schlange? Wie soll der Besitzer eines Wanderzirkus, deren Mitarbeiter häufig fast rund um die Uhr im Einsatz sind, den Mindestlohn protokollieren?

Noch im Januar hat der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU die Dokumentationspflichten des Mindestlohns unter Beschuss genommen. Wie lässt sich der Mindestlohn denn praxistauglich kontrollieren, ohne ein neues Bürokratiemonster aufzubauen?

Schöb: Überhaupt nicht. Dieses Phänomen müsste eigentlich aus dem Tatbestand der Scheinselbständigkeit etwa auf dem Bau hinlänglich bekannt sein. Auch ein Friseur könnte vom Angestelltendasein in den Status als Mitgesellschafter wechseln. Eine andere Möglichkeit sind Verabredungen zwischen Vorgesetztem und Angestelltem. Getreu dem Motto: Wenn ich Dir den Mindestlohn berechne, muss ich Dich entlassen. Etwas mehr als bislang kann ich Dir aber geben. Der Angestellte lässt sich zwangsläufig darauf ein, wenn ihm etwas an seinem Arbeitsplatz liegt. Solche Absprachen sind nur sehr schwer nachzuweisen, da beide Seiten kein Interesse daran haben etwas auszuplaudern. Größere Betriebe sind zwar nicht in ihrer Existenz gefährdet, dafür haben sie häufig andere Möglichkeiten, um den Mindestlohn zu umgehen. Man denke nur an die Auslagerung von einfachen Tätigkeiten in kleine Unternehmen, in denen der Mindestlohn schwerer zu kontrollieren ist.

Wie werden die Gewerkschaften bei den anstehenden Tarifrunden auf die Einführung des Mindestlohnes reagieren?

Schöb: Das Mindestlohngesetz heißt zwar Tarifautonomiestärkungsgesetz. Faktisch bedeutet es aber eine Einschränkung der Tarifautonomie, da der Staat anstelle der Tarifparteien die Löhne festsetzt. Damit verlieren wir viel an Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Die Gewerkschaften dürften durch die Einführung des Mindestlohnes zudem keinen Anlass sehen, künftig moderate Gehaltsforderungen zu stellen. Im Gegenteil: Ihr Klientel sind tendenziell eher besser ausgebildete Arbeitskräfte. Diese wollen bedeutend mehr als den Mindestlohn für ihre Arbeitskraft erhalten.

Inwieweit hat der Mindestlohn denn Einfluss auf die Gehaltsstrukturen in einem Unternehmen?

Schöb: Das ist auch ein wichtiger Punkt. Ich kenne ein ostdeutsches Unternehmen, dessen Gehaltsgefüge durch den Mindestlohn durcheinander geraten ist. Seine Fachkräfte erhalten 8,80 bis neun Euro pro Stunde. Wenn die Aushilfskräfte, die bislang fünf bis sechs Euro bekommen haben, von heute auf morgen annähernd dieses Niveau erreichen, begehren die Fachkräfte zu Recht auf. In Unternehmen, die ihren Facharbeitern 11 Euro aufwärts bezahlen, gibt es dieses Problem eher nicht. Da ist der Abstand noch gewahrt.

Das dürfte eher in den westdeutschen Bundesländern der Fall sein.

Schöb: Ja, regionale Unterschiede spielen sicherlich auch eine Rolle. Für bayerische Unternehmer ist der Mindestlohn weniger dramatisch als für ostdeutsche Kleinstbetriebe. Man kann jetzt mutmaßen, dass in den wirtschaftlich schwächeren Regionen bei den Kontrollen vielleicht nicht so genau hingeschaut wird wie in den Ballungsgebieten.

Wie wahrscheinlich ist es, dass der Mindestlohn wieder abgeschafft wird?

Schöb: Das halte ich für ausgeschlossen. Meine Prognose ist, dass es ab Mitte der nächsten Legislaturperiode weitreichendere Korrekturen am Mindestlohn geben wird. Die Politik wird – abgesehen von kosmetischen und verwaltungstechnischen Korrekturen – bis dahin abwarten und sich die Entwicklungen anschauen. Irgendwann werden dann auch Vorschläge der Tarifkommission kommen, über die es nachzudenken gilt.

Das Gespräch führte Redenschreiber J. Rieger.

Hinweis: Das komplette Interview „Der Anstieg der Niedriglohnbeschäftigten erzählt eine Erfolgsstory des Arbeitsmarktes“ mit Prof. Schöb können Sie in der April-Ausgabe der WiSt nachlesen.

 

Blog-Beiträge zum Mindestlohn:

Michael Neumann: Der Mindestlohn und was er dem Berufsausbildungsmarkt antut

Michael Neumann: Die Spiralwirkung, die dem Mindestlohn folgt

Ronnie Schöb: Die Zukunft des Mindestlohnes

Christoph A. Schaltegger: Gesetzliche Mindestlöhne – ein Erfahrungsbericht zur Volksabstimmung in der Schweiz

Manfred J.M. Neumann: Professorale Preiskommissare drängen in die Mindestlohnkommission

Thomas Apolte: Mindestlohn: Viel Lärm um nichts!

Thorsten Polleit: Warum ein Mindestlohn keine gute Idee ist

Norbert Berthold: Denn sie wissen, was sie tun. Mindestlöhne zerstören die Marktwirtschaft

Norbert Berthold: Die Wendehälse der CDU. Mindestlöhne statt Marktwirtschaft

Norbert Berthold: Eine unendliche Geschichte. Mindestlöhne, Arbeitslosigkeit und Strukturwandel

Norbert Berthold: Gesetzliche Mindestlöhne – wehret den Anfängen

Wolfgang Franz: Der trügerische Charme des Mindestlohnes

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