Gastbeitrag
Nehmen die Inflationsrisiken in Deutschland zu?
Oder machen wir uns wieder einmal umsonst verrückt?

Ein EZB-Ratsmitglied äußerte kürzlich, die EZB sei wegen der jüngsten Inflationsbeschleunigung nicht allzu besorgt, zumal die EZB über Jahre hinweg mit ihren Prognosen die tatsächliche Inflation überschätzt hat. Diese Argumentation lässt bei uns die Alarmglocken schrillen. Entweder sind die Zentralbankprognosen mit systematischen Fehlern behaftet, was Fragen zu ihrer Verlässlichkeit aufwirft, oder die Prognosefehler sind schlicht größer als erwartet und schreiben sich seriell fort. Letzteres passt zu den Erfahrungen aus früheren Inflationsphasen. Dies bedeutet, dass die Inflation künftig sehr wohl über Jahre hinweg über den Erwartungen liegen könnte. In diesem Artikel befassen wir uns mit der Frage, welche Faktoren dafür verantwortlich sein könnten, und nehmen dabei die Eigenheiten der deutschen Wirtschaft besonders unter die Lupe.

Seit Jahresbeginn hat der Preisauftrieb die Erwartungen in zahlreichen Sektoren und auf zahlreichen Produktionsstufen deutlich übertroffen. Bisher ist diese Entwicklung zu einem großen Teil auf höhere Energiepreise, Basiseffekte und Lieferprobleme zurückzuführen, wodurch die Preiserwartungen der Unternehmen nach oben geschossen sind. Dementsprechend könnte sich der Preisanstieg wieder verlangsamen, wenn die (Welt-)Wirtschaft nach der Corona-Krise ein neues Gleichgewicht gefunden hat.

Allerdings wird seit Jahren eine expansive Geld- und Fiskalpolitik verfolgt. Dadurch ist ein Umfeld entstanden, das zu dauerhaft höheren Inflationsraten führen könnte. Dies gilt umso mehr für die USA als für die EWU, weil der Policy mix in den USA deutlich extremer ist und die Inflationsraten dort bereits höher liegen.

Inflationsrisiken sind in Deutschland ein sehr viel dringlicheres Thema als in der EWU insgesamt. Vor der Corona-Pandemie war die Potenziallücke in Deutschland jahrelang positiv. Zudem fiel der Schock für die deutsche Konjunktur geringer aus und wurde durch umfangreichere fiskalische Maßnahmen abgefangen.

Zyklische und immer deutlicher zutage tretende strukturelle Engpässe am Arbeitsmarkt könnten Zweitrundeneffekte auslösen. Prognosen der OECD zufolge wird die Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahr 2022 wieder unter die NAIRU sinken. Die schrumpfende Erwerbsbevölkerung verschärft den ohnehin schon beträchtlichen Mangel an qualifizierten Arbeitnehmern.

Gleichzeitig trübt sich die bisher weltweit günstige demografische Lage, die Charles Goodhart als Sweet spot bezeichnete, langsam ein und die Globalisierung trifft verstärkt auf Gegenwind. Dementsprechend klingt die disinflationäre Wirkung einiger Faktoren, aufgrund derer die Phillips-Kurve in Deutschland jahrzehntelang von geringerer Bedeutung für die inländische Inflationsrate war, ab oder verkehrt sich in ihr Gegenteil.

Dass Deutschland die durch Corona ausgelöste Rezession vergleichsweise erfolgreich bekämpfen konnte, hat die Divergenzen innerhalb der EWU verschärft. Dem IWF zufolge haben sich die Potenziallücken in Italien und Spanien sowie in der EU insgesamt im Vergleich zu 2019 ungünstiger entwickelt als in Deutschland. Wenn sich nun die Inflation in Deutschland beschleunigt, die EZB aber  ihre Politik am EWU-Durchschnitt ausrichtet, wird die Geldpolitik für Deutschland zunehmend zu locker.

Mit ihrer neuen Strategie stellte die EZB klar, dass sie in Bezug auf die Inflation künftig gelassener vorgehen will. Begründet wird dies mit der Sorge wegen zugrunde liegender konjunktureller Schwächen und untragbarer Schuldenquoten. Diese noch taubenhaftere Ausrichtung der Strategie dürfte die Kritik aus Deutschland an der Geldpolitik der EZB noch lauter werden lassen – zumal die Politik der EZB weithin als Hauptursache für den beträchtlichen Hauspreisanstieg angesehen wird, der es zahlreichen Haushalten aus der Mittelschicht praktisch unmöglich macht, ein Eigenheim zu erwerben.

Erholung nach der Pandemie bringt größere Inflationsrisiken für die deutsche Wirtschaft mit sich

Im Juni lag die Konsensprognose für die durchschnittliche Inflationsrate in Deutschland im Gesamtjahr 2021 bei 2,5%. Zu Jahresbeginn waren noch lediglich 1,4% erwartet worden. Inzwischen wird mit einer Beschleunigung der Inflationsrate auf bis zu 4% in Q4 gerechnet. Auf der Verbraucherpreisebene ist dies zu einem großen Teil auf den Anstieg der Energiepreise um 10% gg. Vj. zurückzuführen. Die Import- und Produzentenpreise außerhalb des Energiesektors erhöhen sich jedoch ebenfalls mit Jahresraten von 5 – 6 %. Natürlich wurde die Konjunktur in den Vergleichsmonaten des Vorjahres noch durch die erste Runde der Corona-Lockdowns in Mitleidenschaft gezogen. In Q2 2020 ging die Gesamtinflationsrate in Deutschland beispielsweise um 0,3% zurück. Darüber hinaus haben Nachfrageverschiebungen infolge der Pandemie und der gleich- zeitigen Wiederöffnung großer Teile der Weltwirtschaft zu beträchtlichen Verwerfungen entlang der globalen Lieferketten geführt, die Deutschland stärker zu spüren bekommt als seine europäischen Partnerländer. Die Preise für bestimmte Halbleiter, Stahl und andere Metalle und sogar Holz sind dadurch deutlich angestiegen.

Der Einkaufsmanagerindex für Juni deutet auf eine weitere Verstärkung des Preisdrucks auf der Unternehmensebene hin. Sowohl die Input- als auch die Output-Preisindizes sind auf Allzeithöchststände geklettert; lediglich der Input-Preisindex für das Verarbeitende Gewerbe ging gegenüber seinem Rekordhöchststand vom Mai leicht zurück. Insbesondere im Dienstleistungssektor ist der jüngste Preisauftrieb bemerkenswert. Möglicherweise handelt es sich dabei um einen Wiederöffnungseffekt. Vielleicht nutzen die Unternehmen aber auch den Nachfragestau aus, um ihre Gewinnmargen zu erhöhen und die stark in Anspruch genommenen Kapitalreserven wieder aufzufüllen. Einige Sektoren wie z.B. das Gastgewerbe klagen sogar über Arbeitskräftemangel, da Minijobber ohne Anspruch auf Kurzarbeitergeld inzwischen in andere Sektoren abgewandert sind.

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Deutsche Wirtschaft ist wegen geringerer freier Kapazitäten inflationsanfälliger

Die deutsche Wirtschaft wurde im Jahr 2020 zwar ernsthaft von der Pandemie in Mitleidenschaft gezogen, die Potenziallücke fiel jedoch mit 4,8 % des potenziellen BIP (EU AMECO) sehr viel kleiner aus als in anderen großen EWU- Ländern. Zudem war die Industrie im Jahr 2020 nicht von einem staatlich verhängten Lockdown betroffen. Die Kapazitätsauslastung brach also nicht so deutlich ein wie in anderen EWU-Ländern. Die deutsche Industrie profitierte außerdem von ihrer regionalen Abnehmerstruktur und ihrer Produktpalette, die zu einer stärkeren Erholung der Exportnachfrage führten. Dies schlägt sich im deutlichen Anstieg der ifo-Exporterwartungen nieder, die im Juni lediglich um 0,6 Punkte unter ihrem im Februar 2011 erreichten Allzeithöchststand lagen.

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Deutscher Arbeitsmarkt erneut widerstandsfähig

Wie bereits in den Jahren 2009/10 erwies sich der deutsche Arbeitsmarkt auch im pandemiebedingten Abschwung als widerstandsfähig. Dazu trug nicht zuletzt das Kurzarbeitergeld bei, das im Frühjahr 2020 von rund 6 Millionen bzw. etwa 18% aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bezogen wurde. Seither ist die Zahl der Kurzarbeiter deutlich auf 1,5 Millionen im Juni 2021 gesunken. Mit der weiteren Öffnung des Dienstleistungssektors sollte sie in den kommenden Monaten auf unter 1 Million zurückgehen. Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen vollzog sich in Deutschland nicht nur von einem sehr viel niedrigeren Ausgangsniveau aus als in den anderen großen EWU-Ländern, sondern war mit 1,5 %- Punkten auch nur etwa halb so hoch. Prognosen der OECD zufolge wird die Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahr 2022 wieder unter die NAIRU sinken.

Das sinkende Erwerbspersonenpotenzial, der zunehmende Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und höhere Lohnforderungen als Ausgleich für die Zurückhaltung während der Pandemie könnten zu einem stärkeren Lohnwachstum führen, was letztendlich die Inflation nach oben treiben könnte. Dies könnte sich vor allem dann bemerkbar machen, wenn Beschäftigte, die ohnehin kurz vor der Rente stehen und während der Pandemie im Homeoffice waren oder ihren Arbeitsplatz verloren haben, sich ganz vom Arbeitsmarkt verabschieden.

Lohnzurückhaltung während der Pandemie könnte 2022 zu einer hohen Lohndrift führen

Die jüngsten Tarifabschlüsse, z.B. für die 3,8 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie, standen immer noch im Zeichen der Pandemie. Anstelle einer regulären Lohnerhöhung soll es im Februar 2022 und im Februar 2023 Einmalzahlungen geben. Die Tarifverträge stellen zudem vor allem auf die Sicherung von Arbeitsplätzen durch flexiblere Arbeitszeiten ab. Nunmehr stehen im Einzelhandel (2,35 Millionen Beschäftigte, Ausgangsforderung: 4,5%), im Bausektor (0,69 Millionen Beschäftigte; Ausgangsforderung: 5,3%) und im öffentlichen Dienst der Länder (0,936 Millionen Beschäftigte; Beginn im September) Tarifverhandlungen an. Da sich die weltweite Nachfrage und die Konjunktur in Deutschland rascher als zunächst erwartet erholen, könnte es zu einer beträchtlichen positiven Lohndrift kommen. Bei lediglich moderaten Anhebungen der Tariflöhne könnten die Beschäftigten an anderer Stelle Forderungen stellen. Daraus könnte sich eine beträchtliche positive Lohndrift ergeben.

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Raschere Weitergabe der höheren Kosten als sonst, um Gewinnspannen zu steigern

Im Produzierenden Gewerbe machen die Löhne rund 30% des Unternehmensumsatzes aus. Im Dienstleistungsgewerbe ist der Anteil etwas höher. Da jedoch Arbeitskosten teilweise importiert werden und der Anteil von Arbeitskosten an den Energiepreisen und Mieten relativ gering ist, beziffert die Bundesbank den Anteil der Löhne am Konsumgüterkorb ebenfalls auf etwa 30 %.[1] In der erwähnten Bundesbank-Studie heißt es, dass zuletzt der Passthrough (also der Einfluss höherer Arbeitskosten auf die Preise) auf den Konsumdeflator nach vier Jahren auf rund 35% (Lohnstückkosten) bzw. 22% (Stundenlöhne) gesunken ist. Die Lohnstückkosten, die in Q1 um 2% gg. Vj. angestiegen sind, werden auch von der Produktivität und den Gewinnspannen beeinflusst. Die Produktivität pro Stunde stagnierte im Jahr 2020, und die Gewinneinkommen (volkswirtschaftliche Gesamtrechnung: Unternehmens- und Immobilieneinkommen) brachen während der Rezession des Jahres 2020 um 8,4 % ein. Die Unternehmen können es sich also im Grunde nicht leisten, ihre Margen durch die Übernahme höherer Inputkosten zu schmälern. Im Gegenteil: Sie werden nicht nur die gestiegenen Inputkosten relativ schnell weitergeben, sondern voraussichtlich auch ihre in Mitleidenschaft gezogenen Gewinnmargen erhöhen, um die gestiegene Kreditaufnahme zurückzuzahlen (allein die KfW hat Darlehen in Höhe von rund EUR 52 Mrd. ausgereicht) und ihre ausgeschöpften Kapitalreserven wieder auf- zufüllen. Die Unternehmensstimmung, die rekordhohen Produktionspläne, die Lieferzeiten und die rekordniedrigen Lagerbestände an Fertigprodukten deuten darauf hin, dass die Unternehmen über genügend Preissetzungsmacht für dieses Vorhaben verfügen. Dies schlägt sich auch in den rekordhohen Verkaufspreiserwartungen nieder.

Selbst in Sektoren, die besonders stark von den langen Lockdowns in Mitleidenschaft gezogen wurden (z.B. das Gastgewerbe), werden Arbeitskräftemangel und Arbeitskosten zu einem Thema. Gewerkschaftsangaben zufolge hat sich einer von fünf Restaurantmitarbeitern in Berlin während der Pandemie eine andere Beschäftigung gesucht.[2] Dies deutet zum einen auf potenziellen Lohndruck im Gastgewerbe hin und belegt zum anderen, wie gesucht Arbeitskräfte in anderen Sektoren selbst auf dem Höhepunkt der Pandemie waren. Neben der zu erwartenden Beschleunigung des Passthrough könnten also auch spürbare nichtlineare Effekte zum Tragen kommen.

Strukturelle Veränderungen könnten zu einem dauerhafteren Inflationstrend führen

Zum einen könnten also die Eigenheiten des Post-Pandemie-Aufschwungs zu einer spürbaren Inflationsbeschleunigung führen, zum anderen könnten die Inflationsraten in den kommenden Jahren aufgrund struktureller Faktoren grundsätzlich höher liegen.

Nachlassende bzw. umkehrende Effekte der Globalisierung

Über die disinflationären Auswirkungen der Globalisierung herrscht keine Einigkeit. In einer kürzlich erschienenen Studie der EZB heißt es sogar: „Selbst wenn die Globalisierung disinflationäre Kräfte entfaltet, ist dieser geschätzte Effekt  aus ökonomischer Sicht doch gering“.[3] Natürlich lässt sich der säkulare Rückgang der Inflationsraten wohl kaum auf einen einzigen Faktor zurückführen. Die Zentralbanken betonen z.B., dass die stärker stabilitätsorientierte Geldpolitik eine der wichtigsten Ursachen für die sogenannte „Great Moderation“ war, also die Phase mit geringeren zyklischen Ausschlägen und niedrigen Inflationsraten ab Mitte der Achtzigerjahre.

Einbindung Deutschlands in globale Wertschöpfungsketten wirkte inflations- dämpfend

Deutsche KMUs berichten aber überwiegend, dass die Globalisierung ganz klar disinflationäre Effekte auf die Beschaffungskosten und die inländischen Lohn- kosten hatte. Dies wird durch ein Working Paper der BIZ[4] bestätigt, dem zufolge die Einbeziehung globaler Faktoren die Modelle für die nationale Inflationsentwicklung deutlich verbessern kann. Im Falle Deutschlands sind die Inflationserwartungen im Land selbst und die globale Potenziallücke den Modellen der BIZ zufolge hochgradig signifikant, wohingegen freie Kapazitäten im Inland (also die Phillips-Kurve) keine wesentliche Rolle spielen. Möglicherweise ist dieses Ergebnis etwas extrem; der tatsächliche und potenzielle Wettbewerb, der sich aus der Einbindung in globale Wertschöpfungsketten ergibt, hat aber in Deutschland sicherlich beträchtliche disinflationäre Auswirkungen gehabt und war in den vergangenen drei Jahrzehnten wahrscheinlich von größerer Bedeutung als binnen- wirtschaftliche Faktoren. Einem Working Paper der OECD zufolge hat die verstärkte Einbindung in die globalen Wertschöpfungsketten zu Abwärtsdruck bei der Produzentenpreisinflation geführt.[5] Anhand disaggregierter Länder- und Sektordaten weisen die Autoren nach, dass die Integration in globale Wert- schöpfungsketten vor allem in Deutschland und der Schweiz disinflationär wirkte. Außerdem stiegen die Handelsspannen in jüngerer Zeit vor allem im Dienstleistungssektor an, was auf zunehmende Marktmacht hindeutet. Nach dem ursprünglichen, disinflationären Effekt durch niedrigere Informationskosten könnte die Integration des Dienstleistungssektors dadurch ebenfalls eine geringere (disinflationäre) Wirkung haben.

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Langsamerer Verlauf der Globalisierung könnte disinflationäre Auswirkungen der internationalen Arbeitsteilung beenden

In den vergangenen Jahren hat sich die Globalisierung beträchtlich verlangsamt oder – zumindest in mancherlei Hinsicht – sogar Rückschritte gemacht. Nach der weltweiten Finanzkrise wurden immer mehr protektionistische Maßnahmen ergriffen. Der Brexit und der Konflikt zwischen den USA und China, der auch nach dem Regierungswechsel in den USA anhält, haben die Globalisierung spürbar gehemmt. Sowohl die USA als auch China möchten ihre gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit voneinander vermindern, die sich aus den bisherigen Lieferketten und Importen ergibt. Die jeweiligen politischen Maßnahmen laufen unter den Schlagwörtern „Entkoppelung“ (USA) oder „Strategie der zwei Kreisläufe“ (China). Aus Wettbewerbsgründen – und seit der Corona-Pandemie auch zur Sicherung ihrer Lieferketten – haben zahlreiche Länder strategische Sektoren identifiziert, die sie künftig fördern und schützen wollen. Protektionismus und eine geringere internationale Arbeitsteilung, die sich aus den relativen Vorteilen der einzelnen Länder ergibt, führen zu niedrigeren Produktivitätszuwächsen und ceteris paribus zu höheren Preisen. Als sehr offene Volkswirtschaft ist Deutschland davon überdurchschnittlich betroffen.

Globales Arbeitskräfteangebot entwickelt sich von einem deflationären zu einem inflationären Faktor

Selbst wenn dieser geostrategische Gegenwind wieder abklänge, deuten die demografischen Entwicklungen in China und anderen Schwellenländern auf höheren Inflationsdruck in der Zukunft hin. Charles Goodhart hat die Einbindung Osteuropas und insbesondere Chinas in die Weltwirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten als den historisch größten (positiven) Schock für das Arbeitskräfteangebot bezeichnet.[6] Nach seiner Auffassung haben die zunehmende Bedeutung Asiens und insbesondere Chinas für das weltweite Verarbeitende Gewerbe dazu geführt, dass in den Industrieländern die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften schwand, die Reallöhne stagnierten und Deflationsdruck entstand. Da der Anteil der Erwerbsbevölkerung inzwischen auch in den Schwellenländern zurückgeht – dieser Trend hat in den Industrieländern bereits vor etwa zehn Jahren eingesetzt –, wird sich die bisher günstige demografische Situation allmählich ändern. Dementsprechend dürften sich Lohnwachstum und Inflation beschleunigen. Aus verschiedenen, nicht unbedingt miteinander zusammenhängenden Gründen dürfte die Globalisierung daher im kommenden Jahrzehnt von einem disinflationären zu einem inflationstreibenden Faktor werden.

Klimaneutralität: Steigende Energiepreise, weitere Engpässe bei Investitionen

Dieses Jahr wurde ein CO2-Preis für die CO2-Emissionen des Verkehrssektors und von Gebäudeheizungen eingeführt. Er dürfte die Inflationsrate in Deutschland in diesem Jahr um rund 0,5%-Punkte nach oben treiben. Gleichzeitig wird die EEG-Umlage gesenkt, sodass sich der aggregierte Effekt auf rund 0,3%- Punkte belaufen sollte. Da der CO2-Preis von derzeit EUR 25 pro Tonne auf EUR 55 im Jahr 2025 angehoben werden soll, um einen Anreiz zum Ausstieg aus fossilen Energieträgern zu geben, wird er zumindest so lange inflationstreibend wirken, wie die entsprechenden CO2-Senkungen aufgrund der kurzfristig inelastischen Energienachfrage begrenzt bleiben (Rigiditäten beim Gebäude- und Fahrzeugbestand).

Auswirkungen des CO2-Preises verblassen angesichts der Preiseffekte der erforderlichen grünen Investitionen

Die erforderlichen, umfangreichen Investitionen in die Energieinfrastruktur und die Wärmeisolierung von Gebäuden (u.a. neue Heizsysteme oder die Sanierung von Fenstern, Dächern oder Fassaden) könnten mittelfristig sehr viel größeren Einfluss auf die Inflationsraten haben. Verfügbare Schätzungen zu den Kosten der ökologischen Wende für die deutsche Wirtschaft beschränken sich in der Regel auf den Umbau des Energiesektors, also auf Investitionen in Technologie und Infrastruktur (Stromerzeugung und Stromnetz). Und selbst diese Teilschätzungen hängen in hohem Maße von den zugrunde liegenden Annahmen ab.

Dies gilt umso mehr für Modelle, die auch die möglichen Auswirkungen auf das BIP-Wachstum und die Beschäftigung einbeziehen – ganz zu schweigen von potenziellen externen Kosten und Nutzen, z.B. den Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesellschaft insgesamt.[7]

Einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE zufolge könnten sich die Gesamtkosten für die Umstellung des Energiesystems auf rund EUR 6.500 Mrd. belaufen (d.h. nahezu das Doppelte des jährlichen BIP), wenn der CO2-Ausstoß bis 2050 um 90% gesenkt werden soll.[8] Gleichzeitig untersucht das Institut ein Vergleichsszenario, in dem die Preise für fossile Energieträger jährlich um 2% ansteigen und die Preise für CO2-Zertifikate schrittweise bis 2030 auf EUR 100/Tonne angehoben werden. Bis zum Jahr 2050 würden die Gesamtkosten in diesem Szenario lediglich um etwa EUR 500 Mrd. niedriger liegen als bei einer Reduzierung der CO2-Emissionen um 90% – selbst unter Berücksichtigung der Finanzierungskosten.

Eine andere Studie des Forschungszentrums Jülich beziffert die Kosten einer Senkung des CO2-Ausstoßes um 95% bis 2050 auf EUR 1.850 Mrd.[9] Bei einer gleichmäßigen Verteilung der Kosten bis 2050 sollen sich die jährlichen Kosten den Schätzungen der Forscher zufolge auf (nur) 1,1% des jährlichen BIP belaufen. Dies entspricht jedoch selbst bei relativ optimistischen Annahmen für das Trendwachstum mehr als der Hälfte des jährlichen BIP-Wachstums.

Erfahrungsgemäß werden die Kosten großer öffentlicher Investitionsvorhaben häufig unterschätzt

Die beträchtliche Differenz zwischen diesen beiden Schätzungen zeigt, wie groß die zugrunde liegenden Unsicherheiten sind. Ohne allzu pessimistisch klingen zu wollen, sei daran erinnert, dass selbst viel kleinere staatliche Projekte tendenziell sehr viel teurer werden als ursprünglich veranschlagt.

Ein „grüner“ Rohstoff-Superzyklus?

Der beträchtliche Investitionsbedarf wird die Inflation zumindest in denjenigen Sektoren nach oben treiben, in denen die Ressourcen bereits vollständig ausgeschöpft sind, z.B. im Wohnungsbau. Wenn die Regierung die energetische Sanierung von Gebäuden subventioniert, trifft die zusätzliche Nachfrage auf bereits angespannte Kapazitäten. Die Deutsche Rohstoffagentur (DERA) stellte kürzlich eine von zwei Fraunhofer-Instituten erarbeitete Studie vor, in der es heißt, künftige technologische Entwicklungen könnten bei Rohstoffen wie Lithium, Scandium, Iridium, Kupfer und anderen Metallen zu beträchtlichen Preissteigerungen führen. Die meisten dieser Rohstoffe werden auch für Technologien benötigt, die für den ökologischen Umbau der deutschen Wirtschaft erforderlich sind.

Alles in allem werden die Produktionskosten steigen, wenn höhere Energie- und Inputpreise und die erzwungene Substitution der bisherigen Produktions- und Transportmittel durch weniger effiziente Verfahren nicht in vollem Umfang durch die Regierung subventioniert werden. Dies wird auch auf die Verbraucherpreise durchschlagen. Zudem wirken sich ordnungsrechtliche Maßnahmen (Verbote, Obergrenzen, Quoten) auf der Angebotsseite (höhere Kosten, geringeres Angebot) auf die Preise aus. Wenn neue Technologien zumindest in den ersten Jahren der Umstellung teurer sind, wird die Inflation auch dadurch nach oben getrieben. Als Beispiel sei die Umstellung von Autos mit Verbrennermotor auf E- Mobilität genannt: Elektroautos sind im Volumensegment teurer als Autos mit traditionellen Motoren.

Alternde Bevölkerung: Steigender Lohndruck und Schutz von Bestandsinteressen

Wie bereits erwähnt, waren die freien Kapazitäten in der Binnenwirtschaft in Deutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten von untergeordneter Bedeutung für die Inflationsrate. Dies ist unter anderem auf den deutlichen Anstieg des globalen Arbeitsangebots und die massive Globalisierung der deutschen Unternehmen zurückzuführen. Die globale demografische Situation dürfte sich jedoch verschlechtern, sodass das binnenwirtschaftliche Arbeitskräfteangebot wieder an Bedeutung gewinnt. Selbst unter moderaten Annahmen – und unter der Annahme einer jährlichen Nettozuwanderung von 221.000 – wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 – 66 Jahre) in Deutschland laut Angaben des Statistischen Bundesamts von 51,8 Millionen (2020) bis 2035 um vier bis sechs Millionen Menschen bzw. bis 2050 um insgesamt zehn Millionen schrumpfen.[10] Dadurch wird sich der Arbeitskräftemangel verstärken, der bereits in den vergangenen Jahren zu spüren war; es sei auf die anhaltende Diskussion über den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften verwiesen. Laut OLS-Modellen, mit deren Hilfe die Auswirkungen des demografischen Wandels simuliert werden, könnte dieser Faktor das Lohnwachstum bis 2050 um rund 12,5%-Punkte in die Höhe treiben.[11] Zum Teil ist dies sicherlich ein Kompositionseffekt: Mehr und mehr Beschäftigte verfügen über einen Universitätsabschluss und die höhere Produktivität könnte den Effekt auf die Lohnstückkosten senken.

Baby-Boomer sind stärker an Arbeitsplatzsicherheit interessiert

Neben dem rein quantitativen Effekt dürfte auch das Verhalten der Baby-Boomer-Generation, die der Rente immer näher rückt, zu vergleichsweise harmonischen Tarifverhandlungen beigetragen haben. Mit dem Alter werden die Menschen risikoaverser und sind weniger bereit, Wandel zu akzeptieren. Daher sind viele Beschäftigte in den letzten Jahren ihres Arbeitslebens eher an Arbeitsplatzsicherheit und einer geringeren Arbeitszeit als an Lohnerhöhungen interessiert. Dieser Effekt ist in zahlreichen Tarifvereinbarungen der vergangenen Jahre zu erkennen, bei denen auf Lohnerhöhungen zugunsten von Arbeitsplatzgarantien verzichtet wurde. Wenn diese risikoaverse, auf den Bestandsschutz ausgerichtete Gruppe bei den Tarifverhandlungen an Gewicht verliert und jüngere Alterskohorten nachrücken, die weniger Interesse an einem lebenslangen Arbeitsplatz haben, könnten die Tarifverhandlungen künftig kontroverser verlaufen.

Regulierung verschafft Gewerkschaften mehr Verhandlungsmacht

Die Lohnmäßigung der vergangenen Jahrzehnte ist darüber hinaus auch auf die Deregulierung des deutschen Arbeitsmarkts (Stichwort „Hartz-Reformen“) zurückzuführen. Nach der deutlichen Verbesserung der Arbeitsmarktsituation in Deutschland haben der Staat bzw. die Gerichte einige Arbeitsmarktbereiche in den vergangenen Jahren wieder stärker reguliert (Einführung eines Mindestlohns, Begrenzung des Einsatzes von Zeit- oder Vertragsarbeitern, Mindestlohn für ausländische Pflegekräfte usw.). Dies sollte ebenfalls zu steigenden Arbeitskosten beitragen.

Insgesamt könnte sich die Arbeitsmarktsituation aufgrund zyklischer und struktureller Entwicklungen grundlegend verändern. Ein steilerer Verlauf der Phillips- Kurve könnte dann dazu führen, dass die aktuelle Inflationsspitze Zweitrundeneffekte auslöst. Dadurch würde sich die Inflation verstetigen.

Inflationsraten könnten auch durch Verteilungskonflikte ansteigen

Der deutsche Soziologe Max Weber hat die von Marx entwickelte Konflikttheorie auf zahlreiche Konfliktfelder in der Gesellschaft übertragen. Ihm zufolge kämpfen nicht nur Klassen, sondern auch Statusgruppen, Regionen und andere Interessengruppen um Ressourcen. In ähnlicher Weise interpretieren Inflationsmodelle der politischen Ökonomie Inflation als Ausfluss von gesellschaftlichen Konflikten.[12] In eher heterogenen Gesellschaften treten diese Verteilungskonflikte deutlicher zutage, und durch Umverteilungseffekte kann die Politik selbst die Inflation ankurbeln. Dies gilt vor allem dann, wenn populistische Parteien an der Macht sind. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen werden von den derzeitigen Trends – Digitalisierung, Alterung, Urbanisierung und die Umstellung auf eine CO2-neutrale Wirtschaft – in unterschiedlichem Maße betroffen sein. Daher werden sie zunehmend intensiver um ihre jeweiligen „legitimen“ Interessen und Besitzstände kämpfen. Wenn die Gesellschaft heterogener wird, wird auch die Parteienlandschaft stärker fragmentiert. Dadurch werden Kompromisse, bei denen jede Seite profitiert, und finanzielle Ausgleichsmechanismen zu immer wichtigeren Instrumenten für die Politik. Die damit einhergehenden Kosten lassen sich gut am Beispiel der deutschen Rentenpolitik in den vergangenen Jahren oder am im vergangenen Jahr vereinbarten Kohleausstieg illustrieren (Letzterer sieht über EUR 50 Mrd. für einen Sektor mit nicht einmal 50.000 Beschäftigten vor).

Klimapolitik: Niemand will die Verluste infolge einer niedriger verlaufenden Transformationskurve tragen

Strukturelle Veränderungen wie die Globalisierung oder wahrscheinlich auch die Digitalisierung fördern den makroökonomischen Wohlstand. Insofern kann von den Gewinnern „verlangt“ werden, einen Teil ihrer Gewinne zur Finanzierung von Ausgleichszahlungen für die Verlierer zur Verfügung zu stellen, damit es idealerweise allen besser geht. Bei der ungünstigen demografischen Entwicklung gerät dieser Ansatz allerdings unter Druck, zumal er tendenziell das Potenzialwachstum senkt. Die zu verteilenden Gewinne werden also geringer. Die Umstellung auf eine CO2-neutrale Wirtschaft bedeutet für die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung logischerweise, dass die Transformationskurve nach unten verschoben wird, weil weniger effiziente Energiequellen eingesetzt werden.[13] Damit müssen Verluste umverteilt werden und der Lebensstandard sinkt. Aus der Prospekttheorie wissen wir, dass Verluste für die Menschen absolut gesehen ein größeres Gewicht als Gewinne in gleicher absoluter Höhe haben.

Dies gilt in einer alternden Gesellschaft wahrscheinlich noch verstärkt. Bisher la- gen die durch die Klimapolitik ausgelösten Verluste zumindest für große Teile der Gesellschaft unter der Schmerzgrenze. In manchen Fällen wurden auch Regionen, in denen nur wenige Menschen betroffen waren, vom Staat großzügig entschädigt. Der Staat wird auch weiterhin versuchen, die Wähler auf diese Weise zu „schützen“, und die Kreditmärkte dafür so lange wie möglich in Anspruch nehmen. In der Vergangenheit hat die Kombination aus einer geringeren Produktion (aufgrund der niedriger verlaufenden Transformationskurve) und durch schuldenfinanzierte Subventionen künstlich stabilisierten Einkommen regelmäßig zu höheren Inflationsraten geführt.

Andere Trends wie z.B. die Digitalisierung, kostensparende technologische Innovationen im Allgemeinen oder grundlegende Verhaltensänderungen der Verbraucher hin zu einem weniger ressourcenintensiven Konsum könnten natürlich die Inflation wieder dämpfen. Soweit wir jedoch die Inflationsauswirkungen der bestehenden Trends einschätzen können, deuten sie in Summe eher auf höhere Inflationsraten hin. Die Inflationsraten dürften zumindest deutlich höher liegen als im vergangenen Jahrzehnt. Wie groß die Auswirkungen tatsächlich ausfallen, hängt entscheidend von der künftigen Fiskal- und Geldpolitik ab.

Wird die Wirtschaftspolitik auf höhere Inflationsraten reagieren?

Die oben diskutierten Trends wirken sich im Analyserahmen der neoklassischen Theorie lediglich auf die relativen Preise aus. Wenn z.B. Tätigkeiten teurer wer- den, die zu CO2-Emissionen führen, sinken die realen Einkommen der privaten Haushalte entsprechend. Damit gehen die Nachfrage nach und die Preise für andere Ausgaben zurück (sofern nicht die Nachfrage nach den entsprechenden Aktivitäten proportional ebenfalls sinkt). Erfahrungsgemäß versuchen die privaten Haushalte und die Unternehmen jedoch diese Verluste zu kompensieren, indem sie einen höheren Anteil am Volkseinkommen für sich beanspruchen. Dies treibt die Inflation, also das allgemeine Preisniveau, nach oben, sofern die Zentralbank die benötigten finanziellen Mittel bereitstellt und ein steigendes Kreditwachstum dafür sorgt, dass die geschaffene Liquidität in der Realwirtschaft ankommt. Nach der globalen Finanzkrise trat diese Entwicklung nicht ein, weil die Unternehmen ihre Schulden abbauten (also die Kreditnachfrage aus dem privaten Sektor zurückging) und die Darlehen an den öffentlichen Sektor nur recht moderat anstiegen. Im Gegensatz dazu explodierte die Kreditvergabe an den Staat in den Jahren 2020/21 förmlich.

Billiges Geld …

Sowohl in der Fiskal- als auch in der Geldpolitik und insbesondere bei der Interaktion zwischen beiden scheint ein Paradigmenwechsel stattzufinden. Bereits nach der globalen Finanzkrise, aber auch und vor allem während der Corona- Pandemie wurden umfangreiche Staatsausgaben wieder populär. Weil die Ausgabenprogramme „erfolgreich“ dazu beigetragen haben, die negativen Folgen der Pandemie für Einkommen und Wachstum zu bekämpfen, hat sich auch die Auffassung verbreitet, dass die Staaten auch künftig (also nach dem Ausgleich der pandemiebedingten Verluste) deutlich mehr Geld ausgeben sollten, um die Resilienz der Gesellschaften und das Trendwachstum der Wirtschaft längerfristig zu stärken, zumal die einzelnen Länder mit strukturellen Herausforderungen zu kämpfen haben werden (Erderwärmung, Demografie, Digitalisierung). Dazu trägt nicht zuletzt bei, dass die üblichen Nebenwirkungen eines höheren Deficit spending – höhere Anleiherenditen, Verdrängung privater Investitionen und Anstieg der Zinslast für die öffentliche Hand – bisher dank der „Kooperation“ der Zentralbanken nicht zutage getreten sind.

… ist für den Staat einfach zu verführerisch

Die ehrgeizigen Ausgabenpläne werden mit dem altbekannten Argument begründet, dass das für derartige „Zukunftsinvestitionen“ ausgegebene Geld nicht nur hohe Multiplikatoreffekte habe, indem es mehr private Investitionen stimuliere, sondern dass es auch leicht zurückgezahlt werden könne, weil dadurch mittelfristig das Wirtschaftswachstum und damit auch die Steuereinnahmen angekurbelt würden. Solche optimistischen Szenarien haben sich in der Vergangenheit nur selten verwirklicht. Nichtsdestotrotz werden sie derzeit lautstark beworben. Dies gilt vor allem für die USA, wo die Ausgabenprogramme unter dem Slogan „Building Back Better“ ein Volumen von nahezu USD 10 Bill. oder knapp 40% des BIP bekommen sollen.[14] Weltweit summieren sich die fiskalischen Unterstützungsprogramme (einschließlich Zusatzausgaben, entgangener Einnahmen oder Liquiditätsmaßnahmen wie Käufe von Vermögenswerten oder staatliche Garantien) seit Beginn der Pandemie laut Schätzungen des IWF inzwischen auf USD 16 Bill. bzw. rund 19% des globalen BIP. Zusätzlich zu den zahlreichen nationalen Konjunkturprogrammen hat die EU-Kommission das NGEU-Paket  mit einem Volumen von EUR 750 Mrd. aufgelegt. In Deutschland hat sich die Staatsschuldenquote während der Pandemie um gut 10%-Punkte erhöht. Die mittelfristige Finanzplanung der scheidenden Regierung sieht bis 2025 eine Rückkehr zu einem ausgeglichenen Haushalt und eine Senkung der Verschuldung auf knapp 70% des BIP vor. Praktisch alle Parteien versprechen jedoch im Wahlkampf beträchtliche Ausgabenprogramme, um das Land für die Zukunft zu rüsten, sagen allerdings nur wenig zur Finanzierung.

Ausweitung der Zentralbankbilanzen in den G3-Ländern um USD 9 Bill.

Der Anstieg der Staatsausgaben in der Pandemie wurde durch eine verstärkte Koordination von Fiskal- und Geldpolitik möglich, die von den Zentralbanken als große Leistung gefeiert wird. Die Zentralbanken der G3-Länder haben ihre Bilanzen seit Anfang 2020 um nicht weniger als USD 9 Billionen ausgeweitet. Da- bei haben sie vor allem Finanzvermögenswerte (insbesondere Staatsanleihen) gekauft. Diese Maßnahme wurde damit gerechtfertigt, dass eine Straffung der Finanzierungsbedingungen der Wirtschaft vermieden werden solle. Die umfangreichen fiskalischen Konjunkturprogramme haben laut EZB-Präsidentin Christine Lagarde nicht nur die notleidenden Volkswirtschaften gestützt, sondern auch die Transmission der geldpolitischen Impulse der EZB sichergestellt. Die Zentralbanken haben praktisch das gesamte zusätzliche Angebot an Staatsanleihen aufgekauft, was in den Augen zahlreicher Beobachter faktisch eine monetäre Finanzierung des Haushaltsdefizits darstellt.

EZB hegt weiterhin eher Sorge wegen zu niedriger Inflationsraten und verspricht mehr Unterstützung für andere politische Ziele

Die EZB hat die Inflationsrate in den vergangenen acht Jahren nicht wieder in die Nähe des mittelfristigen Zielwerts von knapp unter 2% schleusen können. Einige Ratsmitglieder argumentieren, das systematische Unterschießen rechtfertige es länger zu warten, bevor man gegebenenfalls auf höhere Inflationsraten reagiere.[15] Dieser Ansatz ist etwas moderater als derjenige der Fed. Diese hat deutlich gemacht, dass sie im Rahmen ihres neuen Inflationsziels vor einem Eingreifen erst einmal ein erwünschtes Überschießen der Inflationsziels sehen wolle. Im Zuge ihrer kürzlich durchgeführten Strategieüberprüfung hat die EZB ein symmetrisches Inflationsziel von 2% eingeführt. Dadurch steigt die Zielrate implizit um 0,2 bis 0,4 %-Punkte an. Bei der Vorstellung der neuen Strategie erläuterte EZB-Präsidentin Lagarde in einer Pressekonferenz am 8. Juli, dass im Falle eines wirtschaftlichen Schocks möglicherweise dauerhaftere und umfangreichere Maßnahmen erforderlich seien, weshalb die Inflation im Nachgang übergangsweise moderat über dem Zielwert liegen könne. Einige Abschnitte des Dokuments, in dem die geldpolitische Strategie vorgestellt wird, können so interpretiert werden, dass die EZB künftig andere Ziele der EU stärker unterstützen wird.[16] EZB-Präsidentin Lagarde hat in diesem Jahr bereits angedeutet, dass die EZB darüber nachdenke, wie sie die Klimapolitik der EU unterstützen könne.[17] Der Aktionsplan der EZB zum Klimawandel[18], der zusammen mit der Überprüfung der Strategie veröffentlicht wurde, enthielt jedoch keine weiteren Hinweise in dieser Richtung. Dies könnte jedoch implizieren, dass die EZB anders auf Inflationsdruck reagiert, der z.B. durch höhere CO2-Steuern verursacht wird. Mittelfristig könnte diese schleichende Änderung ihres Mandats dazu führen, dass die EZB eher dazu bereit ist, die Staaten bei der Finanzierung der umfangreichen, erforderlichen Investitionen zu „unterstützen“.

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EZB wird wohl nicht auf höhere Inflationsraten in Deutschland reagieren, …

Die Zentralbanken dürften auch deshalb nicht so rasch auf eine Inflationsbeschleunigung reagieren, weil die staatlichen Schuldenquoten nach der Pandemie deutlich angestiegen sind. In Ländern wie Italien oder Griechenland liegen sie inzwischen bei über 150% des BIP. Wenn die Geldpolitik die Renditekurve nach oben verschöbe, könnte die Diskussion über die Tragbarkeit der Verschuldung rasch wieder aufflammen. Dies hätte für den Euroraum insgesamt nicht lineare und je nach Land unterschiedliche Auswirkungen. Die EZB leugnet zwar, dass ihr Handlungsspielraum durch derartige Erwägungen eingeschränkt wird, die eine Dominanz der Fiskalpolitik suggerieren würden. Nichtsdestotrotz ist es vor diesem Hintergrund eher unwahrscheinlich, dass die EZB auf höhere Inflationsraten in Deutschland reagiert – zumindest so lange, wie der EWU- Durchschnitt nicht längere Zeit deutlich über dem Zielwert von 2% liegt.

… was deutsche Konsumenten frustrieren dürfte

In der Logik der Währungsunion führt dies intern zu einer Aufwertung der deutschen Währung gegenüber dem Rest des Euroraums. Dadurch sinkt die preisliche Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, was die Konjunktur verlangsamt und den Inflationsdruck wieder reduziert. Gleichzeitig steigen die Immobilienpreise in Deutschland weiter an und die alternde Bevölkerung wird noch inflationsaverser. Die kognitive Dissonanz gegenüber der EZB-Politik könnte so groß werden, dass selbst die von der EZB versprochene intensivere Kommunikation keine Lösung darstellt.

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Zusammenfassung und Ausblick

Die erneute Öffnung Weltwirtschaft nach dem Corona-Schock hat in zahlreichen Sektoren zu Angebotsengpässen geführt; die Liste reicht von Öl über Holz bis zu Computerchips. Angesichts der gut ausgelasteten Logistikkapazitäten schnellen die Transportkosten in die Höhe. Unternehmen aus dem Produzierenden Gewerbe gehen davon aus, dass sie nicht nur diese höheren Inputkosten weitergeben, sondern dank der lebhaften Nachfrage außerdem ihre Gewinnmargen ausweiten können. Im Dienstleistungssektor, wo sich praktisch gleichzeitig ebenfalls ein Aufschwung vollzieht, ist die Situation nicht viel anders. Der durch die unfreiwillige Ersparnis während der Lockdowns entstandene Nachfragestau trifft auf ein ausgedünntes Angebot, da nicht alle Unternehmen die Krise überstanden haben.

In beiden Sektoren ist starker Preisdruck zu spüren. Zum jetzigen Zeitpunkt könnte es sich dabei noch um ein vorübergehendes Phänomen handeln, das sich wieder gibt, wenn die Weltwirtschaft wieder rund läuft. Neben dieser sehr ungewöhnlich verlaufenden zyklischen Erholung spielen verschiedene strukturelle Faktoren eine Rolle, z.B. Hindernisse für die Globalisierung, der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel und das Streben nach CO2-Neutralität. Zusammengenommen dürften alle diese Trends die Inflation insbesondere in Deutschland längerfristig ankurbeln. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sämtlich die Verteilungskonflikte in der alternden deutschen Gesellschaft verschärfen können, was zusätzliche Inflationsrisiken heraufbeschwört.

Damit diese zyklischen und strukturellen Faktoren einen neuen Inflationszyklus auslösen, der die Phase der großen Mäßigung beendet und dazu führt, dass das EZB-Inflationsziel nicht mehr unterschossen wird, muss ein dritter Faktor hinzukommen: die Wirtschaftspolitik. Der außerordentlich expansive fiskal- und geldpolitische Kurs im vergangenen Jahrzehnt hat sicherlich den Boden für eine solche Entwicklung bereitet, zumal inzwischen mit der engen Kooperation beider Politikbereiche ein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel stattfindet.

Wahrscheinlich werden die politischen Verantwortungsträger der Versuchung nachgeben und diesen neuen Ansatz (der durchaus zum Überwinden des Corona-Schocks beigetragen hat) weiter verfolgen, in dem falschen Glauben, damit die Gesellschaft vor den oben genannten strukturellen Gegenwinden schützen zu können.

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[1] Bundesbank Monatsbericht September 2019.

[2] Berliner Kurier, Gewerkschaft schlägt Alarm: Jeder fünfte Kellner oder Koch ist weg: Droht Berlin ein Restaurant-Sterben? 6.07.2021.

[3] Die Globalisierung und ihre Auswirkungen auf die Inflationsentwicklung in den Industrieländern, Wirtschaftsbericht der EZB 4/2021.

[4] Forbes, Kristin F. (2019). Has globalization changed the inflation process? BIS Working Papers Nr. 791, 4. Juli.

[5] Andrews, Dan, Peter Gal und William Witheridge (2018). A Genie in a Bottle? Globalisation, Competition and Inflation. OECD Economics Department Working Papers, Nr. 1462.

[6] Goodhart, Charles und Manoj Padhan (2017). Demographics will reverse three multi-decade global trends. BIS Working Papers Nr. 656.

[7] Pittel, Karn und Hans-Martin Hennig (ifo) (2019). Was uns die Energiewende wirklich kosten wird. Gastbeitrag FAZ vom 12.07.2019 .

[8] Was kostet die Energiewende? Fraunhofer-Institut für solare Energiesysteme ISE, 2015.

[9] So teuer wird die Energiewende, https://www,fz-jue- lich.de/poratl/DE/Pressemitteilungen/2019/2019-10-energiestudie, 2019.

[10] 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Statistisches Bundesamt, 2019.

[11] Geppert, Christian (2015). On the distributional implications of demographic change.

[12] Crowe, Christopher (2004). Inflation, Inequality and Social Conflict, CEP Discussion Paper 567.

[13] Dies gilt wahrscheinlich selbst dann, wenn die Grenzkosten für erneuerbare Energien auf nahezu null sinken, weil umfangreiche Aufwendungen für die Einrichtung und Erhaltung des Kapitalstocks für erneuerbare Energien anfallen.

[14] Becker, Sebastian (2021). The return of big government spending: Will this time be different? Fo- cus Germany. Deutsche Bank Research. Juni.

[15] Schnabel, Isabell (2021). Escaping low inflation? Rede beim Petersberger Sommerdialog. Juli.

[16] https://www.ecb.europa.eu/home/search/review/pdf/ecb.strategyreview_monpol_strategy_over- view.en.pdf

[17] Lagarde,, Christine (2021). Climate change and central banking, Keynote-Rede bei der ILF Con- ference. Januar.

[18] https://www.ecb.europa.eu/ecb/climate/html/index.en.html

 

3 Antworten auf „Gastbeitrag
Nehmen die Inflationsrisiken in Deutschland zu?
Oder machen wir uns wieder einmal umsonst verrückt?

  1. Wir haben heute die Umkehrung des Zinsrückgangs gesehen – Auslöser war die deutlich positive Entwicklung bei den US- Arbeitslosenzahlen. Sollte die FED in einigen Monaten weniger Anleihen kaufen, die EZB aber so weiter machen wie bisher, wird der Euro kräftig abwerten. Das könnte die EZB dazu bringen die von viele Südeuropäern erwünschte Entwicklung bei der Inflation zu stoppen: es könnte nämlich dann auch bei ihnen teuer werden und nicht nur in Deutschland. Wobei wir als Exportland von einem schwächeren Euro eher profitieren (wenn nicht der Lieferengpass wäre). Ich denke deshalb wird die EZB der FED mit einem zeitlichen Abstand folgen, die Zinsen für die 10-jährigen Anleihen werden dagegen parallel zu den US-Anleihen steigen. Die Macht der EZB ist nicht so groß wie viele glauben – noch ist der KapitalMARKT nicht ganz abgeschafft.

  2. Werden die Zinsen angehoben, wird nur schneller offenbar, was ohnehin eintreten wird, der Zahlungsausfall Südeuropas. Die Kettenreaktion ist klar….

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