Kurz kommentiert
Abschied vom europäischen Superstaat

Der mit Stimmenmajorität der Bevölkerung Großbritanniens beschlossene Brexit – von dem allerdings angesichts der hohen inhaltlichen und institutionellen Komplexität der Austrittsverhandlungen sowie des gegenwärtigen Mangels an kompetenten Verhandlungsführern  gar nicht sicher ist, ob und wann er tatsächlich stattfindet – ist ein bedeutendes Signal für die sich schon länger in manchen Mitgliedstaaten abzeichnenden Sympathien für einen europäischen Regionalismus und weg von der Idee eines europäischen Superstaats. Wurde noch vor Jahren, insbesondere nach den beiden Weltkriegen, die Abkehr vom nationalstaatlichen Denken als alternativlos, weil allein friedenstiftend, propagiert, so scheint dieser Integrationsansatz durch die weltweit zu beobachtenden Separationsbewegungen und speziell für die EU durch die empirische Europa-Dynamik zu verblassen.

Diese Dynamik ist bekanntlich seit 2009 in Artikel 50 des Lissabon-Vertrags formal eingefangen, der nunmehr einen Austritt aus der EU legalisiert. Insofern ist Artikel 50 Ausdruck eines konstitutionellen Lernens, das sich an der Empirie orientiert, die zu Exit-Optionen als Ventil zur Durchsetzung der Befreiung von als inakzeptabel angesehenen  institutionellen Arrangements drängt: Die Einfügung des Exit-Artikels ist mithin ein Befreiungsvorgang gegenüber institutionellen Unzumutbarkeiten, die als solche von einzelnen EU-Mitgliedstaaten empfunden werden. Wenn man will, kann man Artikel 50 auch als empiriegesteuerten Wegbereiter dafür betrachten, dass aus der EU als gegenwärtigem Staatenverbund absehbar keine EU als zukünftiger Staatenbund wird. Also Abschied vom Irrtumspfad eines europäischen Superstaats.

Das ist integrationspolitisch kein bedauernswerter Rückschritt, denn ein Staatenbund der zentral-institutionellen Einheitlichkeit ist einem Staatenverbund der kooperativ-institutionellen Verträge grundsätzlich nicht überlegen. Vielmehr ist es wohl umgekehrt und eher so, dass in einem heterogenen Integrationsraum, wie ihn die EU darstellt, kooperative Verträge im institutionellen Rahmen eines europäischen Regionalismus die Heterogenitätskosten zentraler Vereinheitlichungen vermeiden, weil sie Rücksicht auf die Selbstbestimmungsrechte der Kooperationspartner nehmen. Diese Erkenntnis sollte auch den bevorstehenden Brexit-Verhandlungen zugrunde liegen: Die EU sollte so breit und tief wie möglich freihändlerische  Kooperationspotentiale mit Großbritannien entwickeln und keineswegs Protektionspotentiale als Ausdruck einer Bestrafungsmentalität aufbauen. Täte sie letzteres, so offenbaren deren Funktionsträger ein rückwärtsgewandtes Unverständnis gegenüber zukunftsorientierten Integrationspolitiken, wie sie sich international in der globalisierten Welt überall durchsetzen.

Allein kleinere Integrationsräume, die eine größere Homogenität in den Bevölkerungspräferenzen, in den herkunftskulturellen Ausstattungen, den ökonomischen Fundamentaldaten sowie den wirtschaftspolitischen Konzeptionen aufweisen, können sich einen hohen institutionellen Zentralisierungsgrad leisten, ohne dass es zu regionalen Separationsbewegungen kommt. Insofern wird Artikel 50 in seinem Exit-Drohpotential dann  entschärft, wenn nicht-erzwungene Homogenität vorliegt, was in der EU nicht der Fall ist, oder wenn im heterogenen Raum regional-kooperative Verträge statt zentralstaatlich verordnete Einheitlichkeit die Integrationskonzeption abbilden und die regierungsferne Selbstorganisation mit ihren gegenüber zentralstaatlichen Institutionen komparativen Vorteilen in der Produktion innovationstreibenden neuen Wissens allenthalben fördern.

Vertragliche Freiwilligkeit ist integrationspolitisch immer effizienter als erzwungene Einheitlichkeit. Diese Weisheit steckt hinter der Klugheit des Artikels 50. Er macht die Wege frei für die Kooperationsanforderungen in der Globalisierung als dezentral organisierter zivilisatorischer Weltentwicklung. Und zudem zerstört er die politische Illusion eines auf Unkündbarkeit und  Fortschrittsewigkeit vermeintlich irrtumslos angelegten Integrationsentwurfs, die zu der zentralisierten Überregulierung in der EU geführt hat, die die Briten – und nicht nur sie – so vehement beklagen.

Wenn in diesem Monat, genau genommen am 19.September, der siebzigjährigen Wiederkehr der berühmten Zürcher Rede Winston Churchills von 1946 an die Jugend Europas gedacht wird, die mit dem Appell „Let Europe Arise“ endete, dann hatte dieser welthistorisch bedeutsame Brite schon damals einen weitsichtigen Blick: „We must recreate the European Family in regional structure“. Und nur in dieser Struktur meinte er, dass  Europa „ may be called the United States of Europe“. Diese Sicht wird in den gegenwärtigen Weihefeiern zur Churchill-Rede, vielleicht aus Gründen der europapolitischen political correctness, vielfach unterdrückt. Und zudem hatte Churchill keineswegs im Sinn, dass Großbritannien sich an diesem Europa beteiligen sollte. Seinen Vorschlag bezog er nur auf das Kontinentaleuropa und keineswegs auf Großbritannien. Und damit schließt sich der Kreis zur gegenwärtigen Brexit-Entscheidung der Briten.

4 Antworten auf „Kurz kommentiert
Abschied vom europäischen Superstaat“

  1. Ihr Kommentar bringt es auf den Punkt. Der Beweis, dass der Superstaat Europa funktioniert, wurde bis zum heutigen Tage nicht erbracht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Die Interessenlage ist zu heterogen. Durch die unterschiedlichen Mentalitäten der vielen Völker bedingt. Aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus wird von Seiten der Superstaat-Profiteure auf alle Superstaat-Gegner draufgehauen. Einmal mehr ein Zeichen dafür, dass Staaten keine Freundschaften zueinander haben, sondern nur eigene Interessen vertreten. Das Gleiche gilt für die Kaste der Berufspolitiker insgesamt. Das strategische Verhalten in solch einem Superstaat führt aus meiner Sicht auch zu seinem Ende. „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“
    W. Churchill & L. Erhard haben aus meiner Sicht für damalige Verhältnisse eine sehr gute Weitsicht besessen.

    Noch vor wenigen Monaten wurde auch aus Ökonomenkreisen ein europäsciher politischer Linksruck befürchtet. Begründet mit der zunehmenden Regelungswut und Zentralisierungsstreben. Dieser blieb zum Glück aus. Unsere osteuropäischen Nachbarstaaten präferieren ganz klar den Weg des europäischen Regionalismus. Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Weg durchsetzt. Die emotionalisierenden Floskeln in Politik und Journalismus müssen abgebaut werden. Sachdebatten wären dienlich, werden aber von einzelnen Interessengruppen gescheut.

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