Gastbeitrag
Kann die EU zum großen Brexit-Verlierer werden?

Bisher ist es vor allem die britische Wirtschaft, die nach dem Brexit unter Druck gerät. Längerfristig könnte aber auch die EU zu den Verlierern gehören, wenn sie Großbritannien als Partner nicht ernst genug nimmt.

Etwa sieben Wochen nach dem Referendum in Großbritannien, in dem sich die Mehrheit der Briten für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) entschieden hat, zeigen sich die ersten Folgen für die britische Wirtschaft und die ersten halbwegs belastbaren Aussagen von politischen Entscheidungsträgern in Europa werden getätigt. Dabei sind zwei gegenläufige Dynamiken absehbar.

Zum einen wird deutlich, dass die britische Wirtschaft schon jetzt unter Druck gerät, obwohl die Verhandlungen über den Austritt noch gar nicht begonnen haben; es ist noch nicht einmal der Antrag der britischen Regierung bei der EU eingegangen. Drei Beispiele zeigen dies: Die jüngste Arbeitsmarktstatistik im Vereinigten Königreich weist kaum noch unbefristete offene Stellen aus, viele Unternehmen legen Investitionspläne in Großbritannien auf Eis, und die japanische Wirtschaft ist nervös, weil große Teile ihrer britischen Niederlassungen für den Europäischen Binnenmarkt produzieren. Dieser Markt droht nun schwerer bespielbar zu werden.

Diese Situation ist vermutlich gerade für viele derjenigen Menschen, die sich in der EU nicht mehr wohlfühlen und entsprechend den Brexit gewählt haben, am gefährlichsten, weil sie besonders anfällig für eine Krise des Arbeitsmarktes zu sein scheinen. Vor diesem Hintergrund droht eine Rezession.

Die Bank of England hat bereits reagiert und die Zinsen weiter gesenkt, um die britische Wirtschaft zu stimulieren. Die Erfahrungen in Japan und der Eurozone lassen nicht unbedingt erwarten, dass diese Maßnahme sehr viel Erfolg bringen wird. Insofern sind die Befürchtungen der Brexit-Gegner nicht unbegründet: Großbritannien droht, in schweres Fahrwasser zu geraten. Nebenbei bemerkt: das wäre nicht gut für die EU, die dann ebenfalls verlieren dürfte.

Oder kommt alles anders?

Dagegen steht auf der anderen Seite ein anderes Szenario, für das es ebenfalls Anzeichen gibt. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU könnte das Land für andere Partner noch interessanter werden; gleichzeitig wird die EU weniger interessant. So vermuten einige Medien, dass das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) ohne Großbritannien seine Strahlkraft für die Vereinigten Staaten (USA) verlieren könnte. Auf jeden Fall wirkt die EU ohne Großbritannien von außen betrachtet weniger offen und freihändlerisch und auch weniger attraktiv als Markt. Bedenkt man noch den Widerstand gegen TTIP aus Kontinentaleuropa (vor allem aus Deutschland, dem Land, das als Exportnation am meisten vom Außenhandel abhängt), könnte sich die US-Administration von den Verhandlungen verabschieden.

Stattdessen könnte man sich vorstellen, dass die USA direkt mit den Briten ein bilaterales Freihandelsabkommen anstreben wird. Die Verhandlungen darüber dürften recht schnell vorankommen, da ihnen weder Sprachprobleme noch eine höchst komplexe Interessenvielfalt á la EU im Wege stehen. Zudem sind die USA und Großbritannien in Fragen des Außenhandels vermutlich im Grundsatz einiger als die europäischen Staaten untereinander.

Verbrüdern gegen die EU?

Es hat sogar die Überlegung gegeben, Großbritannien aufzufordern, einen Beitritt zur transpazifischen Partnerschaft (TPP) anzustreben. Dies käme den USA, Kanada, Japan und anderen Asiaten, aber auch Neuseeland und Australien sicherlich sehr entgegen, für die Briten wäre es ein guter Ersatz für die Mitgliedschaft im Binnenmarkt. Auch andere Partner wie Indien oder China dürften an einem derart vernetzten Großbritannien ein ernsthaftes Interesse verspüren.

Schließlich wäre es sogar denkbar, dass das schwächelnde Commonwealth durch derartige handelspolitische Offensiven wiederbelebt wird. Im Moment wird die Zukunft des Commonwealth ergebnisoffen diskutiert, mit einer klaren handelspolitischen Vorgabe könnte sich das ändern.

Dieses Szenario dürfte auch für Investoren interessant sein; denkbar wäre sogar eine Verlagerung von Produktionsstätten auf die britischen Inseln. Damit ergäbe sich für die Europäische Union ein ernsthaftes Problem. Aus der Position der Stärke gegenüber Großbritannien würde dann nämlich eine Position der Schwäche in der Weltwirtschaft ergeben:

Erstens wäre Großbritannien im Zweifel sogar attraktiver als Investitionsstandort als vor dem Brexit, und zweitens wäre die EU nicht mehr erste Adresse für potenzielle neue Freihandelsabkommen. Zwar gibt es bereits Überlegungen, Freihandelsabkommen mit Australien und Neuseeland abzuschließen, und selbst ein Freihandelsabkommen mit China wird bereits in der Öffentlichkeit diskutiert. Dazu liegt eine Studie des CEPS in Brüssel vor. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die drei Länder in diesem Szenario mit derselben Intensität an Abkommen mit der EU arbeiten würden.

Drittens ist nicht auszuschließen, dass diese Dynamik zentrifugale Kräfte freisetzt, indem andere EU-Mitglieder ebenfalls den Ausstieg aus der EU wählen.

Denkbar ist sogar, dass beide Szenarien oder Dynamiken eintreten. Der britische Schaden würde sicherlich kurzfristig eintreten. In der mittleren oder längeren Frist könnte sich aber Großbritannien als Handelspartner empfehlen und der EU den Rang ablaufen. In diesem Fall wäre die EU der große Verlierer des Brexit.

Fazit

Die Lehre daraus für die EU ist eindeutig. Es ist nicht angemessen, den Briten bei den anstehenden Verhandlungen arrogant und abweisend gegenüber aufzutreten. Das heißt natürlich nicht, dass deshalb die Regeln des Binnenmarktes aufgeweicht werden; Härte in der Sache ist durchaus angebracht. Großbritannien muss als Partner aber ernstgenommen werden; seine Beteiligung im Binnenmarkt muss weiterhin angestrebt werden.

Gleichzeitig sollte die EU ihre Bemühungen um weitere Handelserleichterungen mit Drittländern glaubwürdig fortsetzen. Aus europäischer Perspektive wäre es ein Drama, wenn aus falschverstandenem Ärger über den Brexit und Fehleinschätzungen über die relative Position Großbritanniens zukünftige Chancen leichtfertig verspielt werden. Der Brexit darf nicht den Startschuss in europäischen Isolationismus bilden.

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