Was soll der brave Bürger davon halten, wenn sein Finanzminister, ein hochrangiger Vertreter des Staates, prüfen lässt, ob er ihn vor den Handlungen eines anderen staatlichen Organs, der Zentralbank, schützen kann. Denn genau darauf läuft das vom bayerischen Ministerpräsidenten Söder geforderte Verbot von Negativzinsen für die Einlagen bei den Banken (bis zu einer gewissen Größenordnung) hinaus, dessen Realisierungschancen jetzt im Finanzministerium geprüft werden.
In der öffentlichen Debatte überwiegt die Ablehnung, die wir prinzipiell teilen. Ein solches Verbot stelle einen Eingriff in die privatrechtliche Vertragsfreiheit dar und überhaupt, dies wäre ein massiver Markteingriff und sei damit tabu, hört man von einigen, die plötzlich ihr ordoliberales Gewissen wiederentdecken. Die betroffene Bevölkerung dürfte dies wahrscheinlich anders sehen. Zudem dürften sich die Bürger wohl die Frage stellen, inwieweit es sich noch um einen funktionierenden Markt handelt, wenn ein Akteur das Angebot sowohl mengenmäßig (durch eine Verdreieinhalbfachung der Bilanz) als auch preismäßig (durch die Einführung negativer Einlagenzinsen) absolut dominiert und damit den Markt aus den Angeln gehoben hat. Auch der in ökonomischen Dingen weniger versierte Bürger dürfte sich fragen, wie es denn sein kann, dass er für seinen ihm durch Evolution und Sozialisierung in die Wiege gelegten – Drang zur Zukunftsvorsorge, der bis dato einen hohen moralischen Wert besaß, nunmehr eine Strafsteuer aufgebrummt bekommt. Denn nichts anderes ist der negative Zins.
Aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass eine derartige kognitive Dissonanz unser Selbstkonzept gefährdet und unseren Selbstwert bedroht, aber auch, dass der dann einsetzende Versuch der Dissonanzreduktion häufig zu Wahrnehmungs- und Denkfehlern führt. Dabei kann es zur Resignation kommen, man findet sich einfach mit der neuen Situation ab und versucht, das Beste daraus zu machen – eine Reaktion, die am Finanzmarkt mit seinem eher kurzfristigen Herdenverhalten vorzuherrschen scheint. Beim Bürger scheint dagegen – wie eine neue ForsaUmfrage erneut zeigt, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen immer mehr zu schwinden. Dies hat sicherlich auch noch andere Gründe. Aber man darf sich fragen, wie sich das Verhalten der Bürger generell ändern könnte, wenn ihm an dem Markt, wo Zukunft bewertet wird, signalisiert wird, dass sich eine Zukunftsorientierung – zumindest in Form von Ersparnisbildung – nicht mehr auszahlt. Der verunsicherte und nach Orientierung suchende Bürger könnte sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs noch mehr zurückziehen oder sich von den etablierten Parteien abwenden und sein Glück bei solchen suchen, die mit einfachen Erklärungen und Lösungen locken und vielleicht seine Vorurteile bedienen.
Der Historiker Yuval Noah Harari beschreibt in seinem Buch Sapiens, dass die moderne Gesellschaft erst durch den kollektiven Glauben an eine bessere Zukunft ermöglicht wurde. Dieser Glaube ermöglichte Unternehmern kreditfinanzierte Investitionen in der Gegenwart zu tätigen, die sich erst in der Zukunft auszahlen würden. Der Kredit kommt von den Sparern und Banken, die darauf vertrauten, dass ein Mehr an zukünftigen Ressourcen die Rückzahlung ermöglichte. Er beschreibt einen Tugendkreislauf, in dem Vertrauen in die Zukunft mehr Kredit ermöglicht, der wiederum zu mehr Wachstum führt und damit das Vertrauen stärkt. Dies Mehr an Wachstum erklärt die positiven Zinsen. Mit einem negativen Zinssatz könnte sich dieser Tugendkreislauf in einen Teufelskreislauf verwandeln. Die Sorge, dass mit dem Verschwinden des positiven Zinses auch das Vertrauen in die Zukunft zunehmend Schaden nimmt, ist daher nicht von der Hand zu weisen.
…und ja, man kann mir unterstellen, dass ich als BankenVolkswirt (auch) im Sinne meines Arbeitgebers argumentiere. Schließlich müssen die deutschen Banken allein aufgrund des negativen Einlagenzinssatzes von -0,4% der EZB jährlich rund 2,3 Mrd. Euro überweisen.
Blog-Beiträge zum Thema:
Leonhard Knoll: Noch weniger als weniger als nichts … Noch stärkere Negativzinsen und die deutschen Geschäftsbanken
- Gastbeitrag
Nehmen die Inflationsrisiken in Deutschland zu?
Oder machen wir uns wieder einmal umsonst verrückt? - 7. August 2021 - Gastbeitrag
Die COVID-19-Pandemie
Wahrnehmung, Verwirrung und Verschwörungstheorien - 3. Januar 2021 - Gastbeitrag
Sind wir auf dem Weg in den Staatskapitalismus? - 29. April 2020
Ganz unabhängig davon, ob „die moderne Gesellschaft erst durch den kollektiven Glauben an eine bessere Zukunft ermöglicht wurde“, wird ihr Überleben sicher nicht durch den Glauben von Kollektivorganen gefördert, das Preissystem straflos außer Kraft setzen zu können.
Aber wie ist das eigentlich: Wenn das private Kreditangebot bei einem Zinssatz von Null größer ist als die private Kreditnachfrage, dann ist der natürliche Zinsssatz doch gleich Null, oder? Eigentlich müsste dann die Fiskalpolitik die resultierende Nachfragelücke schließen, indem sie mehr Kredite nachfragt und damit Investitionen finanziert.
Wenn die Fiskalpolitik dies aber nicht tut, dann hat eine Notenbank, die ein bestimmtes Inflationsziel verfolgt, schlechte Karten. Sie muss dann versuchen, den Zinssatz unter Null zu drücken, um die Nachfragelücke zu reduzieren. Damit macht sie sich natürlich nicht sehr beliebt… Besser wäre es, die Fiskalpolitik würde funktionieren!
Der Analyse im ersten Absatz von Herr Degenhardts Beitrag kann ich voll zustimmen. Jedoch nicht ganz der Schlussfolgerung wonach die Fiskalpolitik durch Kreditnachfrage dafür sorgen soll, dass der Zins größer Null ist . Meiner Ansicht nach spricht nichts Grundsätzliches gegen niedrige oder negative Zinsen. Je niedriger der Zins desto rentabler werden Investitionen. Das gilt für staatliche genauso wie für private. Der Staat soll dann Geld ausgeben bzw. investieren, wenn der dadurch erwartete Nutzen die Kosten übersteigt. Genauso soll er Steuern und Transfers im Hinblick auf die damit beabsichtigen eher langfristigen Ziele festlegen. Ein bestimmter Zinssatz ist nie ein „Staatsziel“ an sich. Wenn der Zins null oder negativ ist, dann kann das ein Marktergebnis sein.
Könnte der niedrige Zins vielleicht daran liegen, dass die Zentralbanken und andere staatliche Stellen fast 50% der ausstehenden Bundesanleihen halten?