Prof. Dr. Otmar Issing war als Direktoriumsmitglied und Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank einer der Wegbereiter des Euro. Vor seiner Berufung zur Notenbank war er Professor an der Universität Würzburg und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Im Mai 2006 schied Issing turnusmäßig aus dem EZB-Direktorium aus und übernahm zwei Jahre später den Vorsitz der Expertengruppe Neue Finanzarchitektur. Der gebürtige Würzburger ist Gründungsherausgeber dieser Zeitschrift und feiert im März seinen 80. Geburtstag.
Herr Professor Issing, eine Frage vorneweg: Sind Sie noch ein treuer Leser der WiSt?
Otmar Issing: Mit meinem leider früh verstorbenen Kollegen Erwin Dichtl habe ich die WiSt gegründet. Das erste Heft erschien vor über 44 Jahren im Januar 1972. Die Zeitschrift war und ist eine wirkliche Innovation. Ich erinnere mich noch gut daran, dass mir damals zwei renommierte Kollegen erbost mitteilten, dass sie sich von mir nicht vorschreiben ließen, wie sie ihren Beitrag verfassen sollten, nämlich für Studenten verständlich. Als ich dann im Oktober 1990 zur Bundesbank ging, habe ich mich schweren Herzens von diesem Projekt verabschiedet. Mit Norbert Berthold habe ich aber einen Nachfolger gefunden, bei dem die Zeitschrift in besten Händen ist. In jedem neuen Heft finde ich interessante Beiträge zu einer Vielfalt von Themen.
Derzeit gibt es weltweit unzählige politische und wirtschaftliche Krisenherde. Welche beunruhigen Sie am meisten und warum?
Issing: Nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs schien für viele die Zeit immerwährenden  Friedens und Wohlstands ausgebrochen. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach mit dem Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft vom Ende der Geschichte. Diese Aussage hat sich als Illusion erwiesen. Rund um den Erdball herrschen Kriege und wirtschaftliche Probleme.
Man hat den Eindruck, dass die globalen Unsicherheiten im letzten Jahrzehnt zugenommen haben. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen dafür?
Issing: Die geopolitischen Spannungsfelder haben an Breite und Intensität tatsächlich dramatisch zugenommen. Der islamistische Terrorismus bedroht die ganze Welt.
Kommen wir zur Ökonomie. Was halten Sie davon, die Cash-Zahlungen zu begrenzen, um der Terrorismusfinanzierung Einhalt zu gebieten?
Issing: Ich halte den Vorschlag, die Barzahlungen der Höhe nach zu beschränken für puren Aktionismus. Das hilft weder gegen den Terrorismus noch gegen kriminelle Aktivitäten.
Durch die Globalisierung sind die Märkte enger miteinander verbunden als jemals zuvor. Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass dieser stets als Segen angepriesene Vorteil mehr und mehr zum Bumerang wird?
Issing: Die Globalisierung hat hunderte von Millionen Menschen aus bitterer Armut befreit. Gerade in den reichen Ländern fühlen sich jedoch breite Schichten in ihrem Wohlstand bedroht. Im wachsenden Widerstand gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP offenbaren sich ökonomisch gesehen vorwiegend irrationale Ängste.
Wie kann man noch mehr Menschen weltweit von der Faszination offener Märkte begeistern?
Issing: Begeistern ist zu viel verlangt. Aber die Vorteile eines möglichst freien Handels lassen sich schon erklären – vorausgesetzt es besteht die Bereitschaft zur rationalen Diskussion.
Viele Länder ächzen unter dem extrem gefallenen Ölpreis, andere profitieren im starken Maße. Was bedeutet der Preisverfall für die gesamte Weltwirtschaft?
Issing: Per Saldo sollte der niedrige Ölpreis wie ein gewaltiges Konjunkturprogramm auf die Weltwirtschaft wirken. Schließlich profitieren gerade die bevölkerungsreichsten Länder wie China und Indien, aber auch viele Industrieländer wie Deutschland vom billigen Öl. Allerdings stellen die Verwerfungen in den Förderländern ein erhebliches Gegengewicht dar.
Auch die Devisenmärkte sind in jüngerer Zeit ordentlich durcheinander geraten. Welche Währungen werden sich in Zukunft behaupten?
Issing: Ich werde mich auf meine alten Tage nicht aufs Glatteis von Wechselkursprognosen begeben. Der Dollar wird jedoch auf absehbare Zeit seine führende Position behaupten und der Euro wird weiter den zweiten Platz einnehmen. Wann die chinesische Währung eine dem großen Potential des Landes entsprechende Rolle spielen wird, lässt sich im Moment nicht vorhersagen.
Zuletzt hat der gesamte chinesische Markt genau wie die Währung geschwächelt. Teils heftige Reaktionen auf den Finanzmärkten haben nicht lange auf sich warten lassen. Inwieweit hat Sie das überrascht?
Issing: Überrascht hat mich eher, wie lange es gedauert hat, bis sich fundamentale Schwächen des chinesischen Modells aus politischer Diktatur und „geplanter“ Marktwirtschaft offenbart haben.
Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund der Wechselkursentwicklung und Konjunktureinbrüche das Vorgehen der wichtigsten Notenbanken?
Issing: Hier stehen vor allem die Gelpolitik der Fed und EZB im Vordergrund. Die erste vorsichtige Zinserhöhung der amerikanischen Notenbank und die Ankündigung einer eher noch expansiveren Geldpolitik durch die EZB haben ihre Ursachen in unterschiedlichen Erwartungen über die Konjunkturentwicklung jenseits und diesseits des Atlantiks. Die Aussichten sprechen nach Ansicht der beiden Notenbanken für ein anhaltend stärkeres Wachstum in den USA.
Nicht zuletzt der EZB wird vorgeworfen, dass Sie sich längst über Gebühr von fiskalischen Motiven leiten lässt. Inwiefern ist dieser Vorwurf heute berechtigt?
Issing: Anders als die Notenbanken in den USA und Großbritannien kauft die EZB Anleihen einzelner Mitgliedstaaten. Die Spreads, also die Zinsunterschiede zwischen den Anleihen der einzelnen Mitgliedstaaten, sind wegen der Interventionen der EZB sehr viel kleiner, als es einer Bonitätseinschätzung auf Grund der staatlichen Verschuldung entspräche. Der fiskalische Effekt lässt sich kaum bestreiten.
Wie lässt sich das Dilemma in der derzeitigen Situation der Eurozone lösen, eine einheitliche Geldpolitik für so unterschiedliche Volkswirtschaften wie Deutschland oder Griechenland zu betreiben?
Issing: Dieses Dilemma ist nicht lösbar. Es kann nur eine einheitliche Geldpolitik für den einheitlichen Währungsraum geben: One size has to fit all. Dieses Prinzip galt von Anfang an. Es liegt an der nationalen Wirtschaftspolitik, sich diesen Bedingungen anzupassen, nicht zuletzt durch eine stabilitätsgerechte Finanz- und Lohnpolitik.
Über einen Grexit wird bereits seit einigen Jahren diskutiert. Momentan wanken die Griechen wieder beträchtlich. Was spricht dafür, dass ein Austritt noch verhindert werden kann?
Issing: Das liegt in erster Linie in der Hand der Griechen. Mit einer im Kern wirtschaftsfeindlich eingestellten Regierung wird das Land gewiss nicht aus der anhaltenden Krise herausfinden.
Zuletzt ebenfalls deutlich gestiegen ist die Gefahr eines Brexits, also ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Warum fürchten ihn Ökonomen und Politiker gleichermaßen?
Issing: Mit einem Brexit würde die EU eine wichtige Stimme im Kampf gegen Überregulierung und Zentralisierung verlieren. Ich zweifle sehr, ob sich die von den EU-Gegnern erhofften Vorteile in Großbritannien einstellen würden. Das Gegenteil dürfte der Fall sein.
Welche Ursachen der Eurokrise sind auf politisches Versagen zurückzuführen?
Issing: An erster Stelle ist die unverantwortliche Lohnpolitik zu nennen. Wenn beispielsweise die Lohnstückkosten in Portugal in den ersten acht Jahren der Währungsunion um nicht weniger als 30 Prozent im Vergleich zu Deutschland gestiegen sind, dann muss man sich über schwache Exporte, steigende Importe, eine sich stetig verschlechternde Leistungsbilanz und schließlich dramatisch zunehmende Arbeitslosigkeit nicht wundern. Ähnliche Entwicklungen waren auch in Griechenland oder Spanien zu beobachten. Die Missachtung der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts in zahlreichen Ländern hat ebenfalls zur krisenhaften Entwicklung beigetragen. Deutschland und Frankreich haben dabei 2003/04 eine unrühmliche Rolle gespielt, weil sie selbst gegen den Pakt verstoßen haben.
Weshalb sollten wir eine Politische Union anstreben?
Issing: Die Währungsunion ist derzeit wohl weiter denn je von einer Politischen Union entfernt. Diese bleibt allenfalls eine Vision für die fernere Zukunft. In der Flüchtlingskrise treffen unterschiedliche nationale Interesse besonders hart aufeinander. Statt Illusionen nachzujagen, sollte sich die Politik auf das Bewahren des Erreichten konzentrieren und dem Zug in Richtung weitere Zentralisierung Einhalt gebieten.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Transferunion noch verhindern können?
Issing: Der Druck in Richtung Transferunion wird immer stärker. Gegenwärtig liefert die Auseinandersetzung um eine europäische Einlagenversicherung ein anschauliches Beispiel. Deutschland steht im Widerstand ziemlich alleine da, darf sich aber im eigenen Interesse und letztlich dem der Gemeinschaft nicht beirren lassen. Für Transfers zwischen den Mitgliedschaften bedarf es der Legitimierung durch den demokratischen Prozess. Und das heißt letztlich der Verantwortung vor den Bürgern, denen sich die Regierungen in Wahlen stellen müssen. Es ist eine für die Integration in Europa verhängnisvolle Tendenz zu beobachten, diese in einer Demokratie fundamentalen Voraussetzungen zumindest auszuhöhlen.
Wie würde es uns im Jahr 2016 Ihrer Meinung nach in Europa ohne eine gemeinsame Währung ergehen?
Issing: Diese Frage lässt sich wie alle sogenannten „with or without“ Situationen kaum befriedigend beantworten. Entsprechend gehen die Meinungen auch weit auseinander.
Was ist Ihre persönliche Vermutung?
Das Interview führte Jörg Rieger.
Hinweis: Das ganze Interview mit Otmar Issing können Sie im Heft 4 (2016) der WiSt nachlesen.
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