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Was kann man als Ökonom eigentlich zur immer wieder aufflammenden Diskussion um ein allgemeines Tempolimit in Deutschland sagen? Zunächst mal gilt es, einige Daten zur Kenntnis zu nehmen. Deutschland ist wohl tatsächlich das letzte Land, das kein allgemeines Tempolimit hat und gleichzeitig eine Infrastruktur bietet, auf der man hoch motorisierte Autos auch mit Geschwindigkeiten von über 250km/h ausfahren kann. Wie gut diese Infrastruktur ist, sieht man an der Zahl der Verkehrstoten auf Autobahnen pro Milliarde (!) gefahrener Kilometer. In Deutschland sind das 1,9 Verkehrstote, genauso wenig wie in Norwegen mit einem Tempolimit von 90km/h und deutlich weniger als beispielsweise in Italien, wo bei einem Tempolimit von 130km/h bereits 3,1 Menschen pro Milliarde Autobahnkilometer starben.
In Deutschland sind die sehr gut ausgebauten Autobahnen weniger ein Sicherheitsrisiko als vor allem die Landstraßen, auf denen sich deutlich mehr tödliche Unfälle ereignen. Und auch innerorts gäbe es noch viele Sicherheitsreserven zu heben, etwa durch Abbiegeassistenten für LKW, die Unfälle im toten Winkel verhindern. Bemerkenswert ist schließlich auch der langfristige Rückgang der absoluten Zahl der Verkehrstoten. Diese beträgt heute nur noch etwa ein Siebtel der Verkehrstoten zu Beginn der 1970er-Jahre. Autos wurden in diesem Zeitraum immer sicherer und sie werden aller Voraussicht nach z.B. durch zusätzliche Assistenzsysteme auch zukünftig sicherer.
All das bedeutet nun natürlich nicht, dass ein allgemeines Tempolimit unsinnig wäre. Wenn unsere hervorragende Infrastruktur es erlaubt, sehr schnell sehr sicher zu fahren, dann können wir wahrscheinlich mit weniger Geschwindigkeit noch einen zusätzlichen Sicherheitseffekt erreichen. Vielleicht könnten wir auf das Niveau von Dänemark kommen, wo es mit einem Tempolimit von 130km/h nur 0,8 Verkehrstote pro Milliarde Autobahnkilometer gab. Tatsächlich gibt es (allerdings etwas grobe) Schätzungen, die davon ausgehen, dass ein solches Tempolimit 140 Verkehrstote pro Jahr in Deutschland verhindern könnte.
Und dann ist da natürlich noch der Klimaschutz. Schätzungen des Umweltbundesamtes legen nahe, dass ein 130km/h-Limit zwei Millionen Tonnen CO2 im Jahr einsparen kann. Das klingt nach viel, entspricht jedoch gerade 2 Prozent der Gesamtemissionen des PKW-Verkehrs. Das ist ein ziemlich marginaler Effekt. Plakativ gesagt: Das Klima wird man schützen können, indem man den Individualverkehr über technische Innovationen insgesamt CO2-neutral macht, aber nicht, indem man das Fahrverhalten der Bürger reguliert.
Aus der Sicherheitsperspektive wird die Diskussion dagegen oft so geführt, dass behauptet wird, man müsse die Möglichkeit zur Rettung von 140 statistischen Leben auf jeden Fall nutzen. Das menschliche Leben ist schließlich von unendlichem Wert und verdient daher kompromisslosen Schutz. So einfach ist es aber natürlich nicht. Auch bei 130km/h werden wir feststellen, dass wir mit einem noch strikteren Tempolimit von 100km/h weitere statistische Leben retten könnten. Und dort werden wir merken, dass bei 80km/h weitere Verkehrstote verhindert werden könnten. Und so weiter.
Wir haben also tatsächlich eine Abwägung vorzunehmen: Wie viel individuelle Freiheit, wie viel Fahrfreude, wie viel Zeitersparnis wollen wir aufgeben, um mehr Sicherheit zu gewährleisten? Das ist die gleiche Abwägung, die wir in vielen anderen Lebensbereichen, nicht zuletzt bei der inneren Sicherheit, auch vornehmen müssen. Bei Letzterer neigen wir traditionell etwas stärker der Freiheit zu und lehnen z.B. aus Datenschutzgründen eine engmaschige Überwachung des öffentlichen Raums ab, obwohl diese uns mehr Sicherheit bescheren könnte. Die Befürworter eines allgemeinen Tempolimits scheinen dagegen bereit, Sicherheit höher zu gewichten als konkurrierende Werte.
Wenn wir es mit einem solchen Trade-off zu tun haben, dann spricht erst einmal wenig dafür, dass die ad hoc diskutierten 130km/h das „richtige“ Tempolimit sind. Vielleicht könnte man einen angemessenen Ausgleich von Sicherheitsinteressen und individueller Freiheit auch bei einem Tempolimit von 160km/h oder 180km/h erreichen. Also bei einem Limit, das lediglich die ganz extremen Geschwindigkeitsspitzen verhindert, aber zügiges und sicheres Fahren auf exzellenter Infrastruktur weiterhin erlaubt.
Noch sinnvoller wäre es, die Flexibilität zu nutzen, die moderne Technik bietet. Tempolimits müssen nicht starr sein, sondern können je nach Verkehrs- und Wettersituation angepasst werden. Fährt man an einem Sonntagmorgen auf der leeren A3 zwischen Köln und Frankfurt, dann erscheint ein starres Tempolimit von 130km/h eher gefährlich, da es einschläfert und Aufmerksamkeit abbaut. Es ist überhaupt kein Problem, bei solchen Bedingungen mit einem modernen Auto schneller als 200km/h zu fahren. Aber auf der gleichen Strecke kann es bei dichtem Verkehr am Freitagnachmittag sinnvoll sein, ein Limit von nur 100km/h durchzusetzen.
Dies ist wahrscheinlich der wesentliche, grundsätzliche Ratschlag, den man aus ökonomischer Sicht geben kann. Wo immer es möglich ist, die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit situationsbezogen und flexibel vorzunehmen, sollte man diese Möglichkeit nutzen. Denn ein starres Tempolimit wäre fast sicher mit höheren Wohlfahrtsverlusten verbunden.
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Ich habe bisher noch keinen Artikel gelesen, der mit so wenig Worten die ganze Problematik abbildet. – Chapeau!
Diesen Vorschlag würde ich sofort unterschreiben
Ich befasse mich mit dem Tempolimit beruflich seit 1983. Zu diesem Beitrag ohne Umschweife: Die Betrachtungen sind sehr schematisch und berücksichtigen wesentliche Aspekte nicht.
Welche CO2-Reduktionen erreicht werden können, hängt neben dem eingeführten Limit von der Befolgungsrate ab. Wünschenswert wäre 100 Prozent, die sind mit herkömmlichen Mitteln wie Blitzampeln+Polizeikontrollen nicht zu erreichen, sondern setzen technische Regelungen zB über Navi/GPS voraus. Mit Blick auf das autonome Fahren einerseits und die Integration von Batterieautos (- von denen die meisten tempobegrenzt sind wg. des Stromverbrauches) wäre eine solche Perspektive sinnvoll.
Ohne solche Technik lässt sich eine hohe Befolgungsrate erreichen, wenn das Produkt aus Kontrolldichte und Strafandrohung hoch ist: In Schweden sind die Strafen sehr hoch, in der Schweiz zB mittelmässig etc. Das wäre zu berücksichtigen, wenn man die Ergebnisse schätzen will. Exakt berechnen kann man sie gegenwärtig nicht, weil die BASt keine ausreichend genaue Kenntnis hat, wieviel Fzg.-km mit welcher Geschwindigkeit zurückgelegt werden. Die Angaben des UBA sind nicht mehr als sehr, sehr grobe Schätzung. Mit plausiblen Annahmen kann man auch auf mehr als das Doppelte kommen: Für den Verbrauch relevant sind nicht nur die Tempi, sondern auch die Häufigkeit von Beschleunigungen (und Verzögerungen, letztere verbrauchen natürlich nichts, aber scharfes Bremsen erfordert anschliessend mehr Kraftstoff zum Beschleunigen.
Schliesslich ist die Frage nach dem „richtigen“ TL auf BAB entscheidend: Warum 130 und nicht 100 oder 110? Wenn angeblich eine „Klimakatastrophe“ droht und selbst Deutschland mit seinen 2 % Anteil am globalen Ausstoss auf „Null“ reduziert werden muss („De-Carbonisierung“) und ganze Industrien für diese wichtige Sache ruiniert werden, wäre dann nicht Tempo 100 auf BAB angemessen? Und 80 auf Landstrassen, das hätte dann noch den zusätzlichen Effekt, dass dort wirklich deutlich weniger Unfälle und Unfallopfer auftreten würden.
Die Kosten eines Tempolimits von zB BAB 100 und AO 80 ergeben sich aus den zu bewertenden Zeitverlusten, denen die eingesparten CO2-, NOx-Emissionen, die reduzierten Kraftstoffkosten, Unfallkosten etc gegenüber zu stellen wären.
Solche Rechnungen gibt es mit der gebotenen Transparenz und Sachlichkeit nicht. Bevor man (- wie 1973, 1983 etc.) wieder Glaubenskämpfe für und wieder beginnen, wären eine umfassende Datenermittlung und faire Debatten über die zu setzenden Annahmen wünschenswert. Allerdings, und hier spricht meine Erfahrung: Das Thema ist vermint, und das Diskussionsniveau ist in Deutschland heute so unterirdisch wie noch nie in den letzten 50 Jahren..
Ein weiterer, bisher kaum betrachteter Aspekt bei „Tempolimit“ betrifft die Wechselbeziehung zwischen Reisegeschwindigkeit und Reiseeentfernung. Kurzfristig ergibt sich aus der (zwangsweisen) Reduzierung der Reisegeschwindigkeit eine Erhöhung der Fahrdauer, also ein Zeitverlust.
Das durchschnittliche Zeitbudget ist jedoch konstant; in Deutschland beträgt er zB 45 Minuten motorisiert. (Die 15 Minuten Fußweg seien hier beiseite gelassen.) Mit der Erhöhung der Reisegeschwindigkeiten ist nicht Zeiteingespart worden, sondern sind die Aktionsräume vergrössert worden. Das Mobilitätszeit-Budget von Arbeitnehmern, Hausfrauen, Rentnern, Schülern etc. hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert, aber die zurückgelegten Kilometer sind angestiegen.
Der Betrieb von ICE- und TGV-Hochgeschwindigkeitsstrecken hat Wohn-/Arbeitsbeziehungen ermöglicht, die vorher kaum realisiert wurden; man kann in Hamburg wohnen und in Berlin arbeiten. Eine neue vierspurige Autostrecke von der Großstadt ins Umland dehnt den Speckgürtel der Siedlungen aus, was innerhalb des individuellen Reisezeitbudgets möglich wird, wird auch genutzt. Das ist „Verkehrserzeugung“.
Umgekehrt wird Verkehrsaufwand reduziert, wenn die Kosten- und Zeitwiderstände erhöht werden. Etwa 25 Prozent der in Deutschland zurückgelegten Pkw-km sind Arbeitswege, aber mehr als 50 Prozent sind Freizeit- und Urlaubsstrecken. Wenn die mit dem Auto im individuellen Zeitbudget realisierbaren Distanzen kleiner und teurer werden, wird die Summe der Fzg.-km wieder abnehmen.
Es gibt eine umfangreiche Literatur über die Beziehung „Kraftstoffpreise – Kraftstoffverbrauch“; danach sind die kurzfristigen Einsparungen durch unterlassene (Freizeit-)Fahrten und über langsameres Fahren entstanden, langfristig können sparsamere Modelle gekauft werden.
Durch eine Reduzierung der erlaubten Fahrgeschwindigkeiten werden etliche der nicht-notwendigen Fahrten unterbleiben oder man sucht sich nähere Ziele, die in dem individuell tolerierten Zeitbudget erreichbar sind. Nach der Zeitbudget-Forschung ist das eine starre Beziehung: Eine um 10 Prozent reduzierte Reisegeschwindigkeit wird langfristig zu 10 Prozent weniger Fzg.-km führen.
Die Stichworte Verkehrserzeugung und Verkehrsvermeidung müssen bei der Bewertung von Tempolimits mit einbezogen werden – gerade weil es ja zur Abwendung bei dem Klima-Katastrophe grundsätzlicher Veränderungen des Wirtschaftssystem, des Konsumverhaltens, Lebensstils etc. bedürfe, wie gesagt wird. (Ich referiere das hier nur. Letztlich scheint mir die Klimakatastrophe Glaubenssache zu sein.)