Die Wettbewerbspolitik der Europäischen Union ist unter unerwarteten und heftigen politischen Druck geraten. Allen voran der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und der deutsche Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier drängen darauf, Entscheidungen der EU-Kommission zu Wettbewerbsfällen nachträglich einer politischen Kontrolle zu unterwerfen. Unterstützt werden sie dabei jetzt auch vom polnischen Wirtschaftsminister Jadwiga Emilewicz.
Auslöser dieses Vorstoßes war die Kommissionsentscheidung vom 6. Februar 2019, mit der die geplante Fusion der Zug-Sparten von Alstom und Siemens untersagt wurde. Ohne ein solches Korrektiv würden die Herausbildung europäischer Champions behindert und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf den Weltmärkten beeinträchtigt. Als Vorbild dafür sehen Le Maire und Altmaier die Ministererlaubnis im deutschen Kartellrecht, die es dem Bundeswirtschaftsminister erlaubt, eine vom Bundeskartellamt untersagte Fusion im Nachhinein doch noch zu genehmigen, wenn die Nachteile der Wettbewerbsbeeinträchtigung durch gesamtwirtschaftliche Vorteile des Zusammenschlusses die Wettbewerbsbeschränkung aufgewogen werden oder ein überragendes Interesse der Allgemeinheit den Zusammenschluss rechtfertigt.
Der Vorstoß stieß auf unmittelbare Kritik aus Brüssel und auch aus verschiedenen nationalen Kreisen – und das zu Recht.
- Fragwürdig erscheint zunächst schon einmal die Vorstellung, globale Champions könnten nur bei Ausschaltung von Wettbewerb entstehen. Nach einem geflügelten Wort des Wirtschaftsnobelpreisträgers John R. Hicks ist der beste Monopolgewinn ein ruhiges Leben. Wer mit Wettbewerbsdruck nicht leistungsfähig ist, wird es aller Erfahrung nach bei nachlassendem Druck erst recht nicht werden.
- Zusätzlich wurde von den Ministern und auch von den betroffenen Unternehmen vorgetragen, die EU-Kommission habe nur den europäischen Markt im Blick, auch wenn der relevante Markt global sei. Diese Aussage ist schlichtweg falsch. Das Wettbewerbskommissariat hat durchaus einen Blick über die EU-Grenzen hinaus. Aber in diesem konkreten Fall war für sie ausschlaggebend, dass der französische TGV und der deutscher ICE bisher im Wettbewerb zueinander stehen, europäische Eisenbahnbetreiber im Markt für Schnellzüge nach einer Fusion aber nur noch einem Anbieter gegenüberstehen würden. Zugleich hielt die Kommission jedes der beiden Unternehmen für stark genug, um beispielsweise im chinesischen Markt auch einzeln zu bestehen. Wenn dort aus politischen Gründen asiatische Anbieter bevorzugt würden, dann würde eine Fusion von Alstom und Siemens daran auch nicht viel ändern können.
- Und schließlich verkennt der Le Maire-Altmaier-Vorstoß, dass die Analogie zur deutschen Ministererlaubnis an den Realitäten des Europäischen Wettbewerbsrechts vollkommen vorbeigeht. Nach deutschem Recht hat das Bundeskartellamt ausschließlich nach Wettbewerbsgesichtspunkten zu entscheiden, so dass davon abweichende politische Erwägungen nur im Nachhinein geltend gemacht werden können (eben durch die Möglichkeit zur Ministererlaubnis). Nach europäischem Recht dagegen werden die Wettbewerbsentscheidungen zwar vom Wettbewerbskommissariat vorbereitet, aber anschließend von allen Kommissaren gemeinsam beschlossen. Die eingeforderte Einbeziehung allgemeinpolitischer Aspekte findet auf Ebene der EU also uno acto bereits im Prozess der Kommissionsentscheidung statt. Dementsprechend bleibt bei dem Vorstoß von Le Maire und Altmaier auch weitgehend unklar, wie sich denn die von einer Kommissionsentscheidung abweichende politische Entscheidung manifestieren sollte. Als Vetorecht nationaler Regierungen? Damit würde die Grundidee einer gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik vollständig ausgehebelt, und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis dieser Bazillus auch auf andere Politikbereiche der EU übergreifen würde. Oder als Vetorecht des Rats der EU? Auch hier geht die Analogie zum deutschen Kartellrecht ins Leere, denn „weder entspricht der Rat einer nationalen Regierung noch ist die Kommission dessen nachgeordnete Behörde.“ (Thomas Ackermann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. März 2019).
Insbesondere in Deutschland meldeten sich auch viele mittelständische Unternehmer kritisch zu Wort. Sie verwiesen darauf, dass die deutschen Exporterfolge ganz maßgeblich von kleinen und mittleren Unternehmen getragen werden. Eine gezielte Unterstützung von Großunternehmen unter dem Rubrum der globalen Champions würde letztlich direkt oder indirekt zu ihren Lasten gehen und könnte damit die deutschen Exporterfolge eher beeinträchtigen als befördern.
Wenn es um eine zielorientierte Reform der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik nach deutschem Vorbild gehen soll, dann würde es sich eher anbieten, die heutigen Aufgaben des Wettbewerbskommissariats auf ein unabhängiges Europäisches Kartellamt zu übertragen. Diese Behörde könnte dann ausschließlich nach Wettbewerbsgesichtspunkten entscheiden, und allgemeine wirtschaftspolitische Erwägungen könnten im Nachhinein von der EU-Kommission in den Entscheidungsprozess eingebracht werden.
Der Vorteil einer solchen institutionellen Trennung wäre eine größere Transparenz der Entscheidungen. Heute bleibt oftmals verborgen, ob und mit welchen Mehrheiten sich die Wettbewerbskommissarin durchgesetzt hat oder ob sie womöglich gar von ihren Kommissionskollegen überstimmt wurde. Der Nachteil könnte allerdings sein, dass die Hemmschwelle für politisch motivierte Wettbewerbsbeschränkungen absinken könnte. Dem Vernehmen nach setzt sich das Wettbewerbskommissariat in den allermeisten Fällen innerhalb der Kommission mit ihren Vorschlägen durch. Aus ordnungsökonomischer Sicht wäre es ohnehin vorzuziehen, auf Instrumente wie die Ministererlaubnis vollständig zu verzichten. Denn es ist ja gerade der Wettbewerb, der zu gesamtwirtschaftlich vorteilhaften Marktergebnissen führt, und nicht die lenkende Hand der Wirtschaftspolitik.
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