Helmut Kohl habe ich als einen Staatsmann erlebt, für den die Soziale Marktwirtschaft die zentrale Säule der wirtschaftlichen Ordnung in einem freien Land wie die Bundesrepublik Deutschland zu sein habe. Dementsprechend verkündete er in seiner ersten Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 einen „Kurs der Erneuerung“ samt „Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik“ – hin zu einer Konsolidierung der aus den Fugen geratenen Staatsfinanzen, zu einem für Investitionen, Innovationen und neue Arbeitsplätze wieder unternehmensfreundlicheren Umfeld sowie zu den Prinzipien der individuellen Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung, die nach jahrelanger staatlicher Bevormundung der Bürger geschwächt waren. Kohl wusste um die Bedeutung von dauerhaft verlässlichen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen; er wusste aber auch und hat es erfahren, zumal bei gegnerischen Mehrheiten im Bundesrat, wie schwierig es im Tagesgeschäft für die Wirtschaftspolitik sein würde, dieser Aufgabe mit Kohärenz zwischen den einzelnen Politikbereichen und klarer Orientierung im Ganzen nachzukommen.
In Kohls Kanzlerschaft sind ökonomisch gleich mehrere Meilensteine mit seiner Handschrift zu verzeichnen, in Deutschland und auf der europäischen Ebene. In Deutschland ist besonders an drei zu erinnern: Erstens, die wettbewerbsfördernde Öffnung von gewichtigen Dienstleistungsmärkten durch Deregulierung und Privatisierung in den 1990er Jahren (Stromwirtschaft, Telekommunikation, Eisenbahn- und Luftlinienverkehr, private Versicherungen u.a.), die wir inzwischen in Form von Produktvielfalt und preisgünstigen Angeboten genießen können. Zweitens, die Einführung einer Pflegepflichtversicherung für alle im Jahre 1995, um die sich abzeichnenden steigenden Pflegekosten für alternde Menschen finanzierbar zu halten und die Kommunen vor unbeherrschbaren Sozialhilfebelastungen zu bewahren. Und drittens die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 als ersten Schritt zur Deutschen Einheit, die am 3. Oktober jenes Jahres vollzogen wurde.
Auf der europäischen Ebene war Kohls Mitwirkung ebenfalls in drei wesentlichen Bereichen der Wirtschaftspolitik maßgeblich: Erstens bei der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes mit einer möglichst weitgehenden Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und einem freien Kapitalverkehr. Zweitens bei den Erweiterungen der Europäischen Union nach Süden (Portugal und Spanien, 1986) und Norden (Österreich, Schweden und Finnland, 1995) auf dann 15 Mitgliedstaaten sowie beim Luxemburger Beschluss Ende 1997 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit mehreren mittel- und osteuropäischen Staaten, wodurch die Gemeinschaft nicht nur größer, sondern vor allem auch wirtschaftlich viel heterogener wurde. Und drittens führte Kohl (zusammen mit Präsident Mitterand) Regie beim Maastricht-Vertrag vom Februar 1992 zur Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, die uns den Euro als Ersatz für die D-Mark beschert hat.
Kohl war nicht Ökonom. Bei allem Gespür für gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge, das er gleichwohl hatte, galt für ihn stets die Maxime vom Primat der Politik. Er wurde deshalb bei Gesprächen mit uns Wirtschaftswissenschaftlern schon mal ungeduldig, wenn er bei anstehenden wichtigen, aber umstrittenen Entscheidungen gedrängt wurde, die Kosten, Verhaltensanreize und Langfristfolgen ausreichend zu bedenken, und dies womöglich bedeutet hätte, ein politisch gewolltes Vorhaben zu verschieben oder zu modifizieren. Kohl bemühte gerne die Metapher vom „Unterschied zwischen Theorie und Praxis“, wobei natürlich die Praxis das einzig Richtige tat und die Theorie im akademischen Seminar der Universität bestens aufgehoben sei. Dementsprechend zeigt er sich gegenüber der wirtschaftswissenschaftlichen Beratung der Politik häufig recht resistent, angefangen mit jener, die von Gesetzes wegen der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung durchführte. In seinen „Erinnerungen“ hat er diese Haltung an verschiedenen Stellen zum Ausdruck gebracht und begründet.
Dem wirtschaftspolitischen Diskurs zwischen Politik und Wissenschaft möglichst auszuweichen, das war der Sache, um die es ging, nicht immer zuträglich. So zum Beispiel bei der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung nicht. Es gab keinen zwingenden Grund, diese neue Versicherung nach dem in der Gesetzlichen Sozialversicherung traditionellen Umlageverfahren finanzieren zu wollen. Kohl folgte indes solchen Vorstellungen seines langjährigen Bundesarbeits- und Sozialministers und hörte nicht auf jene sachkundigen Ökonomen, die erklären konnten, dass das neue System weniger Demographie anfällig und trotzdem voll leistungsfähig sein würde, wenn man es gleich zu Beginn kapitaldeckt ausgestaltete. Der Bundeskanzler zeigte sich zudem unbeeindruckt von dem Verteilungsargument, dass das Umlageverfahren der als erste anstehenden Gruppe von Leistungsbeziehern insoweit „Einführungsgewinne“ beschere, als vorhandenes Privatvermögen geschont wurde, zugunsten der Erben. Die großen Probleme, die die Soziale Pflegeversicherung mittlerweile bei der Finanzierung und den Leistungen plagen, hätten sich vermeiden lassen.
Bei der Deutschen Einheit – mit dem unbestreitbaren Verdienst Kohls, die Gunst der Stunde beim Schopfe gefasst zu haben – wurden ökonomische Sachzwänge notfalls hintangestellt. Ein besonders heikler Punkt war die Festsetzung des Umstellungskurses der Mark der DDR in die D-Mark bei Löhnen und Gehältern. Angesichts des gewaltigen Produktivitätsrückstands der ostdeutschen Wirtschaft hatte die Deutsche Bundesbank zu einem Satz von 2:1 geraten, viele Ökonomen sogar zu niedrigeren Kursen für die Mark. Kohl aber entschied im Alleingang und wohl aus Sorge über eine ansonsten große Ost-West-Wanderung, die Arbeitnehmerentgelte zum Satz 1:1 umzustellen. Das bedeutete schlagartig eine enorme reale Währungsaufwertung für die ostdeutsche Wirtschaft, die erwartungsgemäß von dieser nicht zu verkraften war und zu einem Zusammenbruch der Exporte führte. Unter  diesen ungünstigen Startbedingungen, zu denen u.a. auch eine aggressive Lohnpolitik der Gewerkschaften zählte, die auf die Leistungskraft der Betriebe keine Rücksicht nahmen, konnte nur eine Massenarbeitslosigkeit ausbrechen. So rückten die von Kohl versprochenen alsbald „blühenden Landschaften“ in Ostdeutschland in weite Ferne.
Bei der Einführung des Euro hat Kohl sich von der Überzeugung leiten lassen, auf diese Weise dem Ziel einer Politischen Union in Europa, das ihm als überzeugten Europäer sehr am Herzen lag, schneller näher zu kommen. Er ließ sich nicht von namhaften Ökonomen beirren, die befürchteten, dass das starke wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle in Europa der Währungsunion schwer zu schaffen machen könnte. Er  vertraute wohl darauf, dass sich die Regierungen an das einander gegebene Versprechen solider Staatsfinanzen halten würden. In den ersten Jahren der Währungsunion konnte er sich bestätigt fühlen. Aber nicht alles, was dann kam, dürfte Kohl gefallen haben. Bestimmt nicht, dass sein Amtsnachfolger als erster (im Einvernehmen mit dem neuen französischen Staatspräsidenten) die Maastricht-Vorgaben für eine solide Haushaltspolitik schlicht missachtete und damit andere Euro-Partner zur Nachahmung ermunterte. Auch nicht, dass der damalige (italienische) Präsident der Europäischen Kommission den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt, den Kohl 1997 auf dem Europäischen Gipfel in Amsterdam zwecks Härtung der Fiskalregeln durchgesetzt hatte, als „stupido“ bezeichnete. Traurig hat ihn vermutlich gestimmt, dass die im Zuge der Staatsschuldenkrise der letzten Jahre geschnürten EU-Rettungspakete Deutschland mit der Bundeskanzlerin zum Buhmann in Südeuropa haben werden lassen. Wie auch immer, Helmut Kohl ist als Antreiber der europäischen Integration ein prominenter Platz auch in der Wirtschaftsgeschichte sicher.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 19. Juni 2017 im Handelsblatt.
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