“Zeit für mehr Gerechtigkeit“ heißt das Schlagwort, mit dem die SPD und ihr Spitzenkandidat Martin Schulz in den Wahlkampf ziehen. Für die Arbeitsmarktpolitik präsentierten der Kanzlerkandidat und Bundesarbeitsministerin Nahles kürzlich erste konkrete Pläne dazu. Sie wollen das Arbeitslosengeld I um eine neue Komponente erweitern sowie den Zugang zu den Lohnersatzleistungen erleichtern. Mit dem neuen Arbeitslosengeld Q sollen Bezieher/innen von Arbeitslosengeld I einen Rechtsanspruch auf Qualifizierung erhalten. Damit kann sich für jüngere Berechtigte die Bezugsdauer um bis zu 12 Monate und für ältere ab 58 sogar um 24 Monate auf zwei bzw. sogar vier Jahre verdoppeln. Um das Arbeitslosengeld für Personen mit unstetiger Erwerbstätigkeit besser zugänglich zu machen, soll zudem die so genannte Rahmenfrist verlängert werden. Unter 50-jährige Antragsteller, zum Beispiel, könnten demzufolge die erforderliche Mindestbeitragszeit von (in ihrem Fall) 12 Monaten innerhalb von drei statt bislang zwei Jahren vor Antragstellung erwerben.
Mit dem Vorschlag, die Dauer von Qualifizierungsmaßnahmen insbesondere zugunsten älterer Berechtigter zu 100% und nicht wie bislang nur zu 50% auf die Bezugsdauer des ALG I aufzuschlagen, scheint die SPD eine Gerechtigkeitslücke anzusprechen. Ist es nicht „sozial gerecht“, wenn Ältere deutlich länger Arbeitslosengeld beziehen können – zumal wenn sie sich qualifizieren? Schließlich haben sie auch wohl länger Beiträge entrichtet als Jüngere. Mehr noch: Brauchen wir etwa keine staatliche Qualifizierungsoffensive gerade für Ältere, um deren Kompetenzen den Erfordernissen der zunehmend digitalisierten Arbeitswelt anpassen zu können?
Man ist geneigt, hier vorschnell mit ja zu antworten. So dürfte die propagierte längere Unterstützung älterer Arbeitssuchender intuitiv viel Zustimmung finden; scheint dies doch einem anerkannten Gerechtigkeitskriterium zu entsprechen: der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung. Aber der Verweis auf das Äquivalenzprinzip geht hier in verschiedener Weise fehl. Zum einen entspricht das vorgeschlagene ALG Q diesem Prinzip nur sehr bedingt. Bereits nach geltendem Recht ist die Dauer der Beitragszahlungen nur ein Teilkriterium für die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, mehr noch hängt diese vom Lebensalter ab. Die neuen Vorschläge verschärfen diese Problematik.
Zum anderen wäre es auch aus gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeitsüberlegungen bedenklich, bei der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung die Dauer des Leistungsbezuges eng an die der Beitragszahlungen zu koppeln. Die Arbeitslosenversicherung kann – zumal als umlagefinanzierte staatliche Pflichtveranstaltung – kein kollektiver „Sparstrumpf“ zugunsten älterer Arbeitssuchender sein. Das würde die Aufgabe – periodenbezogener, zeitlich begrenzter sozialer Absicherung der Zeit der Arbeitssuche – verfehlen, das System überfordern, Anspruchsdenken Tür und Tor öffnen und Moral Hazard fördern, d.h. für langjährige Beitragszahler hohe, falsche Anreize zum Leistungsbezug setzen. Das spricht dafür, die Koppelung an die Beitragsdauer grundsätzlich eher enger zu begrenzen. Das geschah mit den Hartz-Reformen, welche die maximale Bezugsdauer generell auf 12 bzw. 18 Monate für über 55-Jährige festlegten. Wie gut diese und andere Reformen wirkten, zeigt die Entwicklung der Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen. Diese ist seit dem Jahr 2000 um fast 20%-Punkte auf 66% gestiegen. Deutschland ist damit in der EU von einem ungünstigen Mittelfeldplatz auf die zweite Stelle nach Schweden gerückt. Aber bereits 2008 weitete die damalige große Koalition die Bezugsdauer wieder aus – auf bis zu 24 Monate für Arbeitslose nach dem vollendeten 58. Lebensjahr. Bei der verlängerten Bezugsdauer für Ältere handelt es sich aber – wie erläutert – um eine versicherungsfremde Leistung. Wenn sie gewährt werden soll, wäre sie also aus Steuermitteln zu finanzieren.
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Aber heiligt der Zweck nicht die Mittel? Sind die geplanten Qualifizierungshilfen nicht notwendige Präventions- und Fördermaßnahmen, die es Arbeitslosen erleichtern, wieder in Lohn und Brot zu kommen und auch längerfristig zu bleiben? Für die bestehenden Qualifizierungsmöglichkeiten hat der Gesetzgeber dies offenkundig bejaht und der Bundesagentur für Arbeit dementsprechende Handlungs- und Finanzierungspflichten auferlegt. Aber die heutigen Maßnahmen werden bei Bedarf nach Einzelfallprüfungen bewilligt. Die Agentur schlägt eine Qualifizierung vor, wenn sie Erfolg verspricht. Das sollte zum Sozialversicherungsprinzip passen. Die Solidargemeinschaft der Beitragszahler steht dafür ein, das Arbeitslosigkeitsrisiko von Versicherten zielführend zu vermindern.
Wenn aber die Bundesagentur für Arbeit generell zu einer Qualifizierungs- und Weiterbildungsagentur umgebaut werden soll, geht das über deren Aufgabe als Sozialversicherung weit hinaus. Damit werden Kosten bei den Beitragszahlern, den Arbeitnehmern und den Unternehmen, abgeladen, wo sie nicht hingehören. Dies führt zu tendenziell höheren Sozialbeiträgen, also einem noch größeren Keil zwischen Brutto- und Nettolöhnen zulasten der Beschäftigung und insbesondere auch von Beschäftigten mit niedrigeren Löhnen. Wo bleibt hier die Gerechtigkeit?
Eine staatliche Weiterbildungsagentur müsste dann auch die zukunftsweisenden Qualifikationen und Berufsfelder kennen, um Leistungsberechtige in großer Zahl auf die (vermeintlich) richtige berufliche Schiene setzen zu können. Das kann der Staat nicht leisten. Am ehesten dürften dazu wohl die Unternehmen vor Ort in der Lage sein. Vertreter der Wirtschaft weisen zu Recht auf die Zuständigkeit und Kompetenz der Unternehmen für Aus- und Weiterbildung hin, sollte doch der Fokus darauf liegen, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Ungeachtet der Notwendigkeit etwaiger staatlicher Unterstützung im Einzelfall ist schließlich auch darauf zu verweisen, dass der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit in erster Linie die Aufgabe eines jeden einzelnen ist.
Das ALG Q stellt in verschiedener Hinsicht die Weichen zurück zu einer paternalistischen staatlichen Arbeitsmarktpolitik, die als verfehlt erkannt und im Zuge der Hartz-Reformen folgerichtig korrigiert wurde. Die Arbeitsagenturen setzen seither zu Recht auf den Vorrang von Beschäftigung. Arbeitslose möglichst rasch wieder in Beschäftigung zu bringen sollte oberstes Ziel bleiben. Mit steigender Dauer der Arbeitslosigkeit verschlechtern sich nach aller Erfahrung die Beschäftigungsperspektiven. Unter dem Strich dürften damit auch viele Qualifizierungsmaßnahmen verpuffen, wenn sie – wie vorgeschlagen – mit deutlich verlängerter Arbeitslosigkeit einhergehen.
Der Vorrang der Beschäftigung impliziert freilich, dass Arbeitslose unter Umständen auch Stellen antreten müssen, die nicht ihren Wünschen entsprechen. Davor kann indes selbst ein Qualifizierungsanspruch nur bedingt schützen. Auch hieße es, das Solidarprinzip zu überdehnen, wenn eine Sozialversicherung ein solches ohnehin kaum einlösbares Versprechen gäbe. Im Übrigen mag sich das Qualifizierungsrecht für viele, die längere Zeit Arbeitslosengeld beziehen, als Pflicht erweisen mit entsprechenden Folgen für die Motivation.
Qualifizierungsmaßnahmen können in vielen Einzelfällen zweifellos sinnvoll sein und die Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitslosen nachhaltig verbessern. Für ein generelles Qualifizierungsrecht gilt das hingegen nicht, auch dann nicht, wenn es besonders auf Ältere zielt. Hingegen besteht die Gefahr, dass ein zusätzliches Arbeitslosengeld Q in vielen Fällen als Brücke in den Vorruhestand genutzt würde. Das ALG Q würde damit aber auch der Generationengerechtigkeit einen Tort antun.
Blog-Beiträge zum Thema:
Alfred Boss: Arbeitslosengeld für einen verlängerten Zeitraum?
Oswald Metzger: Die „fake news“ des Martin Schulz
Mit Verlaub eine Anmerkung zu „Aber heiligt der Zweck nicht die Mittel?“ – i. m. O. braucht es dazu keine Zwecke, das macht die scheinheilige SPD ganz von selbst und ihr Publikum scheint wenige Tage vor der Wahl mal wieder hellauf begeistert (weiß es doch inzwischen, dass der zusätzliche Nutzen schnell von neuen Kostenfaktoren kompensiert wird).