Der OMT-Entscheid des EU-Gerichtshofs: Ein Skandal

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat am 16.06.15 auf Anfrage des Bundesverfassungsgerichts einen Vorabentscheid veröffentlicht, in dem er den Kauf von Staatsanleihen im Rahmen des sogenannten OMT-Programms der Europäischen Zentralbank für vertragskonform erklärt (CC-62/14). Federführend war der spanische Generalanwalt Cruz Villalón. Die Artikel 119, 123 und 127 AEUV sowie die Satzung des Eurosystems seien „dahin auszulegen, dass sie das ESZB dazu ermächtigen, ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten wie [das OMT-Programm] zu beschließen …“ Die Richter erheben sogar den Anspruch, „dass ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren nach dessen ständiger Rechtsprechung das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit der fraglichen Handlungen der Unionsorgane bei der Entscheidung über den Ausgangsstreit bindet“ (Rz. 16). Das sieht das Bundessverfassungsgericht bekanntlich – ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung – anders.

Verbot der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123)

Der Gerichtshof akzeptiert, dass „das ESZB nicht rechtmäßig Staatsanleihen an den Sekundärmärkten unter Voraussetzungen erwerben [kann], die seinem Tätigwerden in der Praxis die gleiche Wirkung wie ein unmittelbarer Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten verleihen und auf diese Weise die Wirksamkeit des in Art. 123 Abs. 1 AEUV festgelegten Verbots in Frage stellen“ (Rz. 97). Die Anleihekäufe seien vertragswidrig, wenn die Wirtschaftsteilnehmer „die Gewissheit hätten, dass das ESZB diese Anleihen binnen eines Zeitraums … ankaufen würde“ (Rz. 104). Da diese Gewissheit aber nach Angaben der EZB nicht bestehe, seien die Anleihekäufe nicht zu beanstanden. Wären also auch Anleihekäufe im Primärmarkt erlaubt, solange der Schuldnerstaat keine Gewissheit hat, dass das ESZB einspringt? Offensichtlich nicht: das Verbot der monetären Staatsfinanzierung im Primärmarkt ist völlig unabhängig davon, ob die Anleihekäufe des ESZB gewiss oder ungewiss sind, und dies gilt genauso für ESZB-Käufe im Sekundärmarkt.

Außerdem habe „die EZB vor dem Gerichtshof klargestellt, dass das ESZB … beabsichtigt, eine Mindestfrist zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf dem Primärmarkt und seinem Ankauf an den Sekundärmärkten einzuhalten …“ (Rz. 106). Dass eine (nicht genauer definierte) Mindestfrist eingehalten würde, folgt schon aus der Definition des Sekundärmarktkaufs. Da der Gerichtshof – wie erwähnt – einräumt, dass auch Sekundärmarktkäufe das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verletzen können, sind diese nicht deshalb zulässig, weil eine Mindestfrist eingehalten wird.

Besonders erstaunlich ist die Behauptung, dass das OMT-Programm „nicht bewirkt, dass den betreffenden Mitgliedstaaten der Anreiz genommen würde, eine gesunde Haushaltspolitik zu führen“ (Rz. 121). Zur Begründung führen die Richter an, dass das OMT-Programm auf bestimmte Anleihen beschränkt sei und die EZB die Anleihen auch wieder verkaufen könnte. Auch unter diesen Bedingungen schwächen die Anleihekäufe jedoch den Anreiz zu einer gesunden Haushaltsführung. Und wiederum stellt sich die Frage: Dürfte das ESZB denn im Primärmarkt Staatsanleihen kaufen, wenn es sich auf bestimmte Anleihen beschränken und vorbehalten würde, einige davon wieder zu verkaufen? Sicher nicht. Ob monetäre Staatsfinanzierung vorliegt oder nicht, ist völlig unabhängig davon, ob das Programm auf bestimmte Anleihen beschränkt ist und ob die EZB die Anleihen wieder verkaufen könnte.

Gestörter Transmissionsmechanismus

Der Gerichtshof übernimmt kritiklos die Argumentation der EZB, wonach die Ankündigung der Anleihekäufe erforderlich gewesen sei, um „eine ordnungsgemäße geldpolitische Transmission und die Einheitlichkeit der Geldpolitik sicher [zu] stellen“ (Rz. 47). Er fährt fort: „Im Übrigen wird, da eine Störung des Transmissionsmechanismus die Wirksamkeit der vom ESZB beschlossenen Maßnahmen beeinträchtigt, dadurch zwangsläufig dessen Fähigkeit beeinträchtigt, die Preisstabilität zu gewährleisten“ (Rz. 50). Nach Meinung der Richter „kann durch eine Eliminierung oder Verringerung überhöhter Risikozuschläge, die für die Staatsanleihen eines Mitgliedstaats verlangt werden, vermieden werden, dass deren Volatilität und Höhe ein Hindernis für die Übertragung der Wirkungen der geldpolitischen Entscheidungen des ESZB auf die Wirtschaft dieses Staates bilden und die Einheitlichkeit der Geldpolitik in Frage stellen“ (Rz. 78).

Diese Argumentation ist juristisch und ökonomisch falsch. Art. 119 AEUV sieht als „Tätigkeit“ der Union eine „einheitliche Geld- sowie Wechselkurspolitik“ vor – nicht aber einheitliche Wirkungen dieser Geldpolitik in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Die „Tätigkeit“ des ESZB besteht im Einsatz seiner geldpolitischen Instrumente. Selektive Käufe von Anleihen bestimmter Staaten sind mit einem gleichen oder einheitlichen Instrumenteneinsatz gerade nicht vereinbar.

Was das Ziel der Preisstabilität angeht, besteht die Aufgabe des ESZB darin, die Expansionsrate des aggregierten Euro-Geldangebots am Wachstum der realen Geldnachfrage auszurichten, so dass das durchschnittliche Preisniveau im Euroraum stabil bleibt. Unterschiede und Änderungen in den nationalen Transmissionsmechanismen stehen dem überhaupt nicht entgegen – sie brauchen nicht bekämpft, sondern nur berücksichtigt zu werden, so dass das durchschnittliche Preisniveau stabil bleibt. Die Transmissionsmechanismen werden immer von Land zu Land verschieden sein -  auch in normalen Zeiten. Geldpolitik ist Aggregatpolitik bei gegebenen lokalen Unterschieden.

Unabhängigkeit der Zentralbank

Der Gerichtshof geht nicht explizit auf den Einwand ein, dass das ESZB seine Anleihekäufe von Entscheidungen des ESM – d. h. letztlich der Finanzminister – abhängig macht und damit unzulässigerweise seine Unabhängigkeit aufgibt. Art. 130 AEUV verbietet es dem ESZB ausdrücklich, „Weisungen von  … Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen ein[zu]holen“. Die Richter betonen zwar, dass das ESZB „in voller Unabhängigkeit die Durchführung des [OMT-] Programms von der vollständigen Einhaltung makroökonomischer Anpassungsprogramme der ESFS und des ESM abhängig macht …“ (Rz. 60). Das bedeutet jedoch nur, dass die Zentralbank in voller Unabhängigkeit beschlossen hat, ihre Unabhängigkeit aufzugeben – was sie nicht darf.

Schlussfolgerungen

ZEW-Präsident Clemens Fuest hat das OMT-Urteil  des Gerichtshofs als „Irrtum“ bezeichnet (FAZ vom 17.06.15). Ich fürchte, es ist kein Irrtum, sondern Absicht. Der Gerichtshof versteht sich als „Motor der Integration“. Gerichte sollten das Recht unparteiisch auslegen, aber der Gerichtshof der Europäischen Union verfolgt eine politische Agenda. Deshalb ist das Urteil ein Skandal. Es schließt sich nahtlos an den Vorabentscheid vom 26.11.12 an, in dem der Gerichtshof den EFSF/ESM für vereinbar mit dem Bailout-Verbot des Art. 125 AEUV erklärt hat. Es ist außerdem eine Kriegserklärung an das Bundesverfassungsgericht.

Diese skandalösen Urteile verleihen der Forderung nach einer Reform des Gerichtshofs Nachdruck. Die European Constitutional Group hat schon 1993 vorgeschlagen, dass die Richter des Europäischen Gerichtshofs nicht von den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgewählt, sondern von den nationalen Verfassungsgerichten für jeweils acht Jahre delegiert werden sollten. Ich würde hinzufügen, dass sie darüber hinaus über richterliche Erfahrung schon vor ihrer Tätigkeit als Verfassungsrichter verfügen sollten. Die meisten Mitglieder des Gerichtshofs der Europäischen Union – auch ihr Vorsitzender, der Grieche Vasilios Skouris – haben keinerlei richterliche Erfahrung.

 

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