Historia magistra vitae est (Cicero, De oratore, II 36)
Die Frage, ob man aus der Geschichte der Menschheit lernen kann und ob die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens ist, ist schon alt und auch ziemlich umstritten.[1] Wir wollen dieser Frage aus der folgenden Sicht nachgehen:
Vorüberlegungen
Die Überlegungen setzen eine Positionierung voraus, wer als Handelnder zu begreifen ist. Unter ontologischen Gesichtspunkten wird hier ein methodologischer Individualismus vertreten:
- Individuen sind die alleinigen Gestaltungskräfte der Geschichte der Menschheit, nur ihnen können Ziele und Handlungen zugeordnet werden. Gesellschaftliche Phänomene sind daher von den sie konstituierenden Individuen vollständig abhängig. Die Gesellschaft selbst ist damit ein rein begriffliches Konstrukt.[2]
- Dies führt uns zu den zugrundegelegten anthropologischen Spezifika: Kennzeichen des Menschen ist seine Verschiedenartigkeit in psychischer und physischer Hinsicht. Menschen verfügen über unterschiedliche geistige und körperliche Fähigkeiten; ihrem Handeln liegen unterschiedliche Präferenzmuster zugrunde. Dabei ist jedes Individuum einer individuell unterschiedlichen kognitiven Beschränkung unterworfen; individuell selektiertes Datenmaterial wird demzufolge individuell unterschiedlich interpretiert. Eine subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit und das restriktive eigene Wissen bedingen, daß menschliches Handeln stets auf mehr oder minder später zutreffenden Erwartungen basieren muß. Das bedeutet zugleich, daß individuelle Ziele, kognitive Beschränkungen und eine subjektive Interpretation der aufgenommenen Informationen zu individuell verschiedenartigen Handlungen bei vermeintlich objektiv identischer Rahmenlage führen.[3]
- Die Interaktion der Individuen, die ihre eigenen Ziele verfolgen und die durchaus miteinander konfligieren können, konstituiert ein soziales Phänomen, das sich durch wechselseitige Anpassung der Individuen auszeichnet und das diese zwingt, dezentral vorhandenes Wissen zu nutzen und nach neuem Wissen zu forschen. Dieses Phänomen, von v. Hayek (1969) als Handelnsordnung bezeichnet, hat prozessualen und auch irreversiblen Charakter, da eben sich das den Handlungen zugrundeliegende Wissen verändert. Daneben verändern sich allerdings auch die Rahmenbedingungen dieses interdependenten Handelns, nämlich die Regeln, auf denen es basiert – die sog. Regelordnung –, unterliegen ebenfalls dem Wandel. Ein theoretischer Zugang kann daher allenfalls nur mit einem diachronen Ansatz gelingen – einem Ansatz also, der dem prozessualen Charakter dieses gesamten Phänomens in seiner chronologischen Dimension Rechnung trägt.
Was ist eigentlich die Geschichte der Menschheit?
Nach diesen Vorüberlegungen, die freilich schon einige Weichenstellungen gezwungenermaßen vorwegnehmen müssen, wollen wir verorten, was unter „Geschichte“ zu verstehen ist. Mit Cicero (Jordan, 2005, S. 38; 2016, S. 19 ff.) kann man zwischen der res gestae und der historia rerum gestarum unterscheiden. Die erste beschreibt die „vollbrachten Taten und geschehenen Ereignisse“, also das oben skizzierte soziale Phänomen in seinem chronologischen Verlauf und damit im Sinne Ammons (2011) das Erfahrungsobjekt. Bei der historia rerum gestarum handelt es sich um die Deskription und Explikation desselben, also eines Vorgehens, das das Erfahrungsobjekt in ein Erkenntnisobjekt umwandelt. Letzteres ist freilich immer subjektiv, und die Deutung vergangener Ereignisse erfolgt aus dem Blickwinkel der Gegenwart mit allen entsprechenden Konsequenzen.[4] Für unsere weiteren Überlegungen beziehen wir uns auf die „vollbrachten Taten und geschehenen Ereignisse“.
Was ist eigentlich Lernen?
Ausgehend von der gewählten ontologischen Position ist es nur folgerichtig, das Phänomen des Lernens auf das Individuum zu beziehen. In Folge unserer Präliminarien kann also eine Gesellschaft oder eine andere den Individuen übergeordnete Seinsgegebenheit an sich nicht lernen. Wir wollen zur Verdeutlichung des Lernens auf das deduktiv-nomologische Erklärungsschema von Hempel und Oppenheim (1948) zurückgreifen und dies in Anlehnung an Popper (1969) und Watkins (1952/1953) für den Zweck der Untersuchung sozialer Phänomen wie folgt umformen:
- ein beliebiges Individuum I befindet sich in einer beliebigen Situation S (Rahmenbedingungen)
- das Individuum I handelt rational
- in einer Situation S ist es rational, die Handlung H auszuführen
Um die Handlung H als eine sinnvolle Handlungsalternative zu identifizieren, bedarf es also eines entsprechenden Wissens – des Instrumentalwissens. Dieses umfaßt neben Kenntnissen über die zieladäquate Ausformung der anwendbaren Maßnahmen auch Kenntnisse über deren Auswirkungen auf die Zielgröße. Es ist also eine Ansammlung subjektiver Ursache-Wirkungsvermutungen, die technologisch – also im Sinne von Ziel-Mittelbeziehungen – genutzt werden können. Lernen in unserem Sinne bedeutet also eine Veränderung dieses Instrumentalwissens: Bisherige subjektive Ursache-Wirkungsvermutungen werden durch neue ergänzt oder ersetzt. Ob das Instrumentalwissen dadurch vergrößert wird, ist nicht beantwortbar.
Zur theoretischen Zugänglichkeit des Erfahrungsobjekts
Das Erfahrungsobjekt, die res gestae – also die Interaktion der verschiedenen Individuen, stellt sich als komplexes „System“ dar (Hayek, 1972). Ein komplexes „System“ zeichnet sich dadurch aus, daß es aus sehr vielen einzelnen Entitäten besteht, deren Eigenleben nicht oder nur begrenzt zugänglich ist, die sich dynamisch und selbständig weiterentwickeln und die sich gegenseitig beeinflussen. In unserem Fall sind die Entitäten die Individuen, die eigenständig handeln. Ihre Ziele und ihr Instrumentalwissen lassen sich durch einen externen Beobachter wenn überhaupt, dann nur sehr begrenzt erfassen (Stichwort: Probleme der Introspektion). Zudem kann davon ausgegangen werden, daß sich die Individuen durch ihre Handlungen gegenseitig beeinflussen und sich dynamisch weiterentwickeln, dadurch daß sich ihr Instrumentalwissen verändert. Derartige komplexe „Systeme“ zeichnen sich durch zwei wesentliche Eigenschaften aus:
- Eine umfassende Beschreibung dieses „Systems“ oder auch von Teilen desselben ist nicht leistbar (Popper, 1974, S. 62).
- Die Interdependenz der Handelnden und der Handlungen läßt eine eindeutige Identifikation von Ursache und Wirkung nicht zu.
Nehmen wir zur Verdeutlichung ein Beispiel aus der deutschen Geschichte (Hillgruber, 1972, S. 86ff.): Im Anschluß an den preußisch-österreichischen Krieg von 1866 sondierte Bismarck die Möglichkeit, Napoleon III. durch die Überlassung Belgiens und Luxemburgs zu kompensieren und auf diese Weise seine Zustimmung für einen etwaigen Zusammenschluß der süddeutschen Länder mit dem norddeutschen Bund und damit für eine Vollendung der kleindeutschen Lösung zu gewinnen. Die sich daraus ergebende Luxemburg-Krise des Jahres 1867, die durch die offizielle Anfrage des Königs der Niederlande – Wilhelm III. (Luxemburg war in Personalunion mit dem Königreich der Niederlande verbunden) – an den König von Preußen, ob eben Luxemburg an Frankreich verkauft werden könne, ausgelöst wurde, machte Bismarcks Vorhaben zunichte.
Allein anhand dieses einfachen Ereignisses wird deutlich, daß nicht alle Einzelheiten beschrieben werden können; selbst die Erfassung sämtlicher vermeintlich maßgeblicher Akteure fällt schwer. Zudem ist es unmöglich, hier entsprechende Ursache-Wirkungsbeziehungen abzuleiten. Was war die Ursache für das Scheitern des Unternehmens (hier die Wirkung)? Das zögerliche Vorgehen Napoleon III.? Der komplexe Plan Bismarcks? Die deutsche Nationalbewegung, gegen deren Stimmen wenig auszurichten war? Die Anfrage des Königs der Niederlande?
Mit anderen Worten: Komplexe Handlungsgeflechte können sowohl intendierte als auch nicht intendierte Ergebnisse zeitigen, da der einzelne Akteur sicherlich nicht in der Lage ist, sämtliche Einflußfaktoren zu identifizieren, geschweige denn deren Wirkrichtung zu erfassen.
Was bedeutet das für das Lernen aus der Geschichte?
Da es aufgrund der Vielzahl an Akteuren und wegen der komplexen und vielgestaltigen, evolvierenden Rahmenbedingungen ausgeschlossen ist, daß sich die gleiche Situation in der Zukunft wiederholt, sind die Möglichkeiten, aus der Geschichte zu lernen, doch recht begrenzt. So lassen sich keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen sinnvoll ableiten, zumal nicht alle relevanten Akteure und Rahmenbedingungen bekannt sind. Mit anderen Worten: Einem externen Beobachter (dem Lernenden) sind zum einen nicht alle relevanten handelnden Entitäten bekannt. Zudem erschließen sich demselben die Ziele, das Instrumentalwissen und die Rahmenbedingungen der bekannten Akteure nicht zur Gänze. Der externe Beobachter ist demzufolge nicht in der Lage, belastbare Ursache-Wirkungszusammenhänge abzuleiten oder gar die Ergebnisse dieses komplexen „Systems“ vorherzusagen.[5]
Damit läßt sich das Instrumentalwissen doch wohl nur wie folgt erweitern: Es ist sinnvoll,
- komplexe Pläne zu vermeiden, da die Unwägbarkeiten nicht kalkuliert werden können, und
- Positionen anzustreben, in denen man die Handlungen flexibel an sich verändernde Rahmenbedingungen anpassen kann.
In diesen doch eher trivialen Erkenntnissen erschöpft sich das „Lernen aus der Geschichte“. Eine Analyse einzelner Situationen wie eben der oben genannten kann niemals alle relevanten Ursache-Wirkungsbeziehungen identifizieren. Sie hilft uns also für ein Lernen aus der Geschichte nicht weiter.
Literatur
Ammon, A. (1911), Objekt und Grundbegriffe der theoretischen Nationalökonomie, Wien.
Hayek, F. A. v. (1969), Rechtsordnung und Handelnsordnung, in: ders., Freiburger Studien, Tübingen, S. 161 – 198.
Hayek, F. A. v. (1972), Die Theorie komplexer Phänomene, Tübingen.
Hayek, F. A. v. (1975), Die Anmaßung von Wissen, in: Ordo, 26. Bd., S. 12-21.
Hayek, F. A. v. (1976), Die Verwertung von Wissen in der Gesellschaft, in: ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Aufl., Salzburg, S. 103 – 121.
Hempel, C. G. & Oppenheim, P. (1948), Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science, Vol. 15, S. 135-175.
Hillgruber, A. (1972), Bismarcks Außenpolitik, 2. Aufl., Freiburg.
Jordan, S. (2005), Einführung in das Geschichtsstudium, Stuttgart.
Jordan, S. (2016), Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, 3. Aufl., Paderborn.
Kolmer, L. (2008), Geschichtstheorien, Wien u. a.
Koselleck, R. (1989), Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M.
Meran, J. (1979), Individualismus oder Kollektivismus? Versuch einer Rekonstruktion eines sozialwissenschaftlichen Grundlagenstreits. Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 10. Jg., S. 35 – 53.
Popper, K. R. (1969), Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Adorno, T. W., et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied, Berlin, S. 103 – 123.
Popper, K. R. (1974), Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen.
Ritsert, J. (1976), Methodischer Individualismus oder Totalitätsbezug?, in: ders. (Hrsg.), Zur Wissenschaftslogik einer kritischen Soziologie, Frankfurt/M., S. 84 – 112.
Sellin, V. (2008), Einführung in die Geschichtswissenschaft, 2. Aufl., Göttingen.
Watkins, J. W. N. (1952/53), Ideal Types and Historical Explanation, in: The British Journal for the Philosophy of Science, Vol. 3, S. 22 – 43.
[1] Siehe hierzu etwa Kolmer (2008, S. 26 f.), Koselleck (1989, S. 38 ff.) und Sellin (2008, S. 221 ff.).
[2] Vgl. hierzu insbesondere Meran (1979, S. 42) und Ritsert (1976, S. 89).
[3] Siehe etwa Hayek (1969, S. 171; 1976, S. 103 f., S. 121).
[4] Siehe hierzu Jordan (2016, S. 20).
[5] Hayek (1972) spricht in diesem Zusammenhang davon, daß sich Regelmäßigkeiten bei komplexen Systemen nur in Form sog. Musteraussagen machen lassen. Dabei bleibt jedoch etwas unklar, was mit Musteraussage genau gemeint ist. Sicherlich läßt sich durch eine zunehmende Aggregation eher eine Gesetzmäßigkeit identifizieren. Eine über sog. Musteraussage hinausgehende Ableitung von vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten bezeichnet er als „Anmaßung von Wissen“ (Hayek, 1975).
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