In seinem Buch „Radio Heimat“ schrieb der Ruhrpott-Romantiker Frank Goosen: „Eine mittelalterliche Garnisonsstadt mit Stadtmauer, Fachwerkhäusern und Fürstenresidenzen schön finden, das kann jeder. Aber auf dem Gasometer in Oberhausen stehen, sich umgucken und sagen: Wat ne geile Gegend!, das muss man wollen.“ Und als Hape Kerkeling das kulturbeflissene Publikum mit seinem berühmt gewordenen „Hurz!“ konfrontierte, war dem Publikum die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, mit der sich jeder bemühte, genial finden zu wollen, was bei Licht betrachtet doch einfach nur lächerlich war.
Als wir 2017 praktisch ganzjährig über Martin Luther aufgeklärt wurden, gab es durchaus auch kritische Stimmen, die es zumindest etwas weit hergeholt fanden, den Jubilar zum Vordenker der Aufklärungsphilosophie zu küren. Von solcherlei Zurückhaltung finden wir im Marx-Jahr 2018 kaum eine Spur. Im Gegenteil: Kein Philosoph, kein Sozialwissenschaftler und erst Recht kein Feuilleton-Redakteur vergisst es, Karl Marx als herausragenden Denker, Philosophen und Ökonomen zu ehren, als Vorreiter der Arbeiterbewegung, des Sozialstaats und was nicht alles; und vor allem natürlich als großen Visionär, der alles und jedes vorhergesehen hat, womit wir uns heute so herumschlagen. Unnötig zu erwähnen, dass Karl Marx uns auch heute noch etwas zu sagen hat, gar aktueller ist denn je. Warum eigentlich? Solche Fragen zu stellen, ist albern, und wer es doch tut, muss sich wie ein Vater-Unser-Verweigerer in der Osternachtsmesse fühlen.
Dass Marx eine Spur der Gewalt mit zig-millionen Opfern hinter sich hergezogen hat, schrumpft vor dem Hintergrund seiner epochalen Leistungen zum Detail, dessen Erwähnung von kleinlichem Geist zeugt. Ungewöhnlich ist das freilich nicht bei den bedeutenden Figuren der Geschichte. Und in der Tat wird nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass man Marx ähnlich wie Luther nicht für die in seinem Namen geschehene Gewalt in die Verantwortung nehmen könne. Denn natürlich wissen wir nichts darüber, wie die Geschichte ohne ihn verlaufen wäre. Was hätten Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot und all die anderen getan, wenn sie die Legitimation der Marx’schen Lehre nicht gehabt hätten? Wer hätte was an deren Stelle getan, wenn sie bedeutungslos geblieben wären? Hätte es die Nazis ohne die Marxisten gegeben und hätten sie es an die Macht geschafft? Und wenn nicht sie, wer dann sonst und mit welchem Ergebnis? Das alles wissen wir nicht.
Umgekehrt ist es eine Tatsache, dass Karl Marx die Arbeiterbewegung mit dem Begriff des „wissenschaftlichen Sozialismus“ gekapert hat, und so verwundert es fast, dass der Deutsche Marketing Verband sich zum Marx-Jahr noch nicht geäußert hat, wo er doch jedes Jahr die beste Marketingleistung auszeichnet. Neben dieser vom Marketing Verband bisher noch nicht gewürdigten Leistung hat Marx den Sozialisten aber noch etwas Anderes beschert: eine umfassende Theorie nämlich, und die wirkt bis heute nach. Eigentlich waren es zwei Theorien, eine geschichtsphilosophische und eine ökonomische. Dass sich heute fast jeder Intellektuelle beeilt, diese Theorien zu preisen, kann man am besten mit Frank Goosen erklären: Man muss es wollen! Dass man es will, steht indes fest, und das Schöne daran ist, dass man schon lange kein Sozialist mehr sein muss, um es zu wollen. Im Gegenteil: Wer immer was auf sich hält, glaubt an Marx etwas Bedeutendes finden zu müssen, was immer das sei. Und sei es nur, dass er angesichts der vielfältigen Ungerechtigkeiten in der Welt „ja schon irgendwie Recht gehabt hat.“ Wenn man jetzt noch etwas konkreter wüsste, womit er „irgendwie Recht“ gehabt haben soll. Damit, dass die Welt immer schon und auch heute noch ganz schön ungerecht ist? Darauf wäre vor und nach Marx gewiss sonst niemand gekommen.
Deutlich konkreter sind dann doch die echten Sozialisten und Kommunisten geworden, denn sie alle leiten ihre Haltung heute einigermaßen konsistent aus dem Marx’schen Gedankengebäude ab. Bei ihnen fällt allerdings auf, dass sie es immer nur daraus ableiten und nie aus etwas Anderem. Dabei ist das gar nicht so selbstverständlich. Es ist sogar bezeichnend, dass es heute schon fast befremdlich klingt, wenn jemand fragt: Könnte man ein Sozialist oder gar ein Kommunist sein, ohne Marxist zu sein? Und doch lautet die Antwort: Natürlich kann man das! Im 19. Jahrhundert gab es davon viele, mit den unterschiedlichsten ethischen und weltanschaulichen Hintergründen. Sie alle einte die Abscheu gegenüber dem Elend der Arbeiter, deren Lebens- und Arbeitsverhältnissen, gegenüber deren Gesundheitszustand und deren Lebenserwartung, und gegenüber der rücksichtslosen Ausbeutung von Kinderarbeit. Aber mit der Zeit war es irgendwann vorbei mit der Vielfalt der ethischen und weltanschaulichen Hintergründe der Visionen und Konzepte für eine bessere Welt. Übrig blieb nur eine Theorie, jene von Marx, und wer an ihr zweifelte, war fortan ein Spalter, ein verkappter Vertreter kapitalistischer Interessen; oder im besten Falle ein verwirrter Spinner. Und wer seither noch Sozialist sein wollte, oder Freiheitskämpfer, oder was auch immer, der musste immer auch irgendwie Marxist sein.
Heute kann es sich kaum noch ein Intellektueller leisten, Marx und sein Wirken als den einzig bedeutenden Gegenpol zum rüden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts anzuerkennen; als jenen, der die Entwicklung weg vom „Manchester-Kapitalismus“ und hin zum gezähmten Sozialstaats-Kapitalismus initiiert habe. Das erstaunt, wo doch Marx den Kapitalismus weder reformiert sehen wollte, noch ihn für überflüssig hielt; und wo er selbst kaum irgendetwas Konstruktives zu der Frage beigetragen hatte, wie denn eine nachkapitalistische Welt gestaltet werden könnte oder sollte. Kein Marx-Kenner bestreitet das, und doch beugt sich bereitwillig dem Marx’schen Monopol der Kapitalismus-Deutung, wer an der Wahrung seines Images als aufgeschlossener Zeitgenosse interessiert ist. Das ist gewiss ein verständliches Motiv, und wir sind ja alle nur Menschen. Aber dient das auch der Wahrheitsfindung? Der dient doch eher eine Antwort auf diese Frage: Was ist dran an den Leistungen des Karl Marx?
Was die philosophischen Leistungen des Karl Marx angeht, so gehörte er bekanntlich zum Kreis der „Jung-Hegelianer“, die darum bemüht waren, der Hegelschen Geschichtsphilosophie die anbiedernde Rechtfertigung des preußischen Staatswesens zu nehmen. Einem von ihnen gelang der Trick, indem er die Hegelsche Dialektik mit dem Elend der Arbeiterklasse und der aufkeimenden Arbeiterbewegung verband. Das war Karl Marx. Er behauptete nicht weniger, als die Hegelsche Geschichtsphilosophie vom Kopf auf die Füße gestellt und nunmehr endgültig die Bewegungsgesetze der Geschichte entdeckt zu haben. Bei der Würdigung dieser großen Leistung bleibt in der Regel aber unerwähnt, dass kein Wissenschaftstheoretiker heute noch die Begründung dieser Bewegungsgesetze akzeptieren würde, nicht die Hegelschen und nicht die Marx’schen, und zwar aus einem einfachen Grund: Ihnen fehlt jedwede nachprüfbare Fundierung, welche auch nur näherungsweise jenen Standards genügt, die die Wissenschaftstheorie heute an die theoretische Fundierung einer Aussage anlegt. Denn die Fundierung der historischen Bewegungsgesetze besteht einzig aus Sätzen, die ebenso wenig nachprüfbar sind wie die Behauptung der „Pastafarians“ (www.venganza.org), dass die Welt von einem fliegenden Spaghetti-Monster erschaffen worden sei; oder wie die Existenz der Russelschen Teekanne, die dem Bild Bertrand Russels folgend seit jeher um die Sonne kreist, wegen ihrer geringen Größe aber niemals entdeckt werden kann. Man kann deren Existenz ebenso wie jene des fliegenden Spaghetti-Monsters weder belegen noch widerlegen, und das eignet sie zwar für die Begründung einer Sekte, nicht aber für die Gewinnung wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse.
Daher gehören die Bewegungsgesetze der Geschichte von Hegel und Marx ins Reich des Glaubens, aber nicht ins Reich der empirischen Wissenschaft. Dass die Marx’sche Variante dieser Bewegungsgesetze, der historische Materialismus, mitsamt seiner Mega-Prophezeiung über den weiteren Verlauf der Geschichte überhaupt noch einen Hund hinter dem sozialphilosophischen Ofen hervorlockt, kann nur erstaunen – zumal sich diese Prophezeiung auch bei der großzügigsten aller Auslegungen schlicht als falsch erwiesen hat. Weder ist der Untergang des Kapitalismus eingetreten, noch die Verelendung der Arbeiterklasse. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Der Kapitalismus hat sich – sehr zum Unmut der Hardcore-Marxisten – einen Sozialstaat zugelegt, der Lebensstandard in den Industrieländern ist in Atem beraubendem Maße gestiegen, und die Industriearbeiter stehen heute gerade in den entwickelten Ländern überall, nur nicht am unteren Ende der Einkommensskala. Alles das kann man freilich umdeuten und wieder umdeuten, wovon auch reichlich Gebrauch gemacht wurde und wird. Man kann Marx für die Einsicht in die Globalisierung in Anspruch nehmen, in die Umweltprobleme, in die Entwicklungsprobleme und in die politischen Krisen der Welt. Aber die Globalisierung haben andere vor ihm gesehen, die Umweltprobleme hat zu Marx“˜ Zeiten überhaupt niemand gesehen, und die Entwicklungsprobleme wurden erst relevant, nachdem die Arbeiterklasse ganz im Gegensatz zur Marx’schen Prophezeiung reich geworden waren – was schon Lenin schwante, weshalb ihm die Ehre zukommt, der erste große Marx-Umdeuter geworden zu sein. Probleme hat es immer gegeben und wird es immer geben. Welch eine Einsicht! Aber schon wartet man auf den Hinweis auf die prophetische Leistung, nach der Marx schon damals vorhergesehen habe, dass es auch im 21. Jahrhundert noch Probleme geben würde. Hurz!
Man muss Marx zugestehen, dass er sich große Mühe darum gemacht hat, seine geschichtlichen Bewegungsgesetze mit Hilfe einer ökonomischen Theorie des Kapitalismus zu konkretisieren. Darin unterscheidet er sich sogar wohltuend von vielen seiner modernen Nachbeter, die um ökonomische Theorie in der putativen Angst vor der Infektion mit ideologisch unreinen Einsichten stets einen großen Bogen machen – was sie nicht von weitreichenden Einschätzungen in der Sache abhält.
Dummerweise schlug sich die junge ökonomische Wissenschaft zu Marx“˜ Zeiten mit einer Last herum, die ihrem Theoriegebäude an einer entscheidenden Stelle die Konsistenz raubte: Das war die seinerzeit vorherrschende Arbeitswertlehre, die vor allem daran krankte, dass man wertende (normative) Aussagen mit Aussagen über Tatsachen (positive Aussagen) durcheinanderwarf. So wollte man den am Markt gehandelten Gütern partout einen wissenschaftlich objektiv bestimmbaren Wert zuweisen, und der bestand nach einer Idee des Klassikers Adam Smith in der Arbeitsleistung, der es zur Produktion des jeweiligen Gutes bedurft hat. Fortan bestand eine Spannung zwischen diesem vermeintlich objektiv bestimmbaren Wert auf der einen Seite und dem Preis, zu dem die Güter am Markt gehandelt wurden, auf der anderen. Auch und gerade David Ricardo schlug sich bekanntlich mit dem Problem herum, ohne es freilich einer Lösung zuführen zu können.
Erst die subjektive Wertlehre zerschlug den gordischen Knoten, indem deren Vertreter erkannten, dass es müßig ist, einem Gut einen objektiven Wert zumessen zu wollen, wo das Gegenteil des objektiven, nämlich das normative, das „wertende“ schon im Wort enthalten ist. Indem die subjektive Wertlehre anerkannte, dass einem Produkt immer nur das zugeordnet werden kann, was einzelne Menschen diesem Gut an individuell-subjektivem Wert beimessen, löste sich das Problem in Luft auf. Nebenbei legte es die Grundlage dafür, wertende Aussagen von solchen über Fakten sauber zu trennen. Wer einmal an einem Sperrmülltag die betreffende Straße entlanggegangen ist und gesehen hat, was manche so entsorgen, obwohl es doch einmal unter teils erheblichem Arbeitsaufwand produziert worden ist und sich praktisch noch im besten Ausgangszustand befindet, und wer sieht, wie wieder andere sich genau diese Dinge in ihre Autos laden, der bekommt die subjektive Wertlehre eindrucksvoll vor Augen geführt – und damit auch den Unsinn der Arbeitswertlehre.
Aber statt die Arbeitswertlehre in die theoriegeschichtliche Tonne zu treten, wo sie hingehört, und durch etwas Besseres zu ersetzen, tat Marx damit, was er schon mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie getan hatte: Er deutete sie um. Er benutzte sie, um auf ihrer Basis seine Theorie des Mehrwerts zu entwickeln. Denn sie eignete sich zur Begründung der Behauptung, dass Maschinen keine Werte erschaffen könnten. So wurde aus einer normativ-wertenden Aussage – ich bewerte das Gut allein nach der Arbeit, der es zu seiner Produktion bedurft hat – zu einer Behauptung über Fakten – nur Arbeit kann Werte schaffen, Maschinen dagegen nicht. Mit diesem Kniff wurde aus einer Wertung eine (vermeintliche) Tatsache, die allerdings daher kam wie die Russelsche Teekanne oder die Goosensche Schönheit der Gegend um den Oberhausener Gasometer: Sie mutierte von der Wertung zur Tatsache, weil jemand das so wollte. Wenn das nicht göttlich ist! Und so entstand das Dogma, dass keine Maschine und kein Roboter Werte schaffen könne, mögen sie auch ganz autonom Produkte herstellen. Diese steile These brauchte Marx schließlich, um seine Ausbeutungstheorie und im weiteren Verlauf seine berühmte Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate zu begründen. Denn Eingeweihte wissen, dass es dieser Profitratenschwund ist, der dem Kapitalismus am Ende den Garaus macht. Dummerweise zerbröselt auch den beflissensten Marx-Nachbetern die Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate zwischen den Fingern, wenn sie die Kopfgeburt der Arbeitswertlehre aufgeben – und mit ihr zerbröselt nicht weniger als der „zwangsläufige“ Untergang des Kapitalismus. Zu dumm. Also konnte und durfte die Arbeitswertlehre niemals falsch sein.
Deshalb ist die Arbeitswertlehre bis zum heutigen Tag ein zentraler Glaubenssatz der Marxistischen Lehre. Über diesen Glaubenssatz ist jeder Marxist bekenntnispflichtig; und das, wo die Arbeitswertlehre von Adam Smith stammt, der den meisten von ihnen als Gottvater des Kapitalismus gilt, was für echte Dialektiker freilich kein Problem darstellen sollte. Karl Marx behauptete zwar nicht, der Autor der Arbeitswertlehre zu sein. Das tat er ebenso wenig wie er behauptet hatte, der Autor der dialektischen Geschichtsphilosophie zu sein. Aber ebenso wie er schon die dialektische Geschichtsphilosophie richtig gestellt zu haben behauptete, so behauptete er nun dasselbe von der Arbeitswertlehre. Und indem er die beiden korrigierten Versionen zusammenfügte, behauptete er weiterhin, der Autor jenes sozialistischen Konzepts zu sein, das als einziges das Prädikat des „wissenschaftlichen“ für sich in Anspruch nehmen könne. Kein anderes sozialistisches Konzept würde dieses Prädikat fortan mehr tragen dürfen – und tatsächlich hat es niemand gewagt, diese Regel infrage zu stellen.
Wie gesagt, muss man den Begriff des „wissenschaftlichen Sozialismus“ mit Fug und Recht als genial bezeichnen – und die Deutsche Marketing Gesellschaft darauf hinweisen. Aber wenn es eine Machiavelli-Gesellschaft gäbe, so sollte man auch sie informieren: Denn indem Marx alle nicht „wissenschaftlichen“ Entwürfe des Sozialismus oder des Kommunismus und erst Recht alle Ideen eines reformierten Kapitalismus als „naiv“ und „utopisch“ diskreditierte, und indem er die Theorie von der Unentrinnbarkeit der historischen Bewegungsgesetze bis hin zum Kommunismus als unwiderlegbares Grundgesetz der Geschichte konstruierte, war das Marx“˜sche Gebäude mit nichts anderem mehr vereinbar. Fortan konnte man nur noch für oder gegen ihn sein, was gleichbedeutend war mit für oder gegen die „historische Wahrheit“; und wie verrückt müsste einer sein, der gegen die Wahrheit ist? Für oder gegen die historische Wahrheit zu sein, war zudem und praktischerweise gleichbedeutend damit, für oder gegen „das Gute“ schlechthin zu sein. Denn die historische Wahrheit des dialektischen Materialismus ließ ebenso wie die Arbeitswertlehre keinen Unterschied mehr zwischen Wertung und Fakten zu; was wiederum zur Folge hatte, dass absurderweise viele Sozialwissenschaftler sich bis heute weigern, diese beiden Kategorien auseinander zu halten und sich damit wie einst Ricardo selbst auf den Füßen stehen – zu Ehren von Marx allerdings, wie man hinzufügen sollte.
So schufen Marx und die Marxisten das Monopol auf die eine und reine Theorie des Kapitalismus und des Sozialismus – ohne je etwas darüber gesagt zu haben, wie letzterer denn zu gestalten sei. Das änderte nichts daran, dass es sich bald kein Kämpfer für die Arbeiterrechte mehr leisten konnte, an den Bewegungsgesetzen der Geschichte, am tendenziellen Fall der Profitrate und all den anderen Ingredienzen des Marx’schen Theoriegebäudes auch nur irgendwelche Zweifel anzubringen. Wer es dennoch tat, und sei es nur in einzelnen Details, der war nicht nur kein Marxist mehr, sondern er konnte überhaupt kein Sozialist mehr sein, denn das eine war mit dem anderen zu einer Einheit verschmolzen wie die Dreifaltigkeit mit der katholischen Lehre. Und es ging weiter: Denn er konnte nicht einmal mehr ein wahrhaftiger und auch kein guter Mensch mehr sein, weil er sich gleichermaßen der historischen Wahrheit wie der Zuwendung zum Guten verweigerte, was ja dasselbe ist. Davon konnten hunderte von Stasi-Gefängnis-Insassen ein bitteres Liedchen singen; und daher wird man Karl Marx dann doch nicht gar so unschuldig finden können an der mit seiner Theorie gerechtfertigten Gewalt. Einem echten Propheten hätte das jedenfalls klar sein müssen.
Heute ist das ja alles vorbei, und so finden wir nur noch ein paar Absurditäten. Eine davon ist, dass man sich als Marx-Kritiker bis heute kaum irgendwo als Feuilleton-Redakteur oder Moderator eines Kulturmagazins zu bewerben braucht. Denn nirgendwo liebt man den Meister mehr als dort – merkwürdigerweise meist zum Bersten aufgeladen mit emotionalen Empörungsliturgien über die per Annahme immer schlimmer werdenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Das liegt nicht zuletzt daran, dass man sich unter allen Umständen von den ungeliebten Mainstream-Ökonomen abgrenzen muss – und vom verteufelten (Neo)Liberalismus. Sich davon abzugrenzen ist schon deshalb wichtig, weil es dazu berechtigt, jedwede Einsicht in wirtschaftspolitische Grenzen des Machbaren einfach in den Wind zu schlagen. Weil aber die Alternative zum Mainstream einst monopolisiert worden war, kommt man an dem monumentalen ideologischen Monopolanbieter nicht mehr vorbei: an Karl Marx, dessen Thesen zu ehren aus genau diesen Gründen so etwas wie alternativlos ist.
Und damit das alles auch schön sachverständig klingt, kommt nichts so chic und eindrucksvoll daher, wie beziehungsreich die Rückbesinnung auf die Arbeitswertlehre zu fordern, auf dass man zu den „wahren“ Werten zurückfinde und sich abgrenze von den Mainstream-Ökonomen, die einer wirklich genialen Wendung zufolge „den Preis von allem und den Wert von nichts“ kennen; abgesehen freilich von wenigen Lichtgestalten wie Thomas Piketty – dessen Thesen zu verehren in kulturbeflissenen Zirkeln zum Pflichtprogramm gehört; wobei dies glücklicherweise weder erfordert, sie gelesen, noch sie verstanden zu haben – was für Marx gleichermaßen gilt.
So fällt es gar nicht auf, dass Marx“˜ Voraussagen falsch waren, dass sein „wissenschaftlicher Sozialismus“ ausgerechnet wissenschaftstheoretischen Standards nicht standhält und dass sich seine ökonomische Untergangstheorie in Luft auflöst, sobald man ihr den Boden der Arbeitswertlehre entzieht. Und auf die Idee, die Opfer von Stalin, Mao und Konsorten mit Marx in Verbindung zu bringen, kommt schon gleich keiner mehr – oder weist sie empört zurück. Gut, dass sich die Realität stets durch Verweis auf einen tiefen intellektuellen Zugang zur Theorie ersetzen lässt. Denn wer den hat, dem erschließt sich die Genialität des Meisters; und wem sich die Genialität des Meisters erschlossen hat, der hat auch den intellektuellen Zugang zu seiner Theorie. Hurz!
Von all dem werden wir noch einiges zu hören bekommen, denn das Marx-Jahr währt ja noch ein Weilchen. Und wer jetzt denkt, dass der Autor dieses Beitrags doch ganz schon konservativ – oder gar reaktionär – sein muss, wo er doch so respektlos über den großen Visionär schreibt, dem sei mit Frank Goosen gesagt: So einen Schluss zu ziehen, das muss man wollen!
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Endlich ein überfälliger und brillant formulierter Kontrapunkt zu der pseudointellektuellen Unterwerfungsrhetorik, mit der aktuell allen geschichtlichen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz einer gottgleichen Marx-Verehrung auf der Schleimspur entgegengeschwommen wird.
Hurz!
„Indem die subjektive Wertlehre anerkannte, dass einem Produkt immer nur das zugeordnet werden kann, was einzelne Menschen diesem Gut an individuell-subjektivem Wert beimessen …“
Die subjektive Wertlehre ist genauso Unsinn.
Wenn ich 600€ für eine 27qm-Wohnung bezahlen muss und dann auch bezahle, weil ich keine andere Wahlmöglichkeit habe, dann hat das nichts, aber auch gar nichts mit meinen individuell-subjektiven Wert- bzw. Preisvorstellungen zu tun.