Föderalismus revitalisieren – auch in der Schweiz

„Die Schweiz ist föderalistisch oder sie ist nicht“. So ist es oft in öffentlichen Debatten zu hören. Tatsächlich sind der dezentrale Staatsaufbau und das bundesstaatliche Prinzip ein wesentliches Strukturmerkmal der Schweiz. Wir halten die Gemeindeautonomie hoch, die Kantone sollen weitgehende Kompetenzen in allen Politikbereichen wahrnehmen und der Bund soll nur zurückhaltend neue Aufgaben und Steuern erhalten.

Trotzdem: auch der schweizerische Föderalismus leidet unter einer schleichenden Zentralisierung. Es wirkt die ausgeprägte Anziehungskraft der Bundesebene mit zunehmenden Verbundfinanzierungen und Verbundaufgaben zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. In der Schweiz hat sich der Begriff «Vollzugsföderalismus » eingebürgert. Dieser Prozess schreitet auch nach Einführung des neuen Finanzausgleichs im Jahr 2008 unvermindert voran. Mit dem zunehmenden Vollzugsföderalismus einher geht ein Handlungs- und Reformstau, welcher die politische Entscheidungsfindung und deren Implementierung durch die verschiedenen Staatsebenen für alle Beteiligten erheblich erschwert. Unklare Kompetenzen verursachen dabei Ineffizienzen – teure und bürgerferne Lösungen sind das Resultat.

Müssen wir den Vollzugsföderalismus einfach als Nebenerscheinung einer alternden Demokratie hinnehmen, die sich in eine sich selbst blockierende „Politikverflechtungsfalle“ bewegt? Ich glaube nein. Wichtig wäre, dass sich die Politik wieder vermehrt auf das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz besinnt – der Einheit von Finanzierung, Nutzung und Entscheidung. Risiko, Haftung und Kontrolle sollten auch in der Politik in der gleichen Hand verbleiben. Andernfalls sind die Anreize zu gross, Regulierungen zu erlassen, die aussenstehende betreffen und zum Handeln auffordern und gleichzeitig womöglich noch von Dritten bezahlt werden müssen. Das führt verständlicherweise zu Gefühlen der Ohnmacht und zu Politikverdrossenheit beim Bürger.

Ein wichtiger Treiber der schleichenden Zentralisierung ist oft die mangelhafte Ausgestaltung des Finanzausgleichs. Finanzausgleichssysteme beim Bund und in den Kantonen zielen darauf ab, die Schwächen des Föderalismus so zu mildern, dass die Vorteile des Föderalismus nicht allzu stark beeinträchtigt werden. Konkret geht es darum, die Disparitäten unter den Kantonen und Gemeinden zu verringern und gleichzeitig die Anreize für einen sorgsamen Umgang mit öffentlichen Mitteln zu bewahren. Beide Ziele stehen in einem Spannungsverhältnis und es bedarf eines politischen Werturteils, welches Mass an Disparitäten als akzeptabel betrachtet wird und welche Bedeutung man der Standortattraktivität beimessen will.

Betrachtet man den Finanzausgleich beim Bund, so liefern ressourcenstarke Kantone pro zusätzlichem Franken an Steuerertrag 17 Rappen ab. Ressourcenschwache Kantone erhalten pro zusätzlichem Franken Steuerertrag 80 Rappen weniger aus dem Finanzausgleich – der implizite Steuersatz beträgt also etwa 80%. Damit sind gerade für die ressourcenschwachen Kantone die Anreize zur Pflege der Steuerbasis relativ bescheiden. Es wäre angezeigt, die steuerliche Handlungsfreiheit insbesondere der ressourcenschwachen Kantone zu stärken.

Die kantonalen Finanzausgleichssysteme sind in dieser Beziehung oft noch wesentlich problematischer ausgestaltet als der Finanzausgleich auf Bundesebene. Die oben erwähnten impliziten Steuersätze betragen in vielen Kantonen für die Empfängergemeinden 100% und mehr: ein starker Fehlanreiz zur Pflege der eigenen Steuerbasis. So werden „Ausgleichsfallen“ kreiert, denn eine Verbesserung des eigenen Steuerpotenzials lohnt sich nicht oder wird sogar zusätzlich belastet. Auch unter Gerechtigkeitsaspekten sind die in einigen Kantonen zu beobachtenden Rangfolgeverschiebungen unter den Gemeinden vor- und nach Umverteilung stossend.

Was wäre zu tun? Moderne Finanzausgleichssysteme sollten zwei Arten von Ausgleichszielen anstreben: einen Ausgleich der finanziell nutzbaren Ressourcen sowie einen Ausgleich der nicht beeinflussbaren Lasten. Es ist sinnvoll, eine Trennung zwischen Ressourcen- und Lastenelementen vorzunehmen. Die Ressourcenausstattung ergibt sich aus der Steuerkraft des einzelnen Gemeinwesens. Diese Steuerkraft sollte ohne Einbezug der Steuerbelastung ermittelt und bei der Umverteilung nicht zu 100% aufgefüllt oder abgeschöpft werden, um positive Anreize zur Pflege der Steuerbasis zu bewahren. Der Lastenausgleich bezweckt zweitens, ungleiche Startvoraussetzungen der Gemeinden auszugleichen, die sich aufgrund politisch nicht beeinflussbarer, exogener Faktoren ergeben. Sind die Lasten strukturell beeinflussbar und damit politischen Entscheidungen zugänglich, ist mit moralischen Risiken (Moral Hazard) zu rechnen: Gebietskörperschaften sind versucht, ihre Ausgabenpolitik «subventionsfördernd» auszugestalten, mit der Folge von Mitnahmeeffekten und einer unerwünschten Zentralisierung der Entscheidungsfindung. Mitnahmeeffekte sind heute die Regel bei kantonalen Lastenausgleichssystemen. Im Zweifel wäre eine Abkehr vom Lastenausgleich zu einem partiellen Ausgabenausgleich prüfenswert.

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