Blick ins Buch (1)
Einfluss der Top-Einkommensbezieher
Perzentile haben unterschiedliche politische Macht

Ein großer Teil der steigenden Ungleichheit ist auf den Anstieg der Top-Einkommen zurückzuführen. Dies sind die wahren Riesen der Einkommensverteilung, die in den oberen 10%, den oberen 1% und den oberen 0,1% rangieren. Viele der grundlegenden Ursachen der Ungleichheit treffen in ähnlicher Form auch auf die Top-Einkommensbezieher zu. Dennoch nehmen die oberen Perzentile eine Sonderstellung in der Einkommensverteilung ein, welche wir in diesem Kapitel unter die Lupe nehmen wollen.

Wer bezieht Top-Einkommen?

Zunächst sollten wir uns die Frage stellen, wer denn eigentlich Top-Einkommen bezieht. Betrachten wir die globale Einkommensverteilung, so lautet die provokante Antwort auf diese Frage vermutlich schlicht: Sie, liebe Leserinnen und Leser! Die Internetseite „globalrichlist.com“ bietet die Möglichkeit, die eigenen jährlichen Haushaltseinkommen mit der globalen Einkommensverteilung zu vergleichen. Ein Beispiel: Personen, die in Deutschland ein jährliches Netto-Einkommen von 15.000 Euro erzielen, befinden sich in der globalen Einkommensverteilung bereits unter den reichsten 4,68% und rangieren damit unter den reichsten 280 Millionen Menschen der Erde. Ein jährliches Nettoeinkommen von 35.000 Euro verhilft gar bereits zu einem Platz unter den obersten 0,48% bzw. den reichsten 28 Millionen Menschen auf dem Globus.

Sprechen wir über Top-Einkommensbezieher, dann ist in den meisten Fällen jedoch nicht der globale Kontext, sondern vielmehr das nationale Umfeld gemeint. Hier ändert sich das Bild in der Tat drastisch: Um in Deutschland zu den Top-10% zu gehören, so muss ein Jahreseinkommen von ungefähr 70.000 Euro erzielt werden, die Grenze zu den Top-1% liegt bei etwa 150.000 Euro, die Grenze zu den Top-0,5% liegt gar bei 500.000 Euro.

Der Einkommensanteil dieser Top-Gruppe ist bedeutsam und in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Den mit Abstand größten Zuwachs verbuchten dabei die Top-Einkommensbezieher in den USA. So lag der Einkommensanteil der Superreichen in den frühen 1980er Jahren mit rund 8,5% zwar bereits über dem OECD-Schnitt (7,1%), wurde allerdings noch von Deutschland übertroffen (9,6%). In den folgenden Jahrzehnten kam es in den USA jedoch zu einer Verdopplung des Einkommensanteils der Top-1%. Heute, rund 30 Jahre später, ist die Konzentration mit knapp 20% selbst in der Gruppe der entwickelten OECD-Nationen einzigartig: Während der Wert in der OECD aktuell bei 9% liegt, befinden sich Österreich (6,6%), Frankreich (8,4%) und Japan (9,5%) weit unterhalb der US-amerikanischen Verhältnisse. Deutschland rangiert mit 13,6% im oberen Mittelfeld und befindet sich in einer Gruppe mit Mexiko (13,6%) und Israel (13,1%).

Betrachtet man die verschiedenen Ländergruppen etwas genauer, so fällt ein deutliches Muster auf: Vor allem in den angelsächsischen Nationen stiegen die Einkommensanteile der Top-1% seit Beginn der 1980er Jahre stark an (von 7,5% auf 13,5%), während sie in den übrigen OECD-Staaten auf einem mehr oder weniger konstanten Niveau von etwa 8% verharrten. Aus dieser Entwicklung können wir eine wichtige Schlussfolgerung ableiten: Die Parallelen in der Entwicklung der Marktungleichheit zwischen den OECD-Nationen lässt auf einen starken Einfluss globaler Trends schließen. Der asynchrone Anstieg der Einkommensanteile der Top-1% spricht hingegen eher für eine institutionelle Erklärung.

Blicken wir zum Verständnis dieses Arguments zunächst auf die relativ gut entlohnten technischen Berufe. Der „Entgeltatlas“ der Bundesagentur für Arbeit gibt detaillierte Auskunft über die durchschnittlichen Gehälter in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern. Demnach beträgt das durchschnittliche Gehalt eines Absolventen der Wirtschaftsinformatik jährlich zwischen 40.260 Euro und 54.312 Euro, ein Softwareentwickler wird im Schnitt mit zwischen 44.112 Euro und 54.888 Euro entlohnt, während die durchschnittlichen Jahreseinkommen eines Mechatronikers bei zwischen 40.920 Euro und 51.936 Euro liegen. Je nach Regionen und Studienabschluss existieren hierbei zwar starke Schwankungen, unter den Top-10% (75.000 Euro) oder gar den Top-1% (150.000 Euro) findet sich allerdings keiner der Berufe. Damit tragen die in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Ursachen vor allem zu einer Erklärung der Einkommensungleichheit innerhalb der Gruppe der unteren 80% bis 90% bei. Der Teil der Einkommensungleichheit, der in den oberen 10% verwurzelt ist, ist hingegen das Ergebnis unterschiedlicher institutioneller Regelungen.

Warum die Top-Einkommen so stark angestiegen sind

Die institutionelle Stellschraube, welche die Netto-Einkommensanteile der Hocheinkommensbezieher so stark wie keine zweite beeinflusst, ist das Steuersystem. Je progressiver dieses ausgestaltet ist, desto geringer fallen die Einkommen der Superreichen nach Steuern und Transfers aus. Die französischen Ökonomen Thomas Piketty, Emmanuel Saez und Stefanie Stantcheva haben im Jahr 2011 jedoch eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Offenbar sind nicht nur die Netto-Einkommensanteile der oberen 1% mit dem Spitzensteuersatz korreliert, sondern insbesondere und in wesentlich stärkerem Maße auch die Brutto-Einkommensanteile, die wir bislang stets betrachtet haben.

Mit Thomas Piketty wurde einer dieser Ökonomen in der breiten Öffentlichkeit im Jahr 2014 schlagartig bekannt, als dieser sein einflussreiches populärwissenschaftliches Buch „Capital in the 21. Century“ veröffentlichte. Das rund 800 Seiten umfassende Werk fand große Verbreitung auch außerhalb des Fachpublikums und schaffte es sogar in die Bestsellerlisten. Interessant dabei ist, dass das Buch in Wirklichkeit kaum jemand gelesen zu haben scheint: Der Mathematikprofessor Jordan Ellenberg hat auf Basis der frei zugänglichen digitalen Lesezeichen des von Amazon vertriebenen e-Books „Kindle“ die Bücher mit dem geringsten Anteil gelesener Seiten ermittelt. Tatsächlich fand sich die letzte überhaupt von irgendjemandem markierte Stelle auf Seite 26, was lediglich 2,4% der digitalen Ausgabe entspricht. Damit liegt Piketty von allen untersuchten Büchern knapp hinter Stephen Hawkings Bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“ auf dem letzten Platz. Der Rolle Pikettys als „Popstar“ der Ökonomie hat dies keinen Abbruch getan. Wir jedoch bedanken uns herzlich, dass Sie es bis hierher geschafft haben!

Die Entdeckung, die Piketty zusammen mit seinen französischen Kollegen Saez und Stantcheva kurz vor Veröffentlichung seines Buches machte, ist in Abbildung 1 illustriert. Diese zeigt den Zusammenhang zwischen der Veränderung der Einkommensquote der oberen 1% und der Veränderung der Spitzensteuersätze von 1960 bis 2009. In Summe ergibt sich eine relativ stark negative Korrelation der beiden Größen von knapp 50%. Während die Spitzensteuersätze in allen abgetragenen Ländern zwischen 1960 und 2009 reduziert wurden, ist der Rückgang in den USA und Großbritannien besonders stark ausgeprägt. Gleichzeitig hat dort der Anteil der Top-Einkommensbezieher am deutlichsten zugelegt. Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich Spanien, Finnland und Deutschland, in denen sich die Spitzensteuersätze heute noch oder wieder auf ähnlichem Niveau befinden wie im Jahr 1960. In diesen Ländern sind die Zuwächse der Top-1% deutlich geringer.

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– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

Woher kommt diese starke Korrelation? Die Erklärungen dieses Phänomens zeigen uns ganz deutlich, über welche Kanäle die Top-Einkommensbezieher zur Ungleichheit beitragen. Die erste Erklärung argumentiert über die verschiedenen Steuervermeidungsstrategien. Je geringer die Spitzensteuer, desto geringer die Anreize der Bezieher hoher Einkommen, über verschiedene Wege der nationalen Steuer auszuweichen. Das zweite Argument zielt auf die Lohnverhandlung ab. Wenn der Spitzensteuersatz sehr hoch ist, so sind die zusätzlichen Nettoeinkommen aus einer Lohnverhandlung gering. Entsprechend wenig Anreiz besitzen die Bezieher von Top-Einkommen, in Lohnverhandlungen auf einen höheren Lohn zu insistieren. Sinken jedoch die Spitzensteuersätze, so steigt der Anteil jedes zusätzlich erzielten Brutto-Euros, der nach Abzug der Steuern verbleibt. In diesem Fall haben Top-Einkommensbezieher einen großen Anreiz ihre Verhandlungsmacht zu Gunsten von höheren Löhnen auszuspielen.

Die dritte Erklärung argumentiert, dass der Zusammenhang in Abbildung 1 zwar eine Korrelation, nicht aber eine Kausalität widerspiegelt und von einer dritten Variable beeinflusst wird. So kam während der 1980er Jahre sowohl in den USA unter Ronald Reagan, als auch unter Margaret Thatcher in Großbritannien mehr oder weniger zeitgleich zu einer erheblichen Steuerreduktion, die mit einer Vielzahl Deregulierungen einherging. Letztere haben besonders die Bezieher von Top-Einkommen begünstigt.

Doch auch Kapitaleinkommen nehmen eine wichtige Rolle ein. Diese entstehen, wenn Haushalte einen Teil ihrer Einkommen sparen und das so entstandene Vermögen in Form von Dividenden oder Zinsen jährlich wiederkehrende Einkommen abwirft. Die weltweite Sparquote beträgt gegenwärtig 24%, in Deutschland ist der gesparte Anteil leicht höher (27%), in den USA geringer (18%). Im Durchschnitt werden also die wenigsten Haushalte durch Kapitalerträge auf die eigenen Spareinlagen in die Top-1% wandern. Viele Haushalte mögen daher von der vielzitierten „reichen Erbtante aus Übersee“ träumen, die einen unverhofften Geldsegen verspricht. Dass dieses Szenario in der Tat nicht unrealistisch ist, wird deutlich, wenn wir den Anteil der vererbten Vermögen an den Gesamtvermögen betrachten. Dieser ist seit den 1970er Jahren in Europa und den USA stark angestiegen und liegt gegenwärtig bei knapp 60%. Diese Entwicklung legt nahe, dass ein Teil der Topeinkommensbezieher nicht durch Arbeitseinkommen in die Top-1% gewandert ist, sondern dass die Teilnahme in der Spitzengruppe auf Kapitaleinkommen fußt, welche dem Erbe von großen Vermögen entspringen.

Zuletzt kann der in Abbildung 1 dargestellte Zusammenhang auch umgekehrt interpretiert werden. Da die Grafik keine Rückschlüsse auf die Richtung der Kausalität liefert, ist es durchaus denkbar, dass es nicht die geringen Steuern sind, die zu hohen Einkommensanteilen der reichsten 1% führen, sondern dass eine starke Elite politischen Einfluss nimmt und so zu einer Reduktion der Spitzensteuer beiträgt. Die beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler Martin Giles und Benjamin Page  haben im Jahr 2014 insgesamt 1.779 Politikentscheidungen untersucht, die zwischen 1981 und 2002 in den USA verabschiedet wurden. Diese Entscheidungen verglichen die Autoren jeweils mit den Präferenzen der durchschnittlichen Wähler und der Bezieher von Top-Einkommen. Wie sich herausstellte existiert nur ein schwach positiver Zusammenhang zwischen den Präferenzen der Durchschnittswähler und den entsprechenden Politikmaßnahmen. Demgegenüber sind die Präferenzen der ökonomischen Elite stark mit den durchgeführten politischen Handlungen korreliert. Genauer zeigt die Untersuchung, dass die Wahrscheinlichkeit nahe Null liegt, dass eine Maßnahme gegen den Willen der Top-Einkommensbezieher durchgeführt wird. Umgekehrt steigt die Wahrscheinlichkeit zur Durchführung einer Maßnahme stark an, sobald diese eine breite Unterstützung unter den Top-Einkommensbeziehern findet.

Der politische Einfluss der Top-Einkommensbezieher findet sich in ähnlicher Form auch in anderen Ländern. Eine Studie, die von einem der Autoren dieses Buches mitverfasst wurde, untersucht den Einfluss der der Top-1% auf die Generosität des Sozialsystems in einem breiten Ländersample (Gründler und Köllner, 2017). Die Ergebnisse zeigen ganz deutlich, dass die Bezieher von Top-Einkommen – die schlussendlich Nettozahler einer umverteilenden Politik sind – einen signifikant negativen Einfluss auf die nationalen Umverteilungsanstrengungen nehmen. Dieser Effekt ist umso stärker, je weiter wir die Einkommensleiter empor klettern. Das bedeutet, die Top-0,01% üben einen stärkeren Effekt aus, als die Top 0,1%, welche wiederum eine größere politische Macht besitzen, als die Top-1%.

Crony Capitalism und Harry Potter

Das Bestreben, den wirtschaftlichen Erfolg durch die Beziehung zur Politik zu verbessern, wird von Ökonomen als „Crony Capitalism“ bezeichnet, was zu Deutsch meist prägnant als Nepotismus oder schlicht als „Vetternwirtschaft“ übersetzt wird. Die Beispiele in der Realität sind vielfältig und reichen über finanzielle Vergünstigungen, Steuerschlupflöcher, Subventionen bis hin zu Marktzutrittsbarrieren für Konkurrenten und verschiedenen protektionistischen Maßnahmen. Über diese Kanäle führen nepotistische Tendenzen zu einer Erhöhung der Anteile der Top-Einkommensbezieher und steigern die ökonomische Ungleichheit. Langfristig kann derartiges Handeln zu bedenklichen Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Demokratie führen.

Es ist jedoch wichtig, zu betonen, dass selbstredend nicht alle Top-Einkommen schädlich für die Lebensstandards sind. Durch höhere Steuerzahlungen finanzieren die Top-Einkommensbezieher Transferzahlungen an ärmere Familien, durch unternehmerisches Handeln werden Arbeitsplätz geschaffen, welche Wohlfahrt für die privaten Haushalte schafft. Nach den jüngsten Aufstellungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahre 2016 sind 41,5% aller in Deutschland errichteten Steuern von den oberen 10% der Einkommensverteilung gezahlt worden. In einem Versuch, die Top-1% zu verteidigen, stellte der Harvard-Professor Gregory Mankiw folgendes Gedankenexperiment auf: In einer Gesellschaft mit perfekter Gleichverteilung entwickelt ein Mitglied plötzlich ein Produkt, dass alle anderen Mitglieder haben wollen. Dies geschah etwa, als Joanne K. Rowling mit ihrer Harry-Potter-Serie Ende der 1990er Jahre sämtliche Verkaufsrekorde brach. Durch den Kauf der Bücher waren beide Seiten besser gestellt. Die Leser der Harry-Potter-Reihe, weil sie von Joanne K. Rowling in die magische Welt von Hogwarts entführt wurden; Joanne K. Rowling, weil sie durch den Verkauf der Serie ein Privatvermögen von etwa einer Milliarde Dollar und damit auch einen sicheren Platz unter den Top-0,01% der Verteilung in Großbritannien erworben hat. Da in diesem Fall viele Käufer einer Verkäuferin gegenüber stehen, nimmt die Ungleichheit in der Gesellschaft stark zu. Dennoch würden Millionen Leser empört protestieren, würde man der Autorin die Veröffentlichung weiterer Geschichten aus dem Harry-Potter-Universum aus Verteilungsgesichtspunkten untersagen.

Hinweis: Dies ist ein Auszug aus unserem neuen Buch „Ungleichheit, soziale Mobilität und Umverteilung“. Es ist Ende Dezember 2017 bei Kohlhammer erschienen.

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