1. Der Nationalstaat, überhaupt das Nationale, ist ins Gerede gekommen. Erstens wohl, weil manche glauben, im Zeitalter der Globalisierung mache es keinen Sinn mehr, in nationalen Kategorien zu denken, vielmehr sei die zunehmende Entgrenzung der Lebensbereiche die adäquate Basis modernen polit-ökonomischen Denkens. Auf Europa bezogen leitet sich daraus die Forderung mancher Protagonisten nach „mehr Europa“ ab, also nach weniger nationalen und mehr europa-zentrierten Regulierungs-Kompetenzen. Diese Forderung wurde auch insbesondere und unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung der Briten erhoben – vor allem vom Präsidenten der EU-Kommission Juncker, aber auch von manchen europa-engagierten Kommentatoren, die die Einführung des Austrittsrechts von Nationalstaaten aus der EU auf Basis des Artikels 50 des Lissabon-Vertrages für einen gravierenden Fehler halten, weil er zum Verfall der EU beitrage. Zweitens wird dem nationalen Denken in der politischen Arena sichtbare Priorität gegenüber international orientierten Denkkategorien aufgrund des sich verbreiternden Entstehens von Parteien gegeben, die ihre Existenz weniger auf polit-ökonomisch rationalen Konzeptionen als vielmehr auf protestgeschwängerten Aktivitäten gegen die herrschenden politischen Establishments basieren. Es ist zu vermuten, dass „Zweitens“ mit „Erstens“ inhaltlich kausal verbunden ist.
2. Deshalb erscheint es wichtig, den Nationalstaat im positiven Licht der Begriffe „Subsidiarität“ und „Wettbewerb“ in den Fokus zu nehmen. Denn die Zurückdrängung des Nationalstaates bedeutet in der EU grundsätzlich mehr Zentralisierung, also weniger Subsidiarität. Nimmt man das in Art. 5 des Lissabon-Vertrages kodifizierte Gebot der Subsidiarität ernster, als dies im zunehmenden Zentralisierungstrend in der EU bisher der Fall ist, dann muss es hier eine bedeutende öffentliche Aufwertung der Funktion der Nationalstaaten geben, die nichts mit dem Begriff „Neuer Nationalismus“ zu tun hat und die für viele – zu Unrecht – als Rückschritt im europäischen Einigungsprozess bedeutet. Denn mehr Zentralisierung, also weniger Nationalstaat, impliziert immer auch weniger inter-nationalen Institutionenwettbewerb der Nationalstaaten, also mehr statische Sklerotik und weniger dynamische Schumpeter-Erneuerung im Prozess der schöpferischen Zerstörung in der zentralisierten EU sowie in den Nationalstaaten selbst. Denn das schwächt deren aller inter-institutionelle Wettbewerbsfähigkeit. Zu verweisen ist dabei auf den Tatbestand, dass eine nationale Identität keineswegs die regionale oder lokale Identität aufhebt.
3. Spezifisch ökonomisch ausgedrückt bedeutet Subsidiarität die Zuweisung von Aktivitäten auf Basis des (Ricardo-)Prinzips der komparativen Wettbewerbsvorteile in Bezug auf Bürgernähe und Kosteneffizienz. Das erfordert zwei grundsätzliche Prüfverfahren. Erstens: Handelt es sich bei der zur Entscheidung anstehenden Aktivität um ein privates oder öffentliches Gut? Diese Frage berührt die altbekannte ordnungspolitisch bedeutsame Entscheidung: Privat oder Staat? Marktwirtschaft oder Staatsplanung? Sie spielte zum Beispiel eine besondere Rolle im Prozess der Realisierung des Europäischen Binnenmarktkonzepts 1992. Damals machte sich die Europäische Kommission – im festen Glauben, dass dies eine EU-öffentliche Aktivität sei, deren Gestaltung dementsprechend sie selbst zu organisieren habe – daran, die bei Freihandel vermeintlich notwendigen Harmonisierungen für den Güter- und Dienstleistungsverkehr selbst zu implementieren. Relevant waren Tausende von Normierungen. Bereits nach den Erfahrungen kurzer Harmonisierungsversuche wurde offenbar, dass der Abschluss der Detailharmonisierungen Jahrzehnte gedauert hätte oder zeitlich sogar als endlos einzuschätzen war, weil zwischenzeitlich immer neue länderspezifische Regulierungen implementiert wurden und zudem die Kommission sich eine Kompetenz über die Kenntnis des Optimalitätsgrades von Normierungen anmaßte, die sie – wie grundsätzlich alle staatlichen Organe – gar nicht besaß. Es kam zur ordnungspolitischen Umwidmung der Zuständigkeiten von Kommission („Staat“) zu privaten Normierungsorganisationen („Privat“) wie z. B. den europäischen Organisationen CEN und CENELEC. Das entspricht einem ordnungspolitisch bedeutsamen Prozess des institutionellen Lernens über die die Subsidiarität enthaltene Zuweisung einer Aktivität entsprechend der privaten komparativen Wettbewerbsvorteile, die außerhalb des „staatlichen“ Mehrebenensystems EU liegen. Durch den privaten Marktprozess, der das millionenfach vorhandene Wissen der privaten Marktteilnehmer vertragsorientiert verarbeitet, organisiert sich die Normierung über den effizienten Suchprozess in Bezug auf die komparativen Wettbewerbsvorteile im internationalen Handel: Lernen durch privaten Institutionenwettbewerb der Nationalstaaten. Die herausragende wettbewerbliche Bedeutung der Nationalstaaten dokumentiert sich zudem in dem richtungsweisenden EuGH-Urteil der gegenseitigen Anerkennung von nationalen Normen im Anschluss an den Cassis de Dijon-Fall. Und nicht zuletzt ist der Brexit ein herausragender Anlass zu lernen, warum Nationalstaaten die institutionellen Arrangements eines Integrationsraumes, eines polit-ökonomischen Clubs also, verlassen.
4. Die Entscheidung „privat oder Staat“ impliziert das erste Prüfverfahren für Subsidiarität. Das zweite Verfahren bezieht sich auf die Zuweisung einer Aktivität innerhalb eines staatlichen Mehrebenensystems, wenn sie als öffentliches Gut betrachtet wird. Auch hier sollte der institutionelle Mehrebenenwettbewerb eine Rolle spielen, aber der funktioniert in der EU nicht, weil nicht das subsidiäre Denken „von unten nach oben“, sondern umgekehrt „von oben nach unten“ grundsätzlich vorherrscht: Die obere Ebene entscheidet über die Zuweisung an eine untere. Hier kennen wir die administrative Beharrung auf traditionell bestehende Kompetenzen, die ein Verzicht zugunsten unterer Ebenen verunmöglicht, weil damit Macht- und Reputationsverluste bei den abgebenden Ebenen befürchtet werden. Über den Erfolg einer Subsidiaritätsrüge oder -klage nationaler Parlamente, wie sie im Lissabon-Vertrag vorgesehen sind, entscheidet die Kommission bzw. der EuGH, beides Gemeinschaftsorgane der höchsten Stufe, die in ihren Entscheidungen stets und signifikant eine klare Präferenz für diese Gemeinschaftsebene dokumentieren. Damit ist das Subsidiaritätsprinzip in der EU faktisch auf den Kopf gestellt. Dies mag, neben anderen institutionellen Regelungen, einer der wesentlichen Gründe sein, weshalb realiter weder die Rüge noch die Klage bisher in nennenswertem Umfang praktiziert worden sind: Sie werden faktisch nicht EU-institutionell neutral richterlich entschieden.
5. Deshalb bedarf es diesbezüglich einer institutionellen Reform, deren Diskussion nicht neu ist, aber durch die gegenwärtige EU-Krise mit Brexit und anderen potentiellen nationalen Fluchtbewegungen aus der EU wieder hochaktuell geworden ist, wie dies auch im neuen Gutachten 2016/17 des Sachverständigenrats dokumentiert wird. Schon Friedrich August von Hayek hat die Subsidiaritätsrealisierung institutionell durch die Schaffung einer „Zweiten Kammer“ abzusichern vorgeschlagen, die als neutrales Entscheidungsorgan fungieren solle. Auch die Installierung eines „Subsidiaritätsbeauftragten“ (Möschel) wurde schon angedacht. Die European Institutional Group plädiert, ebenso wie der Sachverständigenrat, für die Schaffung eines unabhängigen Subsidiaritätsgerichts, dessen Besetzung durch höchste Richter aus den EU-Nationalstaaten zu erfolgen habe, die möglichst von den nationalen Bevölkerungen gewählt werden und damit Bürgernähe repräsentieren. Damit würde das Subsidiaritätsverlangen EU-institutionell auf eine unabhängige Basis verlagert, in der die Rechtsprechung von der speziellen Interessensphäre der Gemeinschaftsorgane EU-Kommission und EuGH gelöst und auf ein EU-unabhängig rechtsprechendes Gremium aus jeweils in den Nationalstaaten gewählten Richtern verlagert wird. Das beseitigt nicht das Erfordernis der Justiziabilität im Subsidiaritätsverfahren: Für die Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips durch das Gericht bedarf eines festgelegten, aber zeitlich durchaus – aus empirischem Lernen gespeisten – veränderbaren Kriterienkatalogs hinsichtlich der speziellen Eigenschaften der zur Debatte stehenden Aktivitäten in der Abwägung: Privates oder öffentliches Gut? Und bei öffentlichen Gütern: EU-öffentlich, national-öffentlich (regional-öffentlich, lokal-öffentlich)? Es bedarf hier eines klaren Kompetenzkatalogs. Die Theorie des fiskalischen Föderalismus liefert gute Beurteilungskriterien, die sich partiell, aber keineswegs sachlich genügend konkret, im Lissabon-Vertrag schon wiederfinden.
6. Der Nationalstaat ist in der europäischen Integrationsdebatte negativ ins Gerede gekommen, weil er zunehmend mit den als „Neuer Nationalismus“ bezeichneten politischen Bewegungen assoziiert wird. Diese Assoziation ist nicht zukunftsfähig und integrationsfördernd. Denn ohne ihn, den Nationalstaat, sklerotisiert die Europäische Union, weil es keinen Wettbewerb zwischen den nationalen Institutionen gibt, der das Prinzip der Subsidiarität in der EU befördert. Also: Mehr Mut zum Nationalstaat und zur Wettbewerbsfähigkeit seiner Institutionen!
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Sehr geehrter Herr Schäfer,
herzlichen Dank für diese Gedanken und Strukturen.
DIe Stringenz insbesondere der Punkte 4. – 6. würde ich mir sehnlichst auf national- wie EU-politischer Ebene wünschen.
Beste Grüße nach Hamburg
Christian Caire