Das Thema künftiger Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU hat viele Facetten. Zu den kaum beachteten gehört die Frage nach sozialrechtlichen Konsequenzen. Gelten in Großbritannien arbeitsrechtliche EU-Standards nach einem Brexit weiter? Können britische Rentner auch danach noch in Frankreich oder Spanien Rente beziehen? Wie steht es künftig um den Zugang von EU-Bürgern zu Leistungen des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes (NHS)? Erhalten nach Frankfurt abgewanderte Londoner Banker für ihre in der Heimat gebliebenen Kinder weiterhin Kindergeld vom deutschen Staat?
Die Antworten hängen entscheidend von den Beziehungen ab, die Großbritannien für die Zeit nach dem Brexit anstrebt. Von den derzeit debattierten Möglichkeiten sollen hier zwei betrachtet werden: 1. ein Umstieg hin zur Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), 2. der Status eines Drittlandes mit privilegierten Handelsbeziehungen, die WTO-Lösung. Die Fokussierung auf diese Randlösungen kann verdeutlichen, wie sehr ein Abschied aus dem Binnenmarkt auch Sozialleistungsansprüche grenzüberschreitend mobiler Bürger beschnitte. Entsprechend vielfältig wäre der Bedarf an neuen bilateralen Regeln, wollte man den drohenden Verlust von Sozialschutzrechten abwenden.
Bei der wenig wahrscheinlichen Lösung eines bloßen Umstiegs in den EWR mit allenfalls geringfügig eingeschränkten Freizügigkeitsrechten bliebe fast alles beim Alten. Das gilt sowohl für Akteure in Großbritannien als auch in anderen Ländern des EWR. Allerdings büßte die britische Regierung viele Einflussmöglichkeiten auf die Rechtssetzung in der EU ein.
Im EU-Binnenmarkt flankieren starke Sozialschutzregeln die Freizügigkeit von EU-Bürgern. Im Zentrum steht das in Artikel 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, also im Primärrecht, kodifizierte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Ergänzend gelten für die Systeme der sozialen Sicherung die Vorgaben der Koordinierung. Die einschlägige Verordnung (EG) Nr. 884/2004 legt zum einen fest, welche Leistungen EU-Bürger in einem Partnerland beanspruchen können. Zum anderen regelt die Verordnung die Zuständigkeit. Hier gilt, dass grundsätzlich immer nur ein Land für die Leistungen zuständig ist. Darüber hinaus hat die EU vor allem im Bereich des Arbeits- und Arbeitsschutzrechtes einen breiten Sockel von Mindeststandards definiert. Dazu gehört etwa die in Großbritannien weithin abgelehnte Arbeitszeitrichtline.
Durch Übertritt in den EWR könnte sich Großbritannien nicht von diesen EU-Regeln und Schutzrechten abkoppeln. Dem steht das Abkommen über den EWR entgegen, demzufolge relevante sozial- bzw. arbeitsmarktpolitische Vorschriften der EU auf den EWR zu übertragen sind. In der Folge haben Bürger, Arbeitnehmer und Unternehmen in der EU und in den EWR-Ländern, Norwegen, Island, Liechtenstein und Schweiz (gemäß Freizügigkeitsabkommen), ähnliche Rechte und Pflichten.
Die sozialrechtliche Koordinierung schützt die Ansprüche mobiler EU-Bürger, insbesondere von Arbeitskräften, auf (Geld-)Leistungen der großen beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme. Erwerbstätige Binnenwanderer (Arbeitnehmer und Selbständige) sowie deren Angehörige haben nach denselben Kriterien wie Inländer Anspruch auf diese Leistungen. Alle in einem Mitgliedsland erworbenen Ansprüche müssen gewahrt werden. Für Geldleistungen besteht ein Exportgebot, d.h. sie müssen auch an Berechtigte gezahlt werden, die in ein anderes EWR-Land abgewandert sind bzw. dort leben.
In der Praxis betrifft dies vor allem Altersrenten. Damit stellt das EU-Recht sicher, dass Erwerbstätige im Alter – unabhängig davon, in welchem Mitgliedsland sie dann leben – eine ihren Beiträgen entsprechende Rente erhalten, auch wenn sie in mehreren Partnerländern gearbeitet und Rentenbeiträge gezahlt haben. So werden bei der Rentenberechnung alle in EWR-Ländern erbrachten Beitragszeiten berücksichtigt. Beschäftigung im Ausland zählt, selbst wenn dort nur für kürzere Zeit Beiträge entrichtet wurden. Alle Mitgliedstaaten sind zudem verpflichtet, grundsätzlich auch Familienleistungen sowie Zahlungen ihrer Arbeitslosenversicherung ins Ausland zu leisten. Allerdings gilt das nicht für bedarfsorientierte (Sozialhilfe-)Leistungen.
Im Gesundheitswesen haben Unionsbürger grundsätzlich Anspruch auf notwendige Behandlungen in Partnerländern. Dies betrifft Arbeitnehmer, Rentner und Studenten, die sich (vorübergehend) im Gastland aufhalten, sowie Personen, die während ihres Urlaubs (unerwartet) medizinische Hilfe benötigen. Diese Bürger können sich grundsätzlich bargeldlos behandeln lassen, wenn sie im Heimatland Mitglied einer staatlichen Krankenkasse sind und dies durch Vorlage der Europäischen Versicherungskarte (EHIC) dokumentieren. Die Kasse in der Heimat trägt dann die Behandlungskosten (gemäß dortigem Recht). Das gewährleistet ein EWR-weites Ausgleichssystem öffentlicher Kassen. Ziehen Rentner dauerhaft in ein Partnerland, zahlt die heimische Kasse i.d.R. nur, wenn dort kein (zusätzliches) Einkommen einschließlich etwaiger Zahlungen aus vor Ort erworbenen Rentenansprüchen erzielt wird.
Während ein Umstieg Großbritanniens in den EWR die Freizügigkeits- und Koordinierungsregeln nicht beschädigte, würden sie mit einem Drittlandstatus gekippt. Das hätte erhebliche Konsequenzen vor allem für britische Rentner in Spanien und andernorts im EWR.[1] Sie müssten zwar keine Ausweisung befürchten. Ihre vor einem Brexit erworbenen Aufenthaltsrechte hätten internationalen Gepflogenheiten zufolge auch danach Bestand. Aber es wäre zum Beispiel nicht mehr gesichert, dass diese Rentner an der jährlichen Erhöhung britischer Renten teilhaben, weil Großbritannien Auslandsrenten außerhalb des ERW nur für Länder anpasst, mit denen es Sozialversicherungskommen abgeschlossen hat. Weit problematischer für die Betroffen wäre aber der wahrscheinliche Verlust des Krankenversicherungsschutzes. Denn mit einem EWR-Austritt fiele Großbritannien wohl aus dem Ausgleichssystem der Krankenkassen heraus und seine Bürger dürften den Anspruch auf (bargeldlose) Behandlung im EWR verlieren. Umgekehrt stünde natürlich auch die Gesundheitsversorgung nicht erwerbstätiger EU-Bürger in Großbritannien infrage.
Auf mobile britische Rentner kämen noch weitere Unannehmlichkeiten und Einbußen zu. So könnten sie nicht länger darauf bauen, dass bei ihren Renten in anderen EWR-Ländern erworbenen Rentenansprüche problemlos angerechnet werden. Grundsätzlich wäre der Bezug von Renten aus Partnerländern für viele Rentner mit höherem bürokratischem Aufwand verbunden, da das One-Stop-Shop-Prinzip wohl nicht mehr gelten würde. Umgekehrt träfe beides analog für von EU-Bürgern in Großbritannien erworbene Ansprüche zu. Schließlich könnten im EWR Erwerbstätige aus Großbritannien grundsätzlich keine Zahlung von Kindergeld für ihre in der Heimat lebende Kinder erwarten, wobei sich dies steuerrechtlich anders darstellen kann – so etwa in Deutschland.[2]
Diese Beispiele verdeutlichen die problematischen Folgen eines Ausstiegs aus der sozialpolitischen Koordinierung. Sie heißen kurz gefasst verminderter Sozialschutz und vermehrter Bürokratieaufwand einerseits für mobile Bürger, insbesondere Rentner, aus einem künftigen Drittstaat Großbritannien und andererseits für Bürger aus dem EWR im Vereinigten Königreich. Damit könnte sich ein Brexit nachteilig auf die Mobilität gerade auch höher qualifizierter Arbeitskräfte in Europa bzw. zwischen dem Festland und Großbritannien auswirken. Die durch das Ergebnis des britischen Referendums ohnehin gefährdete wirtschaftliche Dynamik in Europa wäre dadurch zusätzlich belastet. Um diese Folgen abzuwenden, müssten zahlreiche neue Regeln, das heißt bilaterale Verträge, etabliert werden.
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[1] Derzeit leben insgesamt rd. 300.000 britische Staatsbürger in Spanien. In Frankreich sind es rd. 170.000. Von Letzteren erhielten 2015 rd. 61.000 eine staatliche britische Rente.
[2] Im deutschen Einkommenssteuerrecht dienen Kinderfreibeträge zur Berücksichtigung der verminderten steuerlichen Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen mit Kindern. Die Freibeträge werden grundsätzlich auch für im Ausland lebende Kinder gewährt. Für Länder außerhalb des EWR werden die Freibeträge aber nicht generell zu 100% berücksichtigt. Vielmehr gelten abhängig von den Lebenshaltungskosten vor Ort verminderte Sätze, wobei eine Einteilung der Länder in vier Gruppen erfolgt. So werden etwa für in Brasilien oder Chile lebende Kinder 50% des allgemeinen Freibetrags angesetzt, für Albanien oder Bolivien z.B. 25%: