Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der regionalen Wirtschaftspolitik (nicht nur für Ostdeutschland)
Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung in Deutschland werden auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weitergehen – auch wenn derzeit, bedingt durch Flüchtlingszuwanderung und das demographische Echo des Bevölkerungszuwachses in den 1980er Jahren die Bevölkerung kurzzeitig zunimmt. Deutschland durchlebt ein „demographisches Zwischenhoch“, wie es der Sachverständigenrat genannt hat, nicht aber eine Trendwende in der demographischen Entwicklung. Damit wird über kurz oder lang auch das Problem eines rückläufigen Arbeitskräfteangebots („Fachkräftemangel“) wieder virulent werden.
Die zu erwartende Verknappung von Arbeitskräften betrifft zwar Deutschland insgesamt, die oft ländlich geprägten strukturschwachen Regionen aber in besonderer Weise, denn hier ist schon aufgrund der derzeitigen Bevölkerungs- und Altersstruktur erkennbar, dass der Rückgang des Arbeitskräftepotentials hier überdurchschnittlich stark ausfallen wird. Ganz besonders gilt dies für Ostdeutschland abseits der großen Städte. Zwar war hier auch schon in der Vergangenheit ein nahezu stetiger Rückgang der Bevölkerungszahl zu beobachten; zunehmend geht aber die derzeitige Generation der Erwerbspersonen in Ruhestand, ohne dass ausreichende Nachwuchskräfte neu in das Erwerbsleben eintreten werden: Die erwerbsfähige Bevölkerung wird schon bis zum Jahr 2030 um rund 20% zurückgehen und damit deutlich stärker als die Bevölkerung insgesamt (-7%). Arbeitskräftemangel ist daher kurzfristig vor allem ein Problem der ostdeutschen Länder; Westdeutschland genießt noch bis Mitte des nächsten Jahrzehnts eine Schonfrist, da erst dann die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre allmählich aus dem Erwerbsleben ausscheiden werden und damit das Erwerbspersonenpotential spürbar verringern.
Die zu erwartende demographische Entwicklung erfordert ein völliges Umsteuern in der (regionalen) Wirtschaftspolitik: In den vergangenen 25 Jahren war der Mangel an Arbeitsplätzen das gravierendste Problem in Ostdeutschland; zeitweilig war mehr als ein Fünftel aller Erwerbspersonen ohne Job. Die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze zur Verringerung der Arbeitslosigkeit war deswegen seit der Vereinigung das primäre Ziel aller Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland. Letzten Endes war diese Politik wohl auch erfolgreich, denn die Arbeitslosenquoten haben sich gegenüber ihrem Höchststand im Jahr 2005 mehr als halbiert, die „Arbeitsplatzversorgung“ der Bevölkerung ist um rund ein Sechstel gestiegen. Allerdings hat das Primat der Schaffung von Arbeitsplätzen auch dazu geführt, dass nicht zuletzt unter dem Einfluss der Förderung viele gering entlohnte Jobs entstanden sind: Das Geschäftsmodell vieler Unternehmen in den neuen Ländern basiert bis heute nur darauf, dass in Ostdeutschland Löhne gezahlt werden, die im Schnitt um mehr als 25% unter dem westdeutschen Niveau liegen – teilweise sogar noch deutlich weniger. Dies korrespondiert mit einer ebenfalls niedrigen Arbeitsproduktivität, die in diesen Unternehmen erzielt wird (oder anders gewendet: mit einem vergleichsweise hohen Arbeitseinsatz je hergestellter Produkteinheit). Auch die Sektoralstruktur der neuen Länder ist durch einen vergleichsweise hohen Anteil eher arbeitsintensiver Produktionen geprägt.
In Zukunft ist die große Herausforderung jedoch nicht mehr die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern der Umgang mit zunehmender Arbeitskräfteknappheit. Im Denken von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit scheint sich dieser grundlegende Wandel der politischen Problemlagen in Ostdeutschland noch nicht in aller Konsequenz durchgesetzt zu haben. Dementsprechend fehlt es auch an wirklich überzeugenden Konzepten, wie mit dieser Herausforderung umzugehen ist.
Sicherlich gibt es inzwischen vielfache Vorschläge und Initiativen zur Behebung (akuten oder auch drohenden) Fachkräftemangels. Diese zielen auf betrieblicher Ebene darauf ab, durch das Angebot attraktiverer Arbeitsbedingungen einen marginalen Vorteil gegenüber anderen Unternehmen zu erreichen – was aber auf einer gesamtwirtschaftlichen Ebene am grundlegenden Problem nichts ändert, denn das Arbeitskräfteangebot wird trotzdem weiter zurückgehen. Beschäftigte, die ein Unternehmen gewinnt, fehlen dann woanders. Auf regionalwirtschaftlicher Ebene wiederum richten sich die Anstrengungen darauf, das vorhandene Erwerbspersonenpotential besser auszunutzen (durch bessere Vermittlung von Arbeitslosen, durch „upgrading“ des Erwerbspotentials mittels Qualifizierung, durch Erhöhung der Erwerbsbeteiligung beispielsweise von Frauen oder älteren Arbeitnehmern, durch Abbau von Teilzeitarbeit) oder das verfügbare Arbeitskräfteangebot zu steigern (z.B. durch Zuwanderung oder durch Rückholung von Abwanderern und Pendlern). Schon quantitativ sind diesen Ansätzen aber Grenzen gesetzt, denn der Umfang des unausgeschöpften bzw. zusätzlich zu mobilisierenden Erwerbspersonenpotentials ist beschränkt. Hinzu kommt, dass mittel- bis langfristig auch viele andere Regionen außerhalb Ostdeutschlands Arbeitskräftemangel aufweisen werden und ähnliche Strategien verfolgen werden.
Implizite Annahme all dieser Ansätze ist es allerdings, dass alle altersbedingt freiwerdenden Arbeitsplätze auch wiederbesetzt werden müssen – und darüber hinaus auch ein wachstumsbedingter Mehrbedarf an Arbeitskräften besteht. Diese Annahme lässt sich aber auch in Zweifel ziehen. Zum einen wird mit rückläufiger Bevölkerung und zunehmender Alterung wohl auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit der Bedarf an Arbeitskräften zurückgehen; aller Voraussicht nach allerdings weniger stark als das Arbeitskräfteangebot. Viel wichtiger scheint es aber, zum anderen, die Frage nach den wirtschaftspolitischen Zielsetzungen zu thematisieren: Letzten Endes geht es mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands doch nicht um die Maximierung des Arbeitskräfteeinsatzes, sondern um die Erhöhung des Wohlstandsniveaus, gemessen beispielsweise am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner: Man muss nicht jeden freiwerdenden Arbeitsplatz wiederbesetzen, wenn dort nur ein geringer Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung geleistet wird.
Daraus folgt als Konsequenz: Wenn die Zahl der Erwerbspersonen zurückgeht, muss man versuchen, mit weniger Arbeitskräften auszukommen. Das wiederum ist ohne Beeinträchtigung des Wohlstandsniveaus möglich, wenn durch Produktivitätssteigerungen der drohende Verlust an wirtschaftlicher Leistung ausgeglichen werden kann. Und da die Bevölkerung insgesamt ja auch zurückgeht, ist es mit Blick auf das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ohnehin nicht dramatisch, wenn der Ausgleich nicht vollständig ist: Unter Zugrundelegung der oben genannten Angaben aus der Bevölkerungsvorausberechnung folgt, dass das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner dann konstant bleibt, wenn die gesamtwirtschaftliche Produktivität um 16,25% gesteigert werden kann. Angesichts eines gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsrückstands Ostdeutschlands von derzeit etwa 25 Prozentpunkten gegenüber Westdeutschland scheint dies für den Zeitraum bis zum Jahr 2030 kein allzu ambitioniertes Ziel zu sein. Das absolute Niveau des Bruttoinlandsprodukts würde allerdings in diesem Fall gegenüber dem heutigen Stand um rund 7% zurückgehen.
Der Ausgleich von Arbeitskräftemangel durch Produktivitätssteigerungen ist gleichbedeutend damit, dass Arbeitskräfte (die ohnehin am Markt nicht mehr verfügbar sein werden) eingespart werden, ohne die Produktion entsprechend zu verringern. Einzelbetrieblich bedeutet dies, dass das Augenmerk künftig vor allem auf Rationalisierung gelegt werden müsste, also auf die Substitution von Arbeitskräften durch Kapital. Das ist in einigen Branchen – technologisch bedingt – sicherlich schwierig; in anderen aber dürften hierfür durchaus noch Potentiale bestehen (denn sonst wäre ja der Arbeitseinsatz je Produktionseinheit nicht höher als es im Westen der Fall ist). Gesamtwirtschaftlich kann dieses Ziel aber auch erreicht werden, indem auf Produktionen verzichtet wird, die einen hohen Beschäftigtenanteil bei gleichzeitig niedriger Produktivität binden. Mit anderen Worten: Fachkräftelücken in wertschöpfungsintensiven Bereichen sollten dadurch geschlossen werden, dass auf den Einsatz von Arbeitskräften in weniger produktiven Unternehmen oder Branchen verzichtet wird. Dies wäre freilich eine vollständige Kehrtwende gegenüber bislang verfolgten Politikansätzen – um es zuzuspitzen: Ein Plädoyer für den Abbau von Arbeitsplätzen in niedrig entlohnten Branchen, Regionen oder Unternehmen als Mittel zur Bewältigung von Arbeitskräftemangel!
Natürlich liegt es nicht in der Hand des Staates, einen solchen Strukturwandel einzuleiten – in einer Marktwirtschaft kann niemand den Einsatz von Arbeitskräften in der hier beschriebenen Weise lenken. Aber es gibt Marktmechanismen, die in eben diese Richtung wirken: Weil mit der zunehmenden Knappheit von Arbeitskräften die Löhne in Ostdeutschland steigen werden, werden die Unternehmen aus dem Markt gedrängt, die aufgrund ihres Geschäftsmodells oder ihrer fehlenden Anpassungsfähigkeit die gestiegenen Arbeitskosten nicht tragen können. Die hier freigesetzten Beschäftigten werden bei hinreichender beruflicher und gegebenenfalls regionaler Mobilität nicht lange arbeitslos bleiben, sondern von den verbleibenden Unternehmen rasch übernommen. Insoweit braucht es, von vereinzelten Qualifizierungsmaßnahmen oder Anpassungshilfen für bestimmte Gruppen von Unternehmen vielleicht einmal abgesehen, keinerlei staatlicher Interventionen. Verzichtet werden sollte jedoch insbesondere auf etwaige strukturerhaltende Maßnahmen, die im Zuge eines solchen Strukturwandels sicherlich gefordert werden dürften.
Natürlich gibt es immer Arbeitnehmer, die schon aufgrund ihrer niedrigen Qualifikation nicht geeignet sind, Fachkräftelücken in anderen Bereichen zu schließen. Ein Teil des Niedriglohnsektors in Ostdeutschland würde also erhalten bleiben. Aber gerade dort, wo „unterwertige Beschäftigung“ verbreitet ist, und dies ist nicht selten, handelt es sich im Angesicht der zu erwartenden Arbeitskräfteknappheit um eine Verschwendung knapper und damit kostbarer Ressourcen. Das kann man sich gerade in Ostdeutschland in Zukunft kaum mehr leisten. Viel wichtiger aber noch ist, dass auf diese Weise das Einkommens- und Wohlstandsniveau in Ostdeutschland nicht nur gesichert, sondern womöglich sogar erhöht werden kann, auch wenn es an Arbeitskräften fehlt. Und genau diese Zielsetzung sollte künftig stärker in den Mittelpunkt gerückt werden, gerade weil „der Osten“ immer noch eine strukturschwache Region in Deutschland ist.
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Als Handwerksmeister und Berufsschullehrer weiß ich nur allzu gut, dass gerade in wenig lukrativen Jobs (Baugewerbe) den großen Unternehmen schon sehr bald Angst und Bange werden wird. Heute stöhnen die Personalchefs schon wegen Überalterung und demografischen Wandel. Auch die total ausufernde Akademisierung und (Jeder ohne Abi ist ja heute nichts) macht die ganze Situation nur noch schlimmer. Gerade große Konzerne haben lange erkannt, dass sie schon sehr bald keine Indianer haben werden, auf dessen Schultern Sie Ihre Gemeinkostenzuschlagssätze umlegen können! Wer soll dann bitte in 10 Jahren (wenn die letzten Experten in Rente gehen) die Arbeit dort noch machen? Wir steuern gerade was dieses Thema angeht auf einen gigantischen Knall zu, denn das was nachkommt (wenn denn was nachkommt) ist schlicht ausgedrückt meilenweit von der Klasse entfernt, die die letzten Profis heute noch haben. Gutes traditionelles Wissen wird, wenn wir nicht aufpassen, für immer verloren sein und was noch viel schlimmer ist, die gefertigte Qualität auf den Baustellen wird nachlassen.
Jan Hartmann
Straßenbauermeister / Fachlehrer