Finanz-Theorie-Herden?

Die gegenwärtige Finanzkrise, die hoffentlich ihren Höhepunkt überschritten hat, stellt der Theorie effizienter Märkte anscheinend ein schlechtes Zeugnis aus. Zumindest waren die Finanzmärkte nicht robust gegenüber Herdenverhalten. Irrationale Übertreibungen haben zunächst zu einer übertriebenen Sorglosigkeit und dann einer übertriebenen Scheu gegenüber Risiken beigetragen. Das scheint recht klar und wird allenthalben zum Besten gegeben. Weniger klar ist jedoch, ob wir uns in unserer theoretischen Verarbeitung des Geschehens nicht auch wie eine Art Herde verhalten. Doch sei es drum, hier ein paar weitere Bemerkungen zum Thema, das uns auch in 2010 begleiten wird.

Die Marktherde

Wenn die Herde einmal in Gang kommt, dann können die wenigen nüchternen Marktteilnehmer, die an sich in der Lage wären, Irrationalitäten auszunutzen, dies nicht mehr in hinreichendem Ausmaß tun. Zwar scheinen Übertreibungen in eine Richtung Akteure mit besserem Wissen oder besserem Urteil zu gegenteiligen, die Übertreibungen ausnutzenden Geschäften anzuhalten; aber es scheint nicht immer hinreichend viele hinreichend einflussreiche solcher Akteuren zu geben, um alle Übertreibungen hinreichend zu dämpfen. Blindes Streben und blinde Leichtgläubigkeit, nach David Hume die beiden Haupt-Laster des Menschen überhaupt, können so ihre verhängnisvollen Wirkungen auch auf Finanzmärkten entfalten. Die Risiken sind nicht mehr hinreichend gestreut, sondern übermäßig verbunden und in der Panik haben plötzlich auch alle einen Grund zur Panik – auch diejenigen, die vielleicht ohne die Aufgeregtheit der Herde im wesentlichen das Richtige getan hätten.

Die Theorieherde

Den allgemeinen Optimismus, den Alan Greenspan schon 1996 mit dem Verdikt der „irrational exuberance“ belegte (vgl. auch Shiller 2005), ebenso wie der wilde Pessimismus, der nach dem Platzen der Finanzmarktblase einsetzte, sind anekdotische Belege für das Zutreffen der Diagnose. Die meisten Beobachter des Geschehens der letzten beiden Jahre würden der Diagnose heute in Grundzügen zustimmen. Wenn wir jedoch selbstkritisch sind, so sollten wir uns fragen, ob es nicht auch in der Diagnose des Herdenverhaltens zu einem Herdenverhaltens unter den Beobachtern kommen kann beziehungsweise bereits gekommen ist. Intellektuelle Moden haben Eigenschaften von Herdenverhalten. Häufig werden sie von Ereignissen ausgelöst, die bei näherer Betrachtung keineswegs die tatsächlich zu beobachtenden radikalen Umschwünge in den Überzeugungssystemen der Individuen rechtfertigen würden.

Theorie und Praxis

Am Beispiel der Theorie der effizienten Märkte kann man durchaus Übertreibungen und Herdenverhalten entdecken. Nachdem immer bessere Theorien überzeugend dar- beziehungsweise klargelegt haben, dass es schwer ist, Märkte zu schlagen und nachdem diese Theorien auch empirisch recht gut belegt wurden, entwickelte sich die Auffassung, Märkte seien überhaupt nicht zu schlagen und noch schlimmer, die Marktpreise seien nicht nur eine Summe der besten verfügbaren Informationen, sondern auch kurzfristig Ausdruck zutreffender Bewertungen. Wertvolle und erfolgreiche theoretische Einsichten wurden abgelöst von den vereinfachenden und idealisieren dem Annahmen, die ihnen zu Grunde lagen, dazu herangezogen, um Faustregeln für die Praxis zu entwickeln. Die (nomologischen) Gesetzeshypothesen der zu Grunde liegenden Theorien ließen jedoch gewöhnlich eine weitreichende „technologische“ Uminterpretation und Anwendung nur mit begrenzter Verlässlichkeit zu.

Theoretische Einschränkungen und Warnungen, die anfänglich noch bedacht wurden, gerieten schnell in Vergessenheit. Dafür war der blinde Wunsch, einfache praxisnahe Konzepte an der Hand zu haben, ebenso ausschlaggebend, wie eine gewisse Leichtgläubigkeit, mit der man sich willentlich gegenüber „ablenkender“ Gegenevidenz blind machte. Aus der These, dass die vielfältigen Bewertungen etwa am Aktienmarkt eine Vielzahl von nur dezentral verfügbaren Informationen einbeziehen und daher im Schnitt vermutlich besser liegen als die Einzelurteile der meisten Marktakteure, wurde die These, dass man in jedem Augenblick am Aktienkurs ablesen könne, wie die gesamte Zukunft des Unternehmens (diskontiert) zu bewerten sei. Nähme man diese These ernst, so könnte beispielsweise ein Vorstand niemals rationaler Weise eine Hypothese oder Vermutung über langfristig aussichtsreiche Firmenprojekte verfolgen, wenn es entgegenstehende Marktbewertungen gäbe. Er würde sich ja gegen die beste verfügbare Evidenz wenden und insoweit die Norm verletzen, dass die Rationalität fordert auf der Basis der besten Evidenz vorzugehen.

Wenn auch wenige so weit gegangen sind bzw. gehen würden, die jeweils aktuellen Kurse allein zugrunde zu legen, so würden doch Quartalsverläufe beziehungsweise Quartalsergebnisse durchaus in den Augen vieler sinnvolle Kriterien abgeben. Für ein Unternehmertum, das langfristige Opportunitäten zu erkennen glaubt und dann beharrlich auch gegen abweichende Meinungen darauf gerichtete Strategien verfolgt, ist in diesem Rahmen kein Raum. Das ist nicht nur schlechte Ökonomik, weil es die Dynamik echter Innovationen verkennt, sondern auch schlechte Wissenschaftstheorie. Denn es setzt voraus, dass wir bis zu einem gewissen Grade über Märkte wissen können, was wir einmal wissen werden. Das könne wir jedoch nicht, denn sonst wüssten wir, was wir einmal wissen werden, schon jetzt (vgl. auch Popper 1957)

Wissenschaftler sollten sich diese Aspekte auch bei der Bildung ihrer Theorien vor Augen halten. Die gegenwärtige Anerkennung wissenschaftlicher Theorien ist, sofern die institutionellen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Konkurrenz und Kritik richtig konzipiert sind, gewiss der beste Indikator für die Qualität der Theorien. Das heißt aber gerade nicht, dass diejenigen, die neue wissenschaftliche Theorien erfinden, sich sofort dem Maßstab der Anerkennung durch die anderen Wissenschaftler unterwerfen sollten. Es zählt nicht, wieviel kurzfristige Zustimmung der Wissenschaftler erhält, sondern ob seine Theorien den Test der Zeit überstehen. Wenn also nach der Finanzkrise auch die wissenschaftliche Herde auf einmal in eine andere Richtung trabt, als zuvor, so ist das gewiss beachtenswert. Einiges spricht dafür, dass sich neue Erkenntnisse ausbreiten. Die Anerkennung durch eine Vielzahl voneinander unabhängiger Wissenschaftler, die die Möglichkeit zu unabhängiger Prüfung besitzen, ist ein wesentlicher Maßstab für die Qualität von Theorien. Dennoch ist es verfehlt, diesen Maßstab als allein selig machend in der Suche nach Wahrheit anzunehmen. Der Kernpunkt der Fehlbarkeit auch des allgemeinen Konsenses bleibt immer bestehen.

Es ist gerade das Kennzeichen der Institutionen des Wissenschaftsbetriebes der Moderne, dass in ihm keine Pflicht besteht, sich den Meinungen anderer anzuschließen. Die Tatsache, dass jeder am wissenschaftlichen Diskurs Beteiligte ermächtigt und geradezu dazu aufgefordert ist, abweichende Meinungen zu entwickeln und zu äußern, bildet den Hauptgrund, warum man in wissenschaftlich geprüfte Überzeugungen und Ergebnisse ein besonders hohes Maß an Vertrauen setzen kann. Wir glauben gute Gründe dafür zu haben, dass sich auf lange Sicht gesehen die richtigen Überzeugungen auch gegen entgegenstehende Moden und Herdenanwandlungen durchsetzen werden, weil wir wissen, dass Ehre Ruhm und Anerkennung nach den Normen des Wissenschaftsbetriebes am Ende auf die richtigen Individuen fallen werden. Die freie Konkurrenz des Wissenschaftsbetriebes scheint jedenfalls am Ende recht zuverlässig in der Selektion der angemessenen Theorien gewesen zu sein. Es bedarf aber eines langen Atems (vgl. für Beispiele dafür, wie lang der Atem u.U. sein muss Kliemt 1986 und die dort angegebene Literatur).

Wenn heute das Pendel von einer überzogenen Interpretation der Theorie effizienter Märkte zu einer möglicherweise ebenso überzogenen Kritik der betreffenden Theorien umschwenken könnte, dann sollte man dem mit nachhaltiger Zögerlichkeit entgegentreten. Die Aufrechterhaltung der wissenschaftlichen Kardinal-Tugend, auch von vorherrschenden Meinungen abweichende Überzeugungen zu äußern,  bleibt von größter Bedeutung. Es kommt nicht darauf an, unmittelbar und heute Anerkennung zu erhalten, sondern auf lange Sicht. Damit steht die wissenschaftliche Theorie im gleichen Spannungsverhältnis von kurzfristiger Bewertung und langfristiger Perspektive, wie wir sie auch von Marktprozessen her kennen.

Herdenverhalten ist nach allem, was wir wissen, in unsere Theorien sozialer Prozesse einbezogen werden. Das heißt aber auch, dass wir uns der latenten Selbstanwendung auf unsere eigenen Theorien vom Herdenverhalten und deren wechselnde Popularität bewusst bleiben. Auch hier gibt es „irrational exuberance“. Da sich dieser Theoriewechsel mit allgemeiner politischer Verwaltungsfreude im Rahmen großer Regulierungsprojekte verbindet, wird es Zeit, wider den Stachel zu löcken. Es war keineswegs alles falsch an den Theorien effizienter Märkte, der Risikostreuung etc., wie sie der Entwicklung neuer Finanzierungsinstrumente zugrunde lagen. Betonen wir also, was richtig und gut an den Entwicklungen war (durchaus ausgewogen ist die recht populärwissenschaftliche Kritik an der These von den effizienten Märkten in Fox 2009).

Die Moral von der Gschicht’?

Der biblischen Aufforderung des „ folge nicht der Menge nach, wenn sie Böses tut!“, kann man auch als Nicht-Christ in verschiedensten Varianten etwas abgewinnen. Dem Börsianer können wir in’s Stammbuch schreiben, dass er füglich nicht der Menge nachfolgen möge, wenn sie überzogenen Bewertungen nacheilt. Selbst wenn die Märkte diese Bewertungen zu bestätigen scheinen, können sie doch weit von den „wahren“ Werten abweichen. Das bedeutet nicht, dass man die Märkte ignorieren dürfte; denn das würde typischerweise finanziell bestraft werden. Dem Theoretiker kann man in Stammbuch schreiben, dass er nicht den vorherrschenden intellektuellen Moden folgen solle. Auf der anderen Seite kann er rationaler Weise nicht ignorieren, was seine wissenschaftlichen Mitstreiter für richtig halten. Ein entgegenstehender Konsens ist eine relevante Information, doch ist sie nicht hinreichend, um die eigene Meinung endgültig zu widerlegen. Wer glaubt, „private Information“ zu besitzen, der sollte diese nicht nur aus Eigeninteresse nutzen, sondern er hat aus Sicht des gesellschaftlichen Fortschritts sogar eine gewisse moralische Pflicht, dies zu tun. Der Unternehmensführer, der sich im Besitz privater Information darüber glaubt, was entgegen der überwiegenden Meinung der Märkte die richtige Strategie sei, sollte diese umzusetzen versuchen. Er hat zwar auch die Pflicht, die Gegenseite und die Gegenüberzeugungen ernstzunehmen. Am Ende sind wir aber letztlich darauf angewiesen, unseren eigenen Urteilen zu folgen, obwohl es gänzlich falsch ist, in der eigenen Urteilsbildung die Urteile anderer zu ignorieren.

Literatur
Fox, J., (2009), The myth of the rational market,  New York: Harper Collins Business, ist eine historisch sehr informative und informierte Darstellung der Entwicklung der ökonomischen Theorie von Finanzierungsprozessen und Finanzmärkten. Vielleicht wird sie den einen oder anderen Leser auch dazu anregen, sich mit den zugrunde liegenden Theorien selbst zu befassen.

Im übrigen wurde Bezug genommen auf:

Kliemt, H. (1986), Grundzüge der Wissenschaftstheorie, Stuttgart: Gustav Fischer.
Poper, K. R. (1957), Das Elend des Historizismus. Tübingen: Mohr.
Shiller, R.J., (20052), Irrational Exuberance, Princeton: Princeton University Press.

Hartmut Kliemt
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3 Antworten auf „Finanz-Theorie-Herden?“

  1. Das bedeutet nicht, dass man die Märkte ignorieren dürfte; denn das würde typischerweise finanziell bestraft werden.

    Eben das ist doch der Punkt. Es ist wie Bullenreiten. Jeder weiß, dass der Reiter irgendwann im Staub liegen wird, aber so lange er oben sitzt, ist die Versuchung groß, auf zehn weitere Sekunden zu wetten. Aber das heißt nicht, dass alle glauben, der Typ könne ewig da sitzen bleiben. Man hofft immer nur, dass man nicht selbst der Depp ist, der die erste nicht mehr erfolgreiche Wette abschließt.

  2. @ Rayson
    Ja Bullenreiten ist eine passende Metapher, die auch gut im Bild von der Herde bleibt…

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