Blick in die Glaskugel
Wie geht es weiter mit dem Brexit?
2. Update: War’s das für Boris Johnson? (5. September 2019)

„I don’t think Brexit is going to help people in Britain.“ (Angus Deaton)

Brexit, Brexit und keine Ende. Die Europäische Union und das Vereinigte Königreich kommen nicht voneinander los. Beide haben zwar einen „Scheidungsvertrag“ ausgehandelt. Das Vereinigte Königreich schafft es aber nicht, ihn zu ratifizieren. Im britischen Unterhaus ist er drei Mal durchgefallen. Auf Bitten der Briten wurde der reguläre Austrittstermin aus der Europäischen Union erst auf den 12. April 2019, dann auf den 31. Oktober 2019 verschoben. Nun gilt es also an Halloween, immer vorausgesetzt, das Vereinigte Königreich sucht nicht wieder um eine Verlängerung nach und die Europäische Union gibt diesem Ersuchen statt, was Emmanuel Macron weiter strikt ablehnt. Boris Johnson, der neue Premierminister hat diese Möglichkeit der nochmaligen Verlängerung allerdings kategorisch ausgeschlossen. Er hat versprochen, das Vereinigte Königreich zum 1. November 2019 aus der Europäischen Union zu führen, mit oder ohne Vertrag („do or die“). Auf den ersten Blick ist nicht klar, ob die Drohung mit einem „no deal“ nur Verhandlungstaktik oder bitterer Ernst ist. Schließlich will Boris Johnson die Europäische Union in Nachverhandlungen zu einem für das Vereinigte Königreich günstigeren Deal führen. Die Zeiten haben sich unter Boris Johnson geändert. Vieles deutet darauf hin, dass es zu einem ungeordneten Brexit kommt.

Was ist bisher passiert?

Das Drama um den Brexit dauert schon über zwei Jahre an. In harten Verhandlungen haben sich die Europäische Union und das Vereinigte Königreich auf einen „Scheidungsvertrag“ geeinigt. Dort sind die wesentlichen Punkte festgelegt, wie man sich mit der gemeinsamen Vergangenheit auseinandersetzt. Ein wichtiger Punkt sind die Zahlungen des Vereinigten Königreiches an die Europäische Union. Geregelt wurde auch, wie man in einer zweijährigen Übergangszeit bis zur endgültigen Klärung der gegenseitigen Beziehungen miteinander umgehen will. In diesen zwei Jahren will man in einem Handelsvertrag festlegen, wie die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union aussehen sollen. Dieser ausverhandelte „Scheidungsvertrag“ fand im britischen Unterhaus auch nach dreimaliger Vorlage und vielen prozessualen Winkelzüge keine Mehrheit. Da halfen auch die politischen Erklärungen zum Vertrag nicht, die von Theresa May und der EU-Kommission nachgeschoben wurden. In den vielen Abstimmungen im Unterhaus gab es allerdings für einen Punkt eine Mehrheit: Die Parlamentarier sind sich über Parteigrenzen hinweg einig, sie wollen einen Brexit, aber keinen „ungeordneten“.

Die Parlamentarier des Unterhauses können sich nicht entscheiden. Sie wollen zwar raus aus der Europäischen Union, sind aber in einem typischen Trilemma gefangen (hier). Von den drei Zielen – politische Integrität des Vereinigten Königreiches, keine Grenze auf der irischen Insel und eine eigenständige nationale Handelspolitik – können sie nicht alle gleichzeitig verwirklichen. Zumindest auf eines müssen sie verzichten. In den Scheidungsverhandlungen haben das Vereinigte Königreich und die Europäische Union festgelegt, dass es zwischen Nordirland und Irland auch künftig keine Grenze geben darf, komme was wolle. Damit sind in den künftigen Verhandlungen von UK und EU die handelspolitischen Optionen begrenzt. Freihandelsabkommen sind nicht mehr möglich. Es bleiben nur Varianten einer Zollunion oder ein „Binnenmarkt 2.0“ mit der Europäischen Union. Damit ist die künftige handelspolitische Souveränität, auf die Brexiteers so viel Wert legen, für das Vereinigte Königreich verloren. Der „Scheidungsvertrag“ hält das Vereinigte Königreich solange im europäischen Binnenmarkt, wie eine handelspolitische Vereinbarung ohne inner-irische Grenze nicht gefunden wird. Gegen diesen irischen Backstop laufen die Brexiteers heftig Sturm.

Hätte, hätte, Fahrradkette

Die Europäische Union nimmt den erbitterten Widerstand der Brexiteers gegen den irischen Backstop bis heute nicht ernst. Das verwundert. Er war in den Abstimmungen im britischen Unterhaus das Zünglein an der Waage. Mit einem Entgegenkommen hätte es Theresa May wohl geschafft, den „Scheidungsvertrag“ über die parlamentarischen Hürden zu hieven. Das gelang nicht, weil die Europäische Union sich stur stellt(e) und Nachverhandlungen zum „Scheidungsvertrag“ strikt ablehnt(e). Das war und ist ein schwerer Fehler. Damit hat sie geholfen, Theresa May zu stürzen und den Boden für Boris Johnson und einen „no deal“ zu bereiten. Kommt es tatsächlich zu einem ungeordneten Brexit, bricht das Irland-Problem sofort auf. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union fallen auf die minimalen Standards der WTO zurück. Damit entfallen die Regeln des europäischen Binnenmarktes zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union. Die irische Insel wird handelspolitisch wieder geteilt. Das ist weder im Interesse von Irland noch der Europäischen Union. Allerdings trifft es wirtschaftlich das Vereinigte Königreich noch härter. Das ist aber nur ein schwacher Trost.

Dabei wäre es möglich gewesen, dem Vereinigten Königreich beim irischen Backstop entgegenzukommen. Das gilt auch heute noch. Eine formal zeitliche Begrenzung des Backstops, ein unilaterales Kündigungsrecht des Vereinigten Königreichs und eine faktisch lange Übergangszeit für die endgültige Lösung der irischen Frage, wäre ein solcher Kompromiss. Solche windigen Vereinbarungen sind eigentlich das Metier, das die Europäische Union ansonsten virtuos beherrscht. Das würde dem Vereinigten Königreich mehr Spielraum in handelspolitischen Fragen gegenüber der EU und auch Drittländern geben und mögliche Kontrollen an der inner-irischen Grenzen weiter in die (ferne) Zukunft verschieben. Eine solche eher „kosmetische“ Änderung im „Scheidungsvertrag“ hätte wohl zu Theresa May’s Zeiten ausgereicht, im Unterhaus eine Mehrheit für einen „neuen“ Deal zu bekommen. Ob dies unter Boris Johnson auch noch möglich wäre, erscheint eher zweifelhaft. Die Hardcore-Brexiteers werden einem solchen Deal wohl weiterhin nicht zustimmen. Sie schreckt auch ein „harter“, ungeordneter Brext weiter nicht. Allerdings wäre die Zustimmung zu einem solchen Deal unter vielen pro-europäischen Abgeordneten bei Labour und den Tories größer als je zuvor. Sie würden inzwischen wohl fast jedes Abkommen unterstützen, nur um den Albtraum eines „no deal“ zu vermeiden.

Was passiert gerade in Großbritannien?

Mit „kosmetischen“ Änderungen im „Scheidungsvertrag“ hätte man vielleicht zu Theresa May’s Zeiten eine Mehrheit im Unterhaus organisieren können. Aber die Europäische Union hat sich erst gar nicht auf Nachverhandlungen eingelassen. Die Diskussion darüber ist allerdings müßig: Hätte, hätte, Fahrradkette. Ob dieser Weg in Zeiten eines Boris Johnson erfolgreich sein könnte, scheint eher fraglich. Das gilt selbst dann, wenn die Europäische Union ihre sture Haltung aufgäbe und nachverhandelte. Der neue britische Premierminister hat aber möglicherweise gar kein Interesse mehr an einem geordneten Brexit. Ein „no deal“ könnte für ihn und seine Partei, die Tories, politisch ertragreicher sein. Das Kalkül von Boris Johnson ist einfach, wie Peter Rásonyi von der NZZ vor kurzem überzeugend dargelegt hat (hier). Wenn er nicht der Premierminister mit der kürzesten Amtszeit werden will, braucht er auch künftig eine parlamentarische Mehrheit für die Tories. Gegenwärtig bringen es die Konservativen in Umfragen nur auf knapp 30 %. Gelänge es ihm allerdings, die Wähler der Brexit-Partei von Nigel Farage, die bei 15 % liegen, auf seine Seite zu ziehen, könnten die Tories im britischen Wahlsystem bei Neuwahlen mit 45 % eine absolute Mehrheit erreichen.

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Ein Mittel, um längerfristig Premierminister zu bleiben, ist ein Brexit um (fast) jeden Preis. Boris Johnson muss politisch alles auf eine Karte setzen. Er hat nichts zu verlieren. Ein „no deal“ wäre wohl geeignet, diesem Ziel näher zu kommen. Der feste Stamm der konservativen Wähler, die Hardcore-Brexiteers in allen Parteien und die Wähler der Ein-Thema-Partei von Nigel Farage würden für eine Mehrheit ausreichen. Mit einem „harten“ Brexit würde Boris Johnson die Brexit-Partei politisch auslöschen. Dieses Ziel würde er mit einem „weichen“ Brexit nicht erreichen. Er ist deshalb eher nicht an (erfolgreichen) Nachverhandlungen mit der Europäischen Union interessiert. Der vorliegende „Scheidungsvertrag“ dürfte deshalb tot sein. Nach einem „erfolgreichen“ ungeordneten Brexit wird er auf Neuwahlen setzen. Und die Tories werden sie wohl gewinnen, auch dank des sozialistischen und bisweilen anti-semitisch agierenden Jeremy Corbyn. Boris Johnson hat allerdings ein Problem: Das jetzige Parlament. Es ist mehrheitlich gegen einen „no deal“. Deshalb gilt es für den Premierminister, es bis zum 31. Oktober 2019 auszuschalten (hier). Die Uneinigkeit der Opposition, die Unbeliebtheit von Jeremy Corbyn, das enge zeitliche Fenster für die wirksame Gegenwehr des Parlamentes und parlamentarische Winkelzüge, wie sie dem britischen System zuhauf eigen sind, könnten ihm dabei helfen.

Lässt sich Boris Johnson noch aufhalten?

Die Europäische Union hat vielleicht doch noch eine Möglichkeit, die (partei)politisch motivierten Brexit-Pläne von Boris Johnson zu durchkreuzen. Ulrich Stolzenburg und Gabriel Felbermayr, zwei Ökonomen vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel, haben vorgeschlagen, die Europäische Union solle dem Vereinigten Königreich ein einseitiges Recht der Kündigung des irischen Backstop einräumen (hier). Die Kündigungsfrist solle zwei Jahre betragen. Stimmt das britische Unterhaus und die Europäische Union einer solchen Änderung des „Scheidungsvertrages“ zu, würde der um das einseitige Kündigungsrecht des Vereinigten Königreichs ergänzte Vertrag zum 1. November 2019 in Kraft treten. Wie vorgesehen könnten die Europäische Union und das Vereinigte Königreich die im „Scheidungsvertrag“ vorgesehene Übergangsphase bis Ende 2020 nutzen, um über den eigentlich relevanten „Handelsvertrag“ zu verhandeln, der die künftigen Beziehungen der Europäischen Union und des Vereinigten Königreichs regeln soll. Eine harte inner-irische Grenze würde in die Zukunft verschoben. Einigt man sich bis zum Jahresende 2020 nicht, könnten die Briten die irische Auffanglösung kündigen. Im dümmsten Fall käme es also frühestens im Jahre 2023 zu einer „harten“ handelspolitischen Grenze zwischen Nordirland und Irland.

Bis dahin kann aber noch viel passieren. Vielleicht führt die politische Dynamik zu einem Exit vom Brexit; vielleicht gibt es neue technische Möglichkeiten, die handelspolitische Grenze ins Hinterland zu verlegen; vielleicht scheidet Nordirland aus dem Vereinigten Königreich aus und vereinigt sich mit Irland. Auf alle Fälle hätte man Zeit gewonnen. Die „harte“ inner-irische Grenze würde in die (fernere) Zukunft verschoben. Ein unilaterales Kündigungsrecht des Vereinigten Königreichs für den irischen Backstop würde möglicherweise das Abstimmungsverhalten im britischen Unterhaus ändern. Die berechtigte Angst der Briten, das Vereinigte Königreich würde mit dem ausgehandelten „Scheidungsvertrag“ zu einem handelspolitischen Vasallen der Europäischen Union, würde zumindest entgegengewirkt. Auch wenn man damit die Hardcore-Brexiteers wohl nicht besänftigen würde, die Zustimmung aus den oppositionellen Parteien und Gruppierungen würde sicher zunehmen. Ob das reichen würde, bleibt allerdings abzuwarten, wohl eher nicht. Und noch eines ist unsicher. Einer solchen Vertragsänderung müsste die Europäische Union zustimmen. Während es Angela Merkel wohl verstanden hat, sind die Töne aus Paris nach wie vor ganz und gar unversöhnlich.

Fazit

Der Brexit ist im britischen Unterhaus ausgemachte Sache. Es geht schon lange nicht mehr um das „ob“, sondern nur noch um das „wie“. Ein „weicher“ Brexit scheiterte unter Theresa May an der sturen Haltung der Europäischen Union. Vielleicht hätten ein paar „kosmetische“ Änderungen am „Scheidungsvertrag“ für eine Mehrheit im Unterhaus gesorgt. Aber das war gestern. Heute ist Boris Johnson der Premierminister. Es gelten andere Regeln. Er überlebt politisch eher, wenn er auf einen „harten“ Brexit setzt. Es spricht einiges dafür, dass er an erfolgreichen Nachverhandlungen mit der Europäischen Union nicht interessiert ist, die EU allerdings auch nicht, wie die Besuche von Boris Johnson in Berlin und Paris zeigen. Er baut den irischen Backstop zu einer unüberwindbaren Hürde auf. Scheitern Nachverhandlungen, kommt es zum ungeordneten Brexit. In den Neuwahlen unmittelbar danach will Boris Johnson die politische Ernte einfahren. Das Kalkül ist waghalsig aber die einzige Chance für ihn, politisch zu überleben. Es geht aber nur auf, wenn das Unterhaus und die Europäische Union ihm keinen Strich durch die Rechnung machen. Die ersten dilettantischen Versuche von Jeremy Corbyn sprechen dagegen. Auch die nach wie vor sture Haltung der Europäischen Union lässt gegenwärtig wenig Hoffnung aufkommen. Das alles sind Spekulationen. Sollten sie eintreffen, kommen schwere Zeiten auf das Vereinigte Königreich und die Europäische Union zu.

1. Update: Boris Johnson macht Ernst (28. August 2019)

Nun ist die Katze aus dem Sack. Boris Johnson scheint alle Register zu ziehen, das Vereinigte Königreich zum 31. Oktober aus der EU zu führen, wie von ihm versprochen. Er hat Königin Elisabeth II gebeten, das britische Parlament ab dem 10. September bis zum 14. Oktober nicht mehr tagen zu lassen. Die Königin hat der Bitte entsprochen. Damit reagiert Johnson auf den Vorstoß der Opposition tags zuvor, gemeinsam mit einigen konservativen Abgeordneten ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das einen „ungeordneten“ Brexit verhindern soll. Gelingt dieser parlamentarische Schachzug, wird die Zeit bis zum 31. Oktober knapp, per Gesetz einen „no deal“ noch zu verhindern. Sie haben nach der Sommerpause nur noch wenige Tage bis zur neuerlichen Plenarpause und die zwei Wochen im Oktober bis zum vereinbarten Austritt des Vereinigten Königreiches am 31. Oktober.

Bleibt es dabei, das Parlament zeitweilig zu beurlauben, haben die Gegner eines „No deal-Brexit“ nur noch den Weg über ein Misstrauensvotum. Haben sie Erfolg, müssen sie innerhalb von 14 Tagen einen neuen Premierminister wählen. Gelingt das nicht, kommt es zu Neuwahlen. Haben sie vor der geplanten Plenarpause keinen Erfolg, weil sie nicht genügend Stimmen für das Misstrauensvotum zusammenbringen, ist dieser Weg versperrt. Schaffen sie eine Mehrheit der Stimmen, müssen sie sich auf einen neuen Premierminister verständigen. Scheitern sie, wird das Parlament aufgelöst, es kommt zu Neuwahlen. Der Zeitpunkt der Neuwahlen wird vom Premierminister festgelegt, spätestens 25 Tage nach Auflösung des Parlamentes. Die „No deal-Opponenten“ haben eigentlich nur noch bis zum 9. September wirklich Zeit, Boris Johnson als Premierminister abzulösen. Gelingt das nicht, liegt das Heft des Handelns bei Johnson.

Damit hat es Boris Johnson in der Hand, ob der Brexit geordnet oder ungeordnet erfolgt. Er kann jederzeit zwischen dem 14. Oktober und dem 31. Oktober dem Parlament einen neuen Brexit-Deal zur Abstimmung vorlegen. Vor allem aber hätte sich seine Verhandlungsposition gegenüber der Europäischen Union verändert. Kommt sie ihm nicht entgegen, indem sie auf den irischen Backstop in der gegenwärtigen Form besteht, kann Boris Johnson den „Scheidungsvertrag“ durch Zeitablauf endgültig verschrotten. Bewegt sich die Europäische Union bei der irischen Auffanglösung, könnte er den neuen Deal dem Parlament noch vor dem 31. Oktober zur Abstimmung vorlegen. Seine politische Interessenlage hat allerdings einen Bias. In möglichen künftigen Neuwahlen stünden seine Chancen wohl besser, wenn er auf einen „No Deal-Brexit“ setzte. Er wäre wohl die Konkurrenz der Brexit-Partei von Nigel Farage los.

2. Update: War’s das für Boris Johnson? (5. September 2019)

Der Versuch von Boris Johnson, den Handlungsspielraum in den Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union mit einer glaubwürdigen „no deal-Variante“ zu erweitern, ist im britischen Parlament krachend gescheitert. Die Parlamentarier des Unterhauses haben sich eindeutig dafür entschieden, ein Gesetz zu verabschieden, das einen „no deal“ ausschließt. Der Premierminister wird verpflichtet, bei der Europäischen Union um eine weitere Verlängerung bis zum 31. Januar 2020 nachzusuchen. Um sicher zu gehen, dass die Regierung keine weiteren taktischen Spielchen spielt, hat der Antrag von Boris Johnson, das Parlament aufzulösen und am 15. Oktober neu wählen zu lassen, (vorerst) nicht die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit erhalten. Die amtierende Regierung hat sich nach einigem Zögern entschlossen, das Oberhaus nicht als taktische zeitliche Bremse zu missbrauchen. Wenn nichts mehr dazwischen kommt, wird das Gesetz am Montag vor den erzwungenen Parlamentsferien in Kraft treten können, nachdem es von Königin Elisabeth II unterzeichnet worden ist.

Ein vertragsloser Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ist damit (vorerst) wieder einmal vom Tisch. Die EU-Kommission wird sich wohl noch einmal breitschlagen lassen, den Austrittstermin um weitere drei Monate zu verlängern. Die Strategie des Unterhauses ist allerdings alles andere als überzeugend. Es ist mehrheitlich der Meinung, aus der Europäischen Union auszutreten. Für einen „no deal“ gibt es keine Mehrheit. Damit bleibt nur der ausgehandelte „Scheidungsvertrag“. Mit dem irischen Backstop ist aber niemand so recht glücklich. Hält man aber daran fest, ist in einem späteren „Handelsvertrag“ zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union allenfalls ein „weicher“ Brexit möglich, wenn überhaupt. Es ist eher ein „Exit vom Brexit“. An mehr handelspolitische Autonomie ist nicht zu denken. Eine Zollunion oder ein „Binnenmarkt 2.0“ sind die realistischen Alternativen. Die Handelspolitik des Vereinigten Königreichs wird auch künftig in Brüssel gemacht, nicht in London. Von Freihandelsabkommen mit der ganzen Welt, können die Briten weiter allenfalls träumen.

Die Idee von Boris Johnson, den Verhandlungsspielraum mit der Europäischen Union mit der glaubwürdigen Drohung, eines „no deal“ zu vergrößern, war aus der Sicht des Vereinigten Königreiches richtig. Es war ein möglicher Weg, die Europäische Union vielleicht doch noch kurzfristig dazu zu bewegen, neu über die irische Auffanglösung zu verhandeln. Verschiedene Ideen liegen auf dem Tisch. Ein einseitiges britisches Kündigungsrecht des Backstops mit mehrjähriger Kündigungsfrist ist eine von ihnen (hier). Damit hätte man noch einmal ausreichend Zeit für eine beidseitig sinnvollere Lösung kaufen können. Das britische Unterhaus hat diese Chance nicht genutzt. Damit ist man aber keinen Schritt weiter. Mit einem weiteren Aufschub des Austrittstermins schiebt man die Entscheidung noch einmal auf die lange Bank. Gelöst ist gar nichts. Vielleicht helfen tatsächlich nur Neuwahlen, die wirklichen Mehrheiten der Wähler zum Brexit besser auszuloten. Es ist deshalb zu hoffen, dass sich das Unterhaus noch vor der Parlamentspause darauf verständigt, möglichst bald Neuwahlen anzusetzen.

Blog-Beiträge zum Thema:

Dieter Smeets: Meilensteine auf dem Weg zum Brexit. Aktualisierte Version. Stand: 29. August 2019, 10.00 Uhr

Tim Krieger: Brexit: Schnäppchenzeit für die USA?

Norbert Berthold: Ein Trilemma zähmt die Lust am Brexit. Der Austritt des Vereinigten Königreichs wird allenfalls „weich“

3 Antworten auf „Blick in die Glaskugel
Wie geht es weiter mit dem Brexit?
2. Update: War’s das für Boris Johnson? (5. September 2019)

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